Winterlicher Besuch
THE WINTER VISIT
More sudden than any spring
Memory could invent, completion came
With November’s full moon
In whose rays, their white hair gleaming,
Nonagenarian couple on sticks they hobbled
Off again from our door.
That morning for us who waited
Hoarfrost pallor it was,
The low sun through clouds aglow,
Death-coloured leafage retained –
Until towards noon a damped sky-blue,
Winter’s radiance, took over,
A roof-top, a tree-top shone.
Dubious hours passed: inexplicably
They’d made a detour, stopped at the sea,
Parked on a sand-cliff marked for obliteration
As though for confirmation,
By looking, that sooner or later
This land, these walls would be water –
When he since youth had said:
‘Best not to be born – or dead’
Yet worked, worked, worked, in his eighties jogged
To keep the current unclogged.
Then across sixty-five years
Of meetings, distances
Between blocked ears the talk
Hobbled, shuffled – his
Gasped out in whispers, for he
Was weary well before night
Of all flotsam about to sink;
Hers more enquiring, still bright
Against the now fading light:
Of completion, too, hard-won,
So little left to be done,
But the broken snagged journey taken,
The words unspeakable spoken
By presence alone, on this brink.
Michael Hamburger
Hamburger, 1924 geboren, flüchtete als Sohn jüdischer Eltern in den 1930er Jahren aus Berlin nach England; im Juni 2007 starb er in seinem Haus in Suffolk. Er arbeitete als Kritiker, Lyriker und Übersetzer u. a. von Goethe, Rilke, Hölderlin, Celan, Enzensberger. Ausgezeichnet u. a. mit der Goethe-Medaille der Stadt Frankfurt, dem Hölderlin-Preis, dem Petrarca-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer, dem Horst-Bienek-Preis für Lyrik.
WINTERLICHER BESUCH
[unter Mitwirkung des Autors übersetzt von Franz Wurm]
So jäh wie kein Frühling,
Den Erinnerung erfinden könnte, erfüllte sichs
Zum Vollmond November,
In dessen Strahlen, leuchtend ihr weißes Haar,
Sie, ein über neunzigjähriges Paar,
An Stöcken wieder davonhumpelten von unserer Tür.
Für uns, an jenem Morgen Wartende,
War es Rauhreifblässe bei niedriger Sonne,
Die durch die Wolken glomm,
Durch todesfarbenes, noch verbleibendes Laub –
Bis gegen Mittag gedämpftes Himmelblau,
Ein strahlendes Winterleuchten aufkam,
Ein Dachfirst, ein Baumwipfel erglänzte.
Stunden vergingen im Zweifel: unerklärlicher Weise
Hatten sie einen Umweg gemacht, die Reise
Unterbrochen am Meer, auf einer Sandklippe parkiert,
Der bestimmt war einzustürzen,
Wie um dem Auge die Erwartung zu verkürzen,
Daß früher oder später diese Mauern, dieses Stück Land
Wasser sein würden, zwar hatte er seit seiner Jugend bekannt:
‚Am besten gar nicht geboren zu sein – oder tot‘,
War dennoch ans Werk gegangen, ging ans Werk, überbot
Sich noch in den Achtzigern, joggte,
Damit ihm der Fluß nicht stockte.
Und dann über fünfundsechzig Jahre
Von Begegnungen hinweg, über Distanzen
Zwischen sperrigen Ohren, humpelte
Die Rede, schlurfte, – die seine
Flüsternd gekeucht, denn er
War all des Treibguts, das am Versinken war,
Müde lange vor Nacht; die ihre
Fragender, noch hell gegen das
Jetzt schwindende Licht:
Von Erfüllung auch, schwer errungener,
So wenig was noch zu tun blieb,
Aber die unterbrochene, hakelige Reise geschafft,
Die unsagbaren Wörter ausgesprochen
Durch bloßes Hiersein, an diesem Rand.
Aus:
Michael Hamburger: Letzte Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Iain Galbraith.
Aus dem Englischen von Klaus Anders, Uwe Kolbe, Jan Wagner und Franz Wurm
ISBN 978-3-85256-477-7