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Die wirklichere Wirklichkeit

Werden demokrati­sche Normen und humanistische Errungen­schaften geschreddert? Ein Gastbeitrag von André Leipold aus dem neuen 39NULL-Heft zum Thema "Freiheit".
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Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) setzt auf „aggressiven Humanismus“ und appelliert mit performativen Aktionen an das moralische Gewissen von Gesellschaft und Politik. Nicht bei allen kommt das gut an. Wie frei ist die Kunst und wogegen muss sie sich wehren? André Leipold, ZPS-Geheimrat, gibt Aufschluss.

Der Blick des Künstlers auf die Grenzen der künstlerischen Freiheit ist normalerweise ein vor allem nach innen gerichteter. In manchen Fällen wird diese Blickrichtung stellvertretend für die Gesellschaft eingenommen. Es ist der Blick des Individuums auf seinen Platz in dieser Zeit, an diesem Ort. Wenn dieser Platz erwei­tert oder verteidigt werden soll ist dies selbstverständlich mit der Beachtung des Spiel­raums verbunden, den uns das Grundgesetz gewährt. Doch dieser Spielraum ist größer, als gemeinhin angenommen wird.

Aktionskunstwerke können und sollten weder räumlich noch zeitlich eingerahmt werden. Mit jeder Reaktion, mit jeder angeregten Dis­kussion entwickeln sie sich stetig und interaktiv weiter. Zu Ende sind sie erst, wenn niemand mehr über sie redet oder nachdenkt. Im schönsten Fall leben sie weiter, indem sie zum Stein des Anstoßes für die Beantwortung politischer, philosophischer oder gesellschaftli­cher Fragen werden. Aus Theatermacher-Sicht haben wir es nicht mal nur quasi mit dem drit­ten Akt eines Stücks zu tun, dessen Akteure oft erst spät erkennen, dass sie sich auf einer me­taphysischen Bühne befinden. So vervollstän­digen sie – meist unfreiwillig – das Skript, sie geben manchmal Antworten auf Fragen, die sich die Initiatoren selbst nicht gestellt haben.

Wir im Zentrum für Politische Schönheit kön­nen in der Rückschau auf eine ganze Reihe von willkommenen und unwillkommenen In­teraktivitäten verweisen, denen sich Künstler im Normalfall nur selten ausgesetzt sehen – im Guten wie im Schlechten. Die auf unserer Internetseite einsehbare Dokumentation singt das epische Lied von einer fragmentierten Öffent­lichkeit und ihrem Unvermögen, künstlerische Motive und politische Positionen auseinander­zuhalten. Je nach Echokammer werden wir mal als politische Akteure, mal als mediales Theaterhaus oder – gerne von rechts – als Pro­jektionsfläche für alles wahrgenommen, was man dem Zeitgeist schon immer mal entge­genwerfen wollte.

Dies sind natürlich die Geister, die wir riefen – meistens jedenfalls. Von Beginn an haben wir versucht, uns an bisher unbesetzten Schnitt­stellen zwischen Kunst, Politik, Medien und Wissenschaft zu etablieren. Das ZPS arbeitet an einer Kunstform, die sich nicht in die üblichen Kategorien sperren lässt. Wir versuchen, über Mittel wie Spiegelung, Simulation, und Camouflage unsere künstlerischen und philo­sophischen Motive in eine Überprüfung zu führen. Ein Beispiel hierfür wäre die Frage, wann, wo und wie der Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“ bestätigt oder abgelehnt werden sollte. Hierfür kreieren wir schillernde Situatio­nen, die Diskussionen und konstruktiven Streit generieren sollen. Auch geht es darum, Verantwortungsträger in Rechtfertigungs- ­und Handlungszwänge zu führen. Das heißt aber alles mitnichten, dass diese Motive mit Meinungen, Haltungen oder Positionen gleichzusetzen wären. Wenn ich einen scho­ckierenden Film über einen Serienmörder drehe, dann könnte etwa die Nachempfin­dung der Gedankenwelt der Hauptfigur als ein künstlerisches Motiv betrachtet werden. Über meine persönliche Haltung oder Mei­nung zu deren Taten habe ich aber deshalb noch keine direkte Information gegeben.

Genauso ist das auch bei uns zu verstehen. Die Rezeption fällt eben nur um einiges kom­plexer aus, da wir künstlerische Motive mit rea­len Vorgängen koppeln.

 

Mit unserer Aktion Kindertransporthilfe des Bundes konnten wir 2014 diesen Ansatz erst­mals voll ausspielen, im selbst auferlegten Auf­trag der Bundesregierung haben wir uns auf die Suche nach Pflegefamilien gemacht, um die apokalyptische Situation Syriens in die Herzen der deutschen Gesellschaft zu schieben – und entwickelten ein schlüsselfertiges Soforthilfeprogramm, welches das Familienministerium nur hätte übernehmen müssen. Die absehbare „Flüchtlingskrise" der darauffolgenden Jahre hätte so von einer sowohl mental als auch ver­waltungstechnisch vorbereitenden Initiative profitieren können. Leider wurde diese Gele­genheit nicht wahrgenommen. Dennoch zeitigte die vielfältige, auch auf Titelseiten verhandelte Rezeption politische Wirkung und erschuf ein Kaleidoskop gesellschaftlicher und politischer Rückbestätigung.

