Politica | Tunesien, Fahnenträgerin der arabischen Revolution

Kampf ums Komma in Karthago

“Nach der Revolution ist vor der Revolution” Sepp Herberger
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Alis in Jänner 2011 machten sich die Revolutionäre alsbald daran, dem Land eine neue Verfassung zu geben: Die Spielregeln für das demokratische Tunesien sollte sie beinhalten, das Spielfeld selber erst noch abstecken, und Art und Sinn des kommenden Spieles der Volkssouveränität festlegen.

Seit November 2011 tagt eine verfassungsgebende Versammlung, seit Februar 2012 versucht sie, einen Konsens der post-revolutionären Kräfte in Wort zu fassen, und letze Woche hat sie sich selber eine Deadline am 27. April gesetzt. Allein, es scheint, als leide die Revolution unter Schreibblockade.

Eine Blockade, die aus der wechselseitigen Aufhebung von Kraft und Gegenkraft herrührt: Soll Tunesien eine parlamentarisches System haben, oder eine halb-präsidentielle Republik sein? Soll der Staat weltlich sein, oder der Islam als Gesetzesquelle anerkannt? Sollen die Erklärungen der Menschenrechte in Verfassungsrang erhoben werden, oder bloß auf sie verwiesen? Soll Frau und Mann vollkommen gleichgestellt werden, oder ihre Besonderheiten erwähnt?

Und natürlich streitet man sich am besten darüber, was am Ende vielleicht gar nicht so relevant sein wird: Den ersten Artikel, den Gretchenparagraphen. Soll der Islam „Staatsreligion“ sein? Oder Tunesien ein Staat, und seine Religion der Islam? Oder soll die „Religion des Staates“ der Islam sein? Bald erzeugt die Diskussion eine Art von legalistischer Vertigo, und wir können annehmen, dass auch den Mitgliedern der verfassungsgebenden Versammlung hin und wieder davon schwindlig wird. (Außer den dagegen immunen Anwälten, versteht sich.)

Dabei findet sich in Tunesiens Geschichte ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein derartiger Konflikt gelöst werden kann, nämlich dadurch, dass man ihn in einen Widerspruch aufhebt, mit dem man leben kann. Oder der es einem ermöglicht, sich wieder wichtigeren Dingen zuwenden zu können.

Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956, der „Landesvater“, der dann dreißig Jahre an seinem Sessel klebte, oder sein Sessel an ihm, eine so enge Verbindung, dass sie erst Ben Ali 1987 lösen konnte, eben dieser Bourguiba stand nach der Unabhängigkeit vor einem sehr ähnlichen Problem wie heute: Die entgegengesetzten Positionen von Islamisten und Säkularen, Konservativen und Sozialisten in eine gemeinsame Verfassung aufzuheben.

Bourgibas erster Artikel lautete (und lautet immer noch, da man keinen besseren gefunden hat): „Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat; seine Religion ist der Islam, seine Sprache arabisch, und seine Staatsform die Republik.“ Wessen Religion ist denn jetzt der Islam? Die des Staates, oder die Tunesiens? Bourguiba hat sich damit durchgeschwindelt, und jedeR kann die Verfassung so lesen wie sie und er möchte.

Auch jetzt wird der erste Artikel wohl am Ende so bleiben, wie er ist. Nur haben die heutigen Mütter und Väter der Verfassung Bourgibas Trick durchschaut, und streiten sich um Extraparagraphen, mit denen sie die Interpretation des ersten Artikels festlegen wollen (und seine Offenheit zunichte machen). Und vielleicht dann noch Zusatzartikel, mit denen die Auslegung der Interpretationsparagraphen geregelt wird.

Der einzige Haken dabei ist, dass die Zeit knapp zu werden droht. Die Tunesierinnen und Tunesier sorgen sich immer mehr um die andauernde Arbeitslosigkeit, die schwächelnde Wirtschaft, die rasende Teuerung der Lebensmittel, während ihre Vertreter mit Kommas fingerhakeln.