„Es macht mich bis heute wütend“
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Lebhaftes Vogelgezwitscher, eine Katze balanciert über die Gartenmauer. Im Hintergrund Donnergrollen. Felix Rier und Thea Malfertheiner haben sich in den Schatten gesetzt. Die Julihitze ist bis hierher, auf 1.000 Meter Meereshöhe, geklettert. Die beiden lächeln, wirken entspannt, vertraut. Am 8. Juni hat der Film Weltpremiere gefeiert, den Felix mit und über Thea gedreht hat. Seine Freundin aus Kindertagen und erste große Liebe ist in Berlin unter Drogen gesetzt und von mehreren Männern vergewaltigt worden. DESPITE THE SCARS (deutsch: „Auch wenn Narben bleiben“) begleitet Thea in den Monaten und Jahren danach. Die Choreografin, die wie der Filmemacher aus Seis am Schlern stammt, kämpft und tanzt sich zurück in ihr Leben – und schenkt neues. Mit ihrem Partner Thiago und dem gemeinsamen Sohn lebt Thea inzwischen wieder in Südtirol.
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Unter Drogen gesetzt und vergewaltigt: Nach einer brutalen Gewalterfahrung lässt sich Thea Malfertheiner von ihrem Kindheitsfreund beim Aufarbeiten und Heilen begleiten. Foto: Felix RierSALTO: Thea, sexuelle Gewalterfahrungen lassen Betroffene oft verstummen. Es fällt schwer, Worte dafür zu finden, was geschehen ist. Im Film hört man deinen Therapeuten von „dem Ereignis“ sprechen. Wie redest du über das, was du erlebt hast?
Thea: Das ist eine schwierige Frage. Auch, weil es je nach Kontext stets unterschiedliche Begriffe dafür gegeben hat: Beim Gerichtsprozess war es „die Tat“. Mein Therapeut hat mich anfangs gefragt, wie wir es benennen sollen, oder ob ich Probleme habe, es als „Vergewaltigung“ zu benennen. Wir haben uns nie wirklich festgelegt. Ich habe viele verschiedene Begriffe benutzt … und noch immer keine konkrete Bezeichnung dafür gefunden.
Aber dir ist es wichtig, dass darüber gesprochen wird – dass du darüber sprichst.
Thea: Ja, für mich war von Anfang an klar und wichtig, darüber zu sprechen. Allerdings hatte ich große Schwierigkeiten, mit mir nahestehenden Menschen darüber zu reden. Ich habe echt richtig lange gebraucht, meinen besten Freundinnen überhaupt etwas zu erzählen. Mit Leuten, die ich nicht so eng oder gut kannte, hatte ich hingegen überhaupt nie Probleme, völlig offen zu sprechen.
Warum war das so?
Thea: Hauptsächlich, weil ich große Angst hatte, dass die Leute, die mich gerne haben und die ich sehr gerne habe, stark mit mir darunter leiden. In Gesprächen mit anderen hatte ich diese Angst weniger. Da überwog das Bedürfnis, es muss nach außen kommen, dass solche Vorfälle geschehen – und zwar nicht selten.
Wie ist es dazu gekommen, dass Theas Geschichte jetzt in einem Film erzählt wird?
Felix: Die Idee für ein gemeinsames Projekt ist gemeinsam entstanden. Im Kurzfilm ein mann zu sein hatte ich den Moment im Krankenhaus aufgegriffen, als mir Thea von dem Ereignis erzählt hat. Damals habe ich eine moralische Verantwortung meinerseits und ein starkes Gefühl der Scham wahrgenommen, das ich behandeln wollte. Nach dem Kurzfilm verriet mir Thea, dass sie das Thema in ihren choreografischen Arbeiten behandeln wird und meinte, dass wir, falls mir die Sache wirklich am Herzen liegt, zusammen etwas andenken können. So kam alles ins Rollen.
Thea: Für mich ist Film ein Medium, mit dem ich es schaffe, zu zeigen, was ich durchgemacht habe, wie ich damit umgegangen bin. Mit Worten ist mir das oft nicht gelungen, auch wegen der Distanz zwischen mir in Berlin und meiner Familie daheim. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgen und habe eine Zeit lang zu engen Kontakt mit Familie und Freunden vermieden. Jetzt habe ich mit dem Film eine Möglichkeit, zu zeigen, was ich in der Zeit gemacht habe, wie ich das Erlebte aufgearbeitet habe, wie es mir gegangen ist – ohne dass ich eigens sprechen muss. Das ist für mich eine große Erleichterung.