Die Grenzen künstlerischer oder politischer Freiheit, überhaupt die Grenzen bürgerlicher Freiheit liegen ferner, als die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt.

So stellt auch der noch laufende, dritte Akt un­serer Aktion Holocaust-Mahnmal Bornhagen ein Kaleidoskop dar, das viele Antworten zur Lage der Nation zu bieten hat. Wir konnten etwa einen öffentlichen Einblick in die Umtrie­be des modernen Rechtsextremismus herstellen. Und wir konnten zum Zustand der öffentli­chen Debatte einige traurige Erkenntnisse ermöglichen. Uns soll an dieser Stelle vor allem interessieren, dass auch ein aktueller Befund zum Stand der Kunst- und Meinungsfreiheit ge­neriert werden konnte. Nachdem wir in unmit­telbarer Nachbarschaft zum privaten Wohnort des thüringischen AfD-Fraktionschef Björn Höcke einen Erweiterungsbau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas entstehen ließen, boten nicht zuletzt die in dieser Form kaum erwartbaren juristischen Auseinander­setzungen einen Fundus auf Fragen, die wir gar nicht gestellt hatten.

Gerichte übernehmen also die unfreiwillige Ak­tionsregie und schenken uns Urteilstexte, die durch ihren richtungsweisenden Charakter ei­nen hohen und bleibenden Wert darstellen. Zu Höckes Klage, dass seine Persönlichkeitsrech­te angegriffen worden seien, hat das Kölner Oberlandesgericht im März 2018 geurteilt, dass in diesem Fall die Freiheit der Kunst über den Persönlichkeitsrechten stehe. Höcke und andere Volksverdreher hätten sich den Text wohl besser genauer durchlesen sollen, denn er bietet auch überraschend feinsinnige Auf­klärung für Menschen mit mangelndem künst­lerischen Sachverstand. Dort heißt es nämlich, „dass ein Kunstwerk eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbstständigte wirklichere Wirklichkeit' anstrebt, in der die reale Wirklich­keit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewusster erfahren wird. Die künstlerische Darstellung kann deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden. Das bedeutet, dass die Spannungslage zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit nicht allein auf die Wirkungen eines Kunstwerks im außerkünstlerischen Sozialbereich abheben kann, sondern auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss".

Aus heutiger Sicht, nachdem wir wissen, dass die Staatsanwaltschaft Gera über Monate ge­gen uns wegen Bildung einer kriminellen Verei­nigung ermittelte und der zuständige, der AfD nahestehende Staatsanwalt sich und seinen Brüdern und Schwestern im Geiste ein golde­nes Eigentor beschert hat, erscheint es als im­mer unwirklichere Wirklichkeit, mit welcher Dummdreistigkeit Antidemokraten versuchen, demokratische Institutionen zu instrumentalisie­ren, um eben jene zu untergraben. Man könnte jetzt das Aktionsbuch schließen und sich darü­ber freuen, dass der Geist des Grundgesetzes – dem wir uns stärker verbunden fühlen, als es den meisten Beobachtern bewusst sein dürfte – am Ende immer obsiegt. So einfach ist es aber nicht. Eine streitbare Demokratie schöpft ihre Widerstandskraft gegen Antidemokraten näm­lich nicht alleine aus ihren Institutionen, son­dern ebenso aus der Wehrhaftigkeit der Zivil­gesellschaft. Und dort sieht es zurzeit, quer durch die liberalen Gesellschaften Europas und Nordamerikas, nicht sehr erfreulich aus. Der öf­fentliche Diskurs sieht sich einer diversen, aber in Kernfragen einigen Phalanx von rechts aus­gesetzt, die nichts unversucht lässt, demokrati­sche Normen und humanistische Errungen­schaften zu schreddern. Das ist auch ein verschleierter Angriff auf bürgerliche Freiheiten. Und diese sind nur so groß wie die Zahl derer, die sie bewusst wahrnehmen. In diesem Sinne liegt die größte Gefahr für Bürgerrechte und Freiheiten in der Unterschätzung des Hand­lungsspielraums, den sie bieten.

Es ist traurig und alarmierend, anhand unseres Beispiels die Perversität der aktuellen politischen Situation erkennen zu müssen. Jene Kräf­te, die sich an der Zersetzung demokratischer und aufklärerischer Werte sowie von Grund­rechten abarbeiten, erhalten in Amt und Wür­den nun immer mehr Möglichkeitsräume, um die dringend nötige, zivilgesellschaftliche Ge­genbewegung zu unterdrücken. Was der rech­te Mob auf den Straßen nicht bewerkstelligen konnte, führen staatliche Institutionen weiter.


