Die verfeindeten Füchse
Die verfeindeten Füchse - Ein Märchen aus Südtirol
Nelli lief vor ihrem Bau auf und ab, wirbelte mit der Schnauze Schnee auf
und schimpfte: „Jetzt hat mir Bruno schon wieder die Beute aus dem Maul
gerissen! Vorgestern ist es ein Fasan gewesen, gestern ein Wildhase und
heute eine Henne! Schämt sich dieser gemeine Kerl denn vor gar nichts?
Wir Füchse sollten doch zusammenhalten! Und überhaupt, es ist Weihnachten!“
Als Nelli sich wieder beruhigt hatte, setzte sie sich unter eine Tanne und
starrte ins Abendrot. In ihrem Magen rumorte es, als ob ein Karren zu Tal
rollen würde. Kein Wunder: Sie hatte seit drei Tagen nichts gefressen. Noch
drei Tage und sie war zu schwach, um auf die Jagd zu gehen. Sie musste
Bruno loswerden! Wenn sie nur wüsste, wie.
Am Himmel blinkten bereits die ersten Sterne, aber Nelli wusste immer
noch nicht, was sie gegen Bruno unternehmen konnte. Er war einen halben
Kopf größer als sie. Kräftiger gebaut war er auch. Mist nochmal, es war zum
Verzweifeln!
Nelli erhob sich missmutig, ging zum Waldrand, versteckte sich unter
einem Wacholderbusch und schaute zu dem Bauernhaus, bei dem sie vorhin
die Henne erbeutet hatte. Ob sie es noch einmal wagen sollte? Ob sie
sich noch einmal der Gefahr aussetzen und in den Hühnerstall schleichen
sollte? Die Bauersleute hatten Holzknüppel. – Bruno wusste schon, warum
er ihr die Beute stahl und nicht selbst auf die Jagd ging.
„Ich hab keine Wahl, ich muss da hin. Aber vorher will ich noch etwas trinken!“,
brummte Nelli, kroch unter dem Wacholderbusch hervor und lief
über eine Wiese und von dort aus zu einem Bach. An einer Stelle, an der
der Bach noch nicht zugefroren war, blieb sie stehen und trank in kleinen
Schlucken. Wie kalt das Wasser doch war. So kalt, dass es in den Zähnen
wehtat. In ein paar Stunden würde der Bach sicher ganz zugefroren sein.
„Zufrieren, das ist es!“, rief Nelli auf einmal und sprang vor Aufregung im
Schnee herum. Ihre Lage war gar nicht so aussichtslos, wie sie gedacht
hatte. Bruno war ein Muskelprotz mit Spatzenhirn. Vielleicht konnte sie ihn
hinters Licht führen.
Nelli merkte sich die Stelle, an der sie getrunken hatte, näherte sich im
Schutz der Dunkelheit dem Bauernhaus und schlich durch den Hof. Besonders
vorsichtig musste sie dabei nicht sein. Die Leute waren in der Stube
und sangen Weihnachtslieder. Die Tür zum Hühnerstall war auch nicht abgeschlossen.
Ruckzuck schnappte sich Nelli eine weitere Henne, lief damit im Hof
herum und machte so lange Lärm, bis die Bauersleute aus dem Haus
kamen und sahen, dass ein Hühnerdieb am Werk war. Danach eilte sie in
den Wald, fraß einen Teil der Henne auf, stellte sich mit dem Rest vor Brunos
Bau und rief: „He, du bist doch immer so hungrig! Ich hab mir soeben
den Bauch mit allerfeinstem Essen voll geschlagen und dir ein Stück Fleisch
zum Kosten mitgebracht!“
Einen Herzschlag später stand Bruno vor ihr, riss ihr das Fleischstück aus
dem Maul, kaute gierig darauf herum und knurrte: „Die Henne schmeckt
prima! Heraus mit der Sprache, woher hast du sie?“
„Aus dem Bach gefischt“, schwindelte Nelli und versuchte dabei so überzeugend
wie möglich zu wirken. „Das ist aber keine Henne, sondern ein Wasserhuhn.“
„Wasserhuhn?“, mampfte Bruno und machte ein dummes Gesicht. „Hab gar
nicht gewusst, dass es solche Viecher gibt. Aus dem Bach gezogen hast du’s?