Scham ist ein schwieriges und zugleich zentrales, aber oft unausgesprochenes Gefühl im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt. (Felix Rier)
Wie habt ihr euch auf den Film vorbereitet?
Thea: Schon bevor Felix angefangen hat zu filmen, hatte ich entschieden, in der Komposition meiner Abschlusschoreografie für die Tanzschule das Thema aufzugreifen – und mit meinem Therapeuten sehr intensiv über die Frage gesprochen, ob mir das jetzt gut tut oder nicht. Viele Künstler tendieren generell dazu, das, was in ihrem Leben gerade so präsent ist, durch die Kunst aufzuarbeiten. Ich war fest entschlossen, das zu machen – auch als Aufschrei.
Felix: Für mich war es nie leicht, Thea mit dem Thema zu konfrontieren. Ich habe eineinhalb Jahre lang recherchiert, mich tief eingelesen und, soweit es ging, in Eigenregie mit Trauma, Traumagedächtnis, Feminismus, innerfeministischer Kritik auseinandergesetzt. Später haben wir das Forum Prävention für traumasensible Beratung zum Film hinzugezogen.
Hattet ihr die Befürchtung, dass Thea das traumatische Ereignis noch einmal durchleben könnte?
Thea: Wir kannten uns und waren zwei sehr vertraute Menschen. Deshalb stellte sich für mich die Frage, ob mich die Arbeiten am Film an sich retraumatisieren würden, nicht. Felix hat die Thematik nicht mit zusätzlichen Szenen aufgegriffen, sondern mich mit der Kamera bei dem begleitet, was ich sowieso gemacht habe – in meinem Alltag und auch zum Gerichtsprozess, wo ich ohnehin hin musste und wo die Gefahr der Retraumatisierung ja am größten war.
(Pause)
Felix: Angst vor Retraumatisierung durch das Projekt hatte ich aufgrund der Nähe und des Vertrauens zwischen uns nicht. Die Dreharbeiten wurden immer in Absprache mit Thea festgelegt. Ich habe bewusst so gedreht, dass wir möglichst viel Flexibilität hatten und auf Theas Wohlbefinden reagieren konnten. Wenn sie sich an einem Tag nicht wohlfühlte, haben wir gesagt: Heute bleibt die Kamera aus.
Thea (zu Felix gewandt): Wir haben ganz oft darüber geredet, du hast mich so oft gefragt, ob dieses oder jenes für mich in Ordnung ist. Und ich konnte jederzeit Nein sagen. Ich habe mich nie unter Druck gesetzt gefühlt, Ja zu sagen.
Ihr kennt euch seit Kindertagen. Felix, wie gehst du als Regisseur mit dieser persönlichen Verbindung um?
Felix: In der Filmgeschichte gibt es zu viele Negativbeispiele für Regisseure, die sich irgendeine Geschichte schnappen, sie auf ihre Art und Weise verarbeiten, aber die Verantwortung gegenüber den Protagonisten kaum wahrnehmen – weil sie sich dem Film verpflichtet fühlen und weniger der Person, die sie porträtieren. In diesem Fall war das anders: Thea war für mich nicht nur eine Protagonistin in einem Projekt. Thea ist eine enge Freundin. Thea war meine erste Liebe. Das hat viel ermöglicht. Aber das hat es auch schwierig gemacht.
Inwiefern?
Felix: Ich war nicht nur Filmemacher. Ich war auch Freund, Zuhörender, Mitfühlender. Und oft war ich unsicher, wann ich überhaupt die Kamera in die Hand nehmen darf. Wir mussten sehr achtsam sein, unsere Rollen immer wieder neu verhandeln. Das Verantwortungsgefühl Thea und ihrer Geschichte gegenüber war ungleich größer als das gegenüber dem Film. Es ging darum, etwas sehr Intimes zu zeigen, ohne Thea zu verraten oder zu instrumentalisieren. Am Ende war es mir mit am wichtigsten, dass Thea sich in dem Werk wiedererkennt, dazu stehen kann und sagt: Das, was wir jetzt auf sechs Mal zwölf Metern Leinwand sehen und hören, bin ich.