In unserem Fall mag das nicht mit Erfolg gekrönt sein. Man muss jedoch nicht besonders viel Fantasie besitzen, um zu erahnen, wohin das führt, wenn dem nicht Einhalt geboten wird: Das Wahrnehmen von bürgerlichen Freiheitsrech­ten wird so sukzessive in eine illegitime Belästi­gung verwandelt. Am Ende steht dann – ganz im Sinne der global agierenden Antidemokraten – die Demokratie als zu bekämpfende Beläs­tigung dar.

Es zeigt sich nun, dass der neurechte Marsch durch die Institutionen im vollen Gange ist und einen Ablaufplan der Infiltrierung abarbeitet. Den kann man zum Beispiel bei Vordenkern wie Götz Kubitschek nachlesen: Nachdem der öf­fentliche Diskurs mit nationalistischer, völki­scher und rechtsreaktionärer Begriffssetzung hinlänglich durchwandert wurde, kann nun schleichend damit begonnen werden, staatli­che Institutionen Stück für Stück nach Dunkeldeutschland zu rücken. Die ganze Angelegen­heit ist also im wahrsten Sinne verrückt. So wie die neue deutsche Phalanx der Rechtspopulis­ten und -extremisten erfolgreich die öffentliche Deutungshoheit über bestimmte Begriffe und Themenkomplexe erlangt hat, führt sie ihr Machwerk nun zum nächsten Level. Künstleri­sche Prozesse und/oder originelle Protestfor­men – die nicht nur grundgesetzlich geschützt, sondern auch wichtige Bausteine des zivilge­sellschaftlichen Lebens sind – werden metho­disch und bewusst unterkomplex zu illegitimen Gewaltakten umgedeutet. Die Gründe für diese Form der schleichenden Ermächtigung sind nicht nur über den oft bemühten Hinweis auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu fin­den. Die Gründe liegen auch und nicht zuletzt in uns selbst und unserem bisherigen Unvermö­gen, Widerstand zu leisten. So wird nun das Recht langsam, aber stetig in Unrecht verwan­delt. Widerstand wäre einem alten und wahren Sprichwort zufolge nun Pflicht. Aufgeklärte Gutmenschen haben es nur leider nicht so gerne, sich verpflichten zu lassen.

Der Philosoph Karl Mannheim etablierte den Begriff der „freischwebenden Intelligenz", die sich ungebunden von sozialen oder kulturellen Voreingenommenheiten und Ideologien in öffentliche Debatten schaltet, um unverfälschte Wahrheiten zu markieren und durchzusetzen. Dies war nicht nur eine utopische Träumerei von einer idealen demokratischen Öffentlichkeit. Bis vor nicht allzu langer Zeit konnte man in libera­len Demokratien halbwegs funktionierende Öf­fentlichkeiten beobachten, die meistens einen gewissen Grundkonsens über Tatsachen und andere Wahrheiten bewerkstelligen konnten. Es scheint so, dass künstlerische und andere zivilgesellschaftliche Kräfte mehr denn je auf­gefordert sind, die freischwebenden Intelligen­zen wieder einzufangen und in neuartige Insti­tutionen umzuwandeln, welche historische Erkenntnisse, Wahrheiten und Errungenschaf­ten wieder in strahlendes Licht und allgemeine Anerkennung zu tauchen vermögen.

Marcel Duchamp sagte einmal: „Die Kunst ist nicht das, was man sieht; sie ist in den Lücken. Es ist der Betrachter, der diese füllen muss. Ohne seine schöpferische Teilnahme bleibt das Werk Fragment. Er allein kann es vollen­den.“ Jene schöpferische Teilnahme fordern wir ein. Wir versuchen allerdings, sie umzulei­ten – auf die Politik. Dass dieser Transfer sehr zäh verläuft, liegt nicht an unrealistischen Pers­pektiven, sondern an der kollektiven, tiefsit­zenden Akzeptanz von konstruierten Katego­riengrenzen. Die Grenzen künstlerischer oder politischer Freiheit, überhaupt die Grenzen bürgerlicher Freiheit liegen ferner, als die öf­fentliche Wahrnehmung vermuten lässt.

Eine notwendige, mentale Revolution der be­schriebenen Art richtet sich also nicht gegen den Staat und seine Institutionen. Ganz im Gegenteil. Sie richtet sich erst gegen unsere eigenen Muster und dann gegen die Feinde der Demokratie und der Menschenrechte. Unsere paradox scheinende, im besten Sinne dialektische Herausforderung besteht darin, innere Widerstände zu überwinden, um nach außen Widerstand leisten zu können. Die Ge­schichte lehrt uns, dass es schneller zu spät sein kann, als man denkt.

Salto in Zusammenarbeit mit 39NULL