Ohne Regierung im Krieg
Dass es dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan noch nicht gelungen ist, eine regierungsfähige Koalition zu bilden, merkt man hier in Istanbul nicht. Erstens, weil die Metropole eine Art Staat im Staate ist, die um ihr eigenes Überleben kämpft, während die politische Hauptstadt Ankara 600 Kilometer weit einfernt ist. Zweitens aber interessiert die türkische Bevölkerung derzeit vor allem, was an der Grenze zu Syrien passiert.
Dort sind gestern erstmals türkische Kampfjets in die Luft gestiegen, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren. Wie alle Militäroperationen, die in der Öffentlichkeit punkten wollen, wurde sie nach dem türkischen Soldaten Yalcin benannt, der Tags zuvor an der türkisch-syrischen Grenze von einem IS-Milizen erschossen worden war.
Nach dem Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn" wurden nicht nur IS-Stellungen zerstört, sondern es wurde auch ein IS-Kämpfer getötet, um den Tod des türkischen Soldaten zu rächen.
Wer sich von diesen Bombardierungen allerdings einen Richtungswechsel des türkischen Staatspräsidenten Erdogan im Verhältnis zum IS erhofft, wird enttäuscht werden. Denn die Versuche der türkischen Regierung, das schwere Attentat von Suruc , bei dem am Montag 32 Menschen getötet wurden, als Angriff auf die Soveränität der Türkei zu werten, sind fehlgeschlagen.
Das Kamikaze-Attentat war nicht gegen Erdogan gerichtet, sondern gegen die 300 sozialistischen Jugendlichen , die sich im Kulturzentrum Amara in Suruc getroffen hatten, um Hilfsaktionen für die umkämpfte Stadt Kobane zu koordinieren. Selbstverständlichen standen die Jugendlichen aufseiten der Kurden, nicht des IS, der die symbolträchtige Enklave zurückerobern will.
Der aus Südanatolien stammende 20jährige Selbstmordattentäter hatte laut Informationen türkischer Medien beste Kontakte zu dem Mann, der auf der Abschlussveranstaltung der Kurdenpartei HDP in Diyarbakir zwei Bomben legte und ein Blutbad anrichtete. 4 Menschen starben damals, zwei Tage vor den Parlamentswahlen, während Dutzende so schwer verletzt wurden, dass sie für den Rest ihres Lebens behindert sind.
Der Selbstmordattentäter war ein Anhänger des IS, der die kurdischen Erfolge in Kobane bekämpfte. Insofern spielte er den antikurdischen Hardlinern innerhalb der Regierungspartei AKP in die Hände .
Wenige Stunden nach dem Attentat von Suruc wurde bekannt, dass die türkischen Geheimdienste genauestens Bescheid wussten über den Attentäter und seine Hintermänner. Sie taten nichts, um sie zu stoppen.
Welche verhängnisvolle Rolle der MIT ( Geheimdienst) im Doppelspiel der türkischen Regierung mit dem IS einerseits und den NATO-Verbündeten andererseits spielt, dokumentieren Videos eines Journalisten, der jetzt im Gefängnis sitzt.
Die Filme zeigen, wie mit Waffen beladene und von türkischen Polizisten eskortierte LKW die Grenze zu Syrien passieren. Diese Aufnahmen sorgten weltweit für Empörung. Das IS- Selbstmordattentat von Suruc kam also gelegen, um es als Angriff auf die türkische Regierung umzuinterpretieren.
Wie fadenscheinig diese Operation war, stellte sich bald heraus . Deshalb wurde Stunden nach dem Attentat wieder einmal Twitter " abgeschaltet". Das Argument: die Bilder über das Attentat, die im Internet die Runde machten, würden zuviele Emotionen schüren!
Eine billige Ausrede natürlich, um die Ausweitung der spontanen Demonstrationen gegen die Regierung zu unterbinden, die unmittelbar nach dem Blutbad explodiert waren.