Du hast von Scham gesprochen. Dieses Gefühl wird meist mit den Betroffenen von sexueller Gewalt in Verbindung gebracht. Wofür hast du dich geschämt?
Felix: Am stärksten habe ich die Scham wahrgenommen, als mir Thea am Tag nach der Vergewaltigung im Krankenhaus davon erzählt hat. Ich habe mich einfach für mein Geschlecht geschämt – dafür, dass ich ein Mann bin, und auch wenn ich mich selbst nicht als Person bezeichnen würde, die zu Gewalt greift, um ihre Probleme zu verhandeln, doch Teil eines Systems, das zu so etwas in der Lage ist. (Pause)
Scham ist einerseits sehr wichtig, weil sie als moralischer Kompass anzeigen kann, wo ein Verhalten gegen eigene Werte oder gesellschaftliche Normen verstößt. Andererseits kann Scham auch sehr lähmend, isolierend und insofern sehr kontraproduktiv sein. Sie hindert am Sprechen, am Austausch. Aber gerade in Hinsicht auf die Verarbeitung ist das Schamgefühl ein wichtiger Ausgangspunkt, um in die Selbstreflexion zu gehen, um sich dann davon fortbewegen und sich aus dem Sumpf der Impotenz und der Handlungsunfreiheit ziehen zu können.
Thea: Ich habe erst nachdem ich zum ersten Mal den Brief gehört habe, den Felix im Kurzfilm vorliest, realisiert, wie viel das, was ich erlebt habe, auch mit ihm gemacht hat. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass das so viel auch mit den Menschen macht, denen ich wichtig bin. (denkt nach)
Zur Scham an sich … Ich glaube, ich hatte nie das Gefühl, mich dafür zu schämen, dass mir das passiert ist. Trotzdem bin ich in Situationen gekommen, wo es doch da war: vor Gericht zum Beispiel, in Momenten, wo ich mich bloßgestellt gefühlt habe durch andere, die mich für die Geschichte durchbohrt und so getan haben, als müsste ich mich rechtfertigen. Aber im Rahmen des Films hat Scham für mich keine Rolle gespielt.
Felix: Dass man auch mit der Veröffentlichung der Geschichte sagen kann, ich schäme mich nicht dafür, was mir passiert ist, verlangt schon sehr viel Mut, oder?
Thea: Sicher.
Felix: Darüber zu sprechen ist für viele sicher sehr schambehaftet, aus Angst vor dem Blick der Außenwelt.
Thea: Und dann ist da ja auch die Tatsache, dass die meisten Fälle von Gewalt an Frauen in einem vertrauten Umfeld stattfinden, in geschlossenen Räumen, mit einer bekannten Person. Das macht es umso schwieriger, darüber zu sprechen oder sich Hilfe zu holen. Die Scham ist viel größer, weil man diese Person kennt, es gibt eine Beziehung – das macht es komplizierter. Aber gerade deswegen ist es so wichtig, dass es Hilfsangebote gibt und dass das Thema sichtbar wird.
Film ist eine gute Möglichkeit, bestimmte Dinge zu zeigen, ohne unbedingt Worte dafür finden zu müssen. (Thea Malfertheiner)
Auch ein Film über Männlichkeit: Zwischen Scham und Wut macht der Film sichtbar, wie viel Platz für Liebe und Hoffnung ist. Das Bild zeigt Thea mit Partner Thiago vor der Urteilsverkündung im Gericht. Foto: Felix RierBesonders schmerzhaft ist dein Geständnis, dass du es kaum aushältst, wenn dich dein Sohn am Hals berührt. Weil dich das triggert. Die Täter haben dir die Unbeschwertheit eines intimen Momentes mit deinem Kind genommen. Wie wütend warst und bist du immer noch?
Thea: Wut habe ich sehr stark und sehr viel verspürt – auf verschiedene Weisen. Natürlich, weil ich bestimmte Situationen mit meinem Körper immer noch mit dem verbinde, was passiert ist. Auch wenn ich das Erlebte aufgearbeitet und einen Umgang damit gefunden habe, werde ich gewisse körperliche Erinnerungen vermutlich nie ganz ablegen können. Aber die Wut kam auch in ganz anderen Bereichen extrem hoch, etwa bei der Ermittlungsarbeit.
Warum?