Drüben auf der Wiese?“
„Logisch. Wo sonst?“, schwindelte Nelli weiter. „Wasserhühner leben nun
mal im Wasser. Auf Bäumen findest du sie nicht.“
Bruno würgte das Fleischstück hinunter und fletschte die Zähne. „Nur nicht
frech werden, Füchsin! Zeig mir sofort, wo du das Wasserhuhn herausgezogen
hast, sonst bist du erledigt!“
„Tu mir nichts, bitte! Ich geh ja schon!“, rief Nelli und lief zum Bach. An
der Stelle, an der sie vorhin getrunken hatte, blieb sie stehen und sagte: „So,
da wären wir. Jetzt brauchst du nur noch die Rute ins Wasser zu halten und
zu warten, bis ein Wasserhuhn anbeißt.“
„Die Rute ins Wasser halten?“, wiederholte Bruno und kratzte sich mit dem
Hinterlauf am Bauch, als ob er Flöhe hätte. In seiner Gier merkte er nicht,
dass Nelli mit ihm etwas vorhatte, setzte sich und tupfte die Rute in den
Bach. Gleich darauf zog er sie wieder heraus und schnauzte: „Brrr, ist das
Wasser eisig! Los, mach du das für mich, Füchsin!“
Nelli hatte nichts anderes erwartet und erwiderte: „Das geht nicht. Fischen
musst du selber. Die Wasserhühner kennen meinen Geruch und werden bei
mir so schnell nicht mehr anbeißen.“
Bruno verzog das Maul, als ob er einen ekligen Geruch in die Nase gekriegt
hätte, schöpfte aber immer noch keinen Verdacht. Stattdessen steckte er die
Rute wieder in den Bach und zitterte vor Kälte. Als er nach einer Weile auch
noch auf dem Hinterteil herumzurutschen und zu fluchen begann, flüsterte
Nelli eindringlich: „Wenn du ein Wasserhuhn haben willst, musst ruhig
sein. Mit deinem Gezappel und Gezeter verscheuchst du es nur!“
Bruno nahm sich auch diesen Rat zu Herzen, saß da, als ob er zu Stein geworden
wäre und gab keinen Ton mehr von sich. Der Speichel, der ihm vor
lauter Fresslust aus dem Maul triefte, gefror zu kleinen Eiszapfen.
Die Zeit verging. Der Bach gurgelte, der Vollmond kam hinter den Bäumen
hervor und rollte wie ein gelber Kürbis über den Nachthimmel. Nelli spürte,
wie auch ihr die Kälte unters Fell kroch, und lief im Schnee hin und her.
Würde Bruno lange genug am Bach sitzen? Würde er in ihre Falle gehen?
Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als Bruno mit einem Ruck
auf die Beine kam, an der Rute zerrte und brüllte: „He, ein Wasserhuhn hat
angebissen! Es ist so groß, dass ich es nicht alleine aus dem Bach kriege!
Komm her, Füchsin, und hilf mir!“
Nelli hörte auf, im Schnee hin- und herzulaufen, trat an ihn heran, sah auf
seine Rute und zog voller Schadenfreude die Lefzen nach oben. „Dir helfen?
Nein, das ist gar nicht mehr notwendig. Sieh dich doch um!“
Bruno drehte verwirrt den Kopf nach hinten, gab gurgelnde Laute von sich.
Sekunden später drehte er den Kopf wieder nach vorn und brüllte: „Miststück,
du hast mich hereingelegt! Das mit den Wasserhühnern stimmt
nicht!“. Gleich darauf machte er Triefaugen und plärrte: „Hilfe, Füchsin,
meine Rute ist festgefroren! Wenn du mich befreist, werde ich mir in Zukunft
das Fressen selber suchen! Versprochen!“
„Wer’s glaubt, wird selig“, rief Nelli, stürmte zum Bauernhaus und machte
dort erneut Lärm. Als die Leute mit den Knüppeln in den Hof kamen, kehrte
sie um und lockte sie zu Bruno, der noch immer am Bach stand und sich mit der Rute abplagte. Bevor sie ihn erreichte, schlug sie einen Haken und
sprang in die Nacht hinein.
Im Fuchsbau rollte sie sich zu einer Kugel zusammen. So, das war’s, Bruno.
Du wirst mir nie mehr das Essen stehlen und das Leben schwer machen. In
der Dunkelheit haben die Bauersleute nur einen Fuchs gesehen und denken
jetzt, du bist der Hühnerdieb!