Thea: Die Kriminalpolizei hat mir damals meine persönlichen Sachen als Beweismittel abgenommen. Das war mitten im Lockdown, ich saß erstmal drei Monate ohne Handy alleine zu Hause. Dann wurden einige Fristen verpasst. Irgendwann bin ich mit meiner Wut einfach geplatzt.
In der ersten Zeit hat die Wut dominiert?
Thea: Absolut. Am Anfang habe ich stark verdrängt und sogar die Leute in meinem Umfeld getröstet, gesagt: „Okay, das ist passiert, aber ich lebe ja noch.“ Die wirklich traumatischen Folgen tief in mir drin sind erst später aufgetreten. Meine Therapeuten hatten mich davor gewarnt, dass das so sein kann. Aber die Wut, die war von Anfang sehr präsent. Auch, weil ich das Gefühl hatte, dass das Thema einfach viel zu wenig sichtbar ist. Vielleicht, weil ich mich vorher selbst nicht so stark damit befasst hatte. Aber dann habe ich gemerkt, wie viel verdrängt wird – überall. Mir wurde ganz oft gesagt: „Red besser nicht darüber.“ Und ja, die Menschen wollten mich damit beschützen. Sie dachten, es sei besser für mich. Aber eigentlich hat es mich total wütend gemacht, wenn mir jemand gesagt hat, ich soll schweigen.
Warum nicht reden? Genau dieses Schweigen ist doch Teil des Problems! Ich habe nach der Tat zum Beispiel nicht gewusst, dass ich mich nicht duschen soll – dabei ist es eigentlich logisch, dass das wichtig ist, um Spuren zu sichern. Aber in der Situation denkt man als Betroffene nicht klar. Wenn aber viel mehr über diese Themen gesprochen würde, dann könnte man auch bewusster handeln. Darüber denke ich immer wieder nach. Es macht mich bis heute wütend.
Für mich war der Film eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen – nicht im Sinne von „retten“, sondern im Sinne von zuhören, begleiten, nicht wegsehen. (Felix Rier)
Du hast nach der Tat schnell Hilfe gesucht. Und gefunden?
Thea: In dem Moment war ich überhaupt nicht zurechnungs- oder handlungsfähig. Glücklicherweise habe ich versucht, einen sehr guten Freund zu erreichen. Im Film hört man meine originalen Sprachnachrichten an ihn. Ich selbst habe keine Hilfestelle kontaktiert – das hat er übernommen. Er hat zu mir gesagt, „Du darfst nicht heimgehen, du kommst jetzt zu mir“, und eine Hilfe-Hotline angerufen, die rund um die Uhr erreichbar ist. Die haben ihm gesagt, sofort mit mir ins Krankenhaus zu fahren, dass ich mich auf keinen Fall waschen oder umziehen darf, möglichst nichts an mir verändern soll und dass die Polizei direkt ins Krankenhaus geholt wird.
Der geistesgegenwärtigen Reaktion deines guten Freundes ist es zu verdanken, dass es zu Verurteilungen gekommen ist?
Thea: Wenn er in dem Moment nicht so reagiert hätte, wäre ich wahrscheinlich nach Hause gegangen, hätte mich geduscht und erst mal geschlafen. Am nächsten Tag, wenn auch die Wirkung der Drogen, die mir verabreicht wurden, nachgelassen hätte, weiß ich nicht, ob ich dann überhaupt über das Geschehene gesprochen oder mir Hilfe geholt hätte. Das bedeutet: Ja, wenn dieser eine Freund nicht so gehandelt hätte, wären die Täter vielleicht gar nicht gefasst worden – weil es keine Beweise mehr gegeben hätte. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihm meine Dankbarkeit jemals richtig ausdrücken kann.
Es gab mehrere Täter – und du warst auch nicht die einzige Frau, der sie Gewalt angetan haben.
Thea: In meinem Fall waren es mindestens vier Täter. Ich weiß, dass noch mehr Männer anwesend waren, aber an meinem Körper wurden Spuren von vier verschiedenen Tätern gefunden. Der gesamte Tathergang, also wie alles ablief, entsprach auch in vielen Details anderen Taten, die schon vorher bei der Kriminalpolizei in Berlin gemeldet worden waren. Die Verantwortlichen waren da allerdings noch nicht identifiziert worden. Durch meine Anzeige und die Spuren, die bei mir gesichert wurden, konnten dann zwei Männer gefunden werden, deren DNA mit früheren Fällen übereingestimmt hat. Es gab nicht bei beiden Tätern dieselben Nebenklägerinnen … (überlegt)
Im ersten Verfahren waren wir vier Frauen. Im zweiten drei. Das zeigt ganz klar: Diese Täter waren definitiv in viele weitere Taten verwickelt. Und ich will gar nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer ist, wie viele Frauen betroffen sind, aber leider nie Teil eines Verfahrens wurden, weil sie nie Anzeige erstattet haben oder mit den Tätern in Verbindung gebracht wurden. Und dann sind da auch noch die anderen Männer, die an dem Abend dabei waren – von denen wurde bis heute niemand gefunden. Das ist auch eine große Wut, die ich in mir trage: zu wissen, dass so viele Männer anwesend waren, aber bis jetzt nur zwei tatsächlich im Gefängnis sitzen.
Die Großstadt hinter sich gelassen: In Berlin wohnt Thea Malfertheiner im 21. Stock eines Hochhauses. Mittlerweile lebt sie mit Partner, Kind und Hunden wieder in Südtirol. Foto: Felix RierAm Tag der Urteilsverkündung habt ihr auf dem Gang vor dem Gerichtssaal gedreht …
Felix: Aufnahmen im Saal selbst sind in Deutschland verboten.
Thea: An den Verhandlungstagen, an denen ich als Zeugin habe aussagen müssen, hätte ich auch niemals erlaubt, dass die Kamera dabei ist. Es war für mich so schon schlimm genug – die paar Leute im Raum, die auf der Leinwand Bilder meines Körpers anschauen –, dass ich es fast nicht ausgehalten habe.
(Pause)
Felix: Darf ich noch was hinzufügen? Der erste dokumentierte Fall war schon 2018.
Thea: Genau. Die erste Anzeige gegen einen der Täter war 2018. Sie wurde schriftlich festgehalten. Sonst ist mit ihm nichts passiert.
Felix: Das zeigt, was du vorher gesagt hast, Thea: dass man eigentlich überhaupt nicht abschätzen kann, wie hoch die Dunkelziffer in diesem spezifischen Fall ist. Wenn der erste Fall 2018 war und die letzten drei Taten zwei Jahre später im Abstand von wenigen Wochen passiert sind, dann muss man sich fragen: Was ist dazwischen geschehen? Es ist wirklich tragisch, was die Kripo da verpasst hat.
Thea: Ja, es gab Versäumnisse bei den Ermittlungen und den Spurensicherungen. Bei dem einen Täter war es so, dass der erste Fall in einem vertrauten Umfeld passiert ist. Die Polizei hatte damals schon seinen Namen und wusste, um wen es geht. Die hätten ihn nicht mal groß suchen müssen. Nur: Passiert ist trotzdem nichts.
Mittlerweile lebt ihr beide in Südtirol. Warum hast du entschieden, wieder nach Hause zu ziehen, Thea?
Thea: Ich wusste immer, dass ich irgendwann zurückkommen will. Ich wusste nur nie, wann oder warum genau. Seit ich Mutter bin, war für meinen Partner Thiago und mich klar: Unser Sohn soll nicht in Berlin aufwachsen. Wir haben dort beide keine Familie, also war es naheliegend, zu meiner Familie zurückzugehen und zumindest auszuprobieren, wie sich das Leben hier für uns anfühlt.
„Despite the scars“ – „Auch wenn Narben bleiben“: Welche Botschaft soll der Film vermitteln?
Felix: Vieles wird zwischen den Zeilen spürbar sein. Denn was wir mitgeben wollen, ist vielschichtig. Ein zentrales Thema ist, dass Heilung möglich ist – zumindest bis zu einem gewissen Grad, wenn die Umstände stimmen, wenn das Umfeld stimmt. An Theas Geschichte finde ich besonders schön, dass sich viele der Faktoren, die für einen Heilungsprozess wichtig sind, vereinen.
Nämlich?
Felix: Einen Raum zu haben, in dem man sprechen kann, aber nicht muss – allein Präsenz zu spüren und zu zeigen, kann helfen. Ein weiteres Thema ist die Bedeutung des Sprechens selbst. Für Betroffene ist es heilsam, wenn sie über das Erlebte sprechen können – damit es kein dunkler Fleck im Hirn bleibt. Aber: Es reicht nicht, wenn jemand spricht. Das Umfeld muss auch die Fähigkeit haben, zuzuhören und unterstützend zu wirken. Dazu kommt eine weitere Ebene, die subtiler mitschwingt: Es geht um Männlichkeit. Um toxische Männlichkeit, ja, aber auch um eine positive, unterstützende Form von Männlichkeit. Es geht um Liebe, um Liebe als Haltung. Was ich so beeindruckend finde an Thea, und was man vor allem im Umgang mit ihrem Sohn sieht, ist, wie viel Kraft in einem sicheren, liebevollen Umfeld steckt. Wenn ein Kind erfährt, dass es angenommen ist, Zuneigung erfährt, entsteht ein Selbstwertgefühl, das später hilft, mit schwierigen Situationen umzugehen. Das ist etwas, was ich durch den Film auch auf einer gesellschaftlichen Ebene mitgeben will. Und nicht zuletzt wird die Rolle der Kunst für die Traumabewältigung sichtbar.
Mir wurde ganz oft gesagt: „Red besser nicht darüber.“ Das macht mich bis heute wütend. (Thea Malfertheiner)
Thea, du warst in Berlin in einem Frauenhaus als Tanzpädagogin tätig.
Thea: Genau. Ich habe mich sehr viel damit beschäftigt, wie man durch Bewegung Resilienz stärken kann – wie Bewegung dabei hilft, schwierige Erfahrungen aufzuarbeiten. Dass das nicht nur über Worte oder im Kopf passiert, sondern wirklich auch im Körper verankert wird. Beim Projekt im Frauenhaus habe ich mit verschiedenen Frauen gearbeitet, alle mit unterschiedlichen Geschichten, aber alle mit Gewalterfahrungen. Es ging darum, in Gefühle einzutauchen und diese dann körperlich auszudrücken. Das möchte ich auf jeden Fall weiterverfolgen und weitergeben. Denn ich habe gemerkt, wie unglaublich wirksam diese Methode ist – und gleichzeitig, wie wenig bekannt umd verbreitet sie noch ist.
Was ist der Film für euch – ein Abschluss oder ein Startpunkt?
Felix: Ich lass dich zuerst, Thea.
Thea: Also, für mich war es kein Abschluss. Es war eher eine Begleitung von etwas, das sowieso weitergeht. Eine Unterstützung beim Start, das Thema weiter nach außen zu tragen. Dass ich das tun wollte, wusste ich ja schon vorher. Aber ohne den Film hätte ich es vielleicht nicht auf diese Art und Weise geschafft. Mal schauen, wie es sich für mich jetzt weiterentwickelt.
Felix: Auf Produktionsebene ist der fertige Film natürlich ein Abschluss. Aber sonst ist er eher ein Anfang – um über etwas zu sprechen, das oft im Verborgenen bleibt, ein Thema, das vielleicht unbequem und schwer auszuhalten ist, aber gerade deshalb umso wichtiger.
In ihrem letzten Brief sagt Thea: Man kann trotz des Erlebten danach streben, das Beste aus dem Leben zu machen, das man in dem Moment verteidigt hat. Der Film soll vermitteln, Betroffene von sexueller Gewalt nicht auf ihre Opferrolle zu reduzieren. Sie haben eine Stimme. Sie können sich Gehör verschaffen. Sie lassen sich nicht von dem definieren, was ihnen angetan wurde. Sie, wir bleiben nicht kampflos. Ich will das gar nicht zu pathetisch ausdrücken – aber wenn wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln wollen, dann braucht es auch inspirierende Beispiele. Vielleicht ist dieser Film eines davon.
Siehst du dich als Inspirationsquelle?
Thea: Ob ich das bin, weiß ich nicht. Ich hoffe es. Es wäre schön, wenn der Film diesen Effekt auf andere Menschen hat.
Beim Biografilm Festival in Bologna wurde der Film DESPITE THE SCARS im Juni mit zwei Auszeichnungen prämiert. „Eine schöne Anerkennung, auf die wir stolz sein dürfen“, sagt Felix Rier. Wann der Film in Südtirol zu sehen sein wird, steht noch nicht fest.
Foto: Biografilm Festival/DarioArticoli correlati
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