Die Auslöschung des Ichs
Anonymes Netzwerken: Unsichtbarkeit verleiht Menschen den Mut, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Wie ungezügelt der Hass im Internet sein kann, erfuhr die holländische Künstlerin Tinkebell, die mit bürgerlichem Namen Katinka Simonse heißt. Im Jahr 2004 löste sie einen Sturm der Entrüstung aus, als sie ihre eigene Katze umbrachte und aus ihr eine Handtasche machte.
Der Katze den Hals umdrehen
Zur Vorgeschichte: Simonses Katze war todkrank; das Tier namens Pinkeltje lag laut ihrem Tierarzt bereits im Sterben. Die Künstlerin beschloss, ein Statement zu setzen und den scheinheiligen Umgang mit Tieren zu thematisieren. Tinkebell kritisiert in ihren Werken häufig, dass manche Tiere verhätschelt und wie ein Teil der Familie behandelt, andere hingegen unter furchtbaren Umständen gehalten und massenhaft umgebracht werden. Um diesen Widerspruch offensichtlich zu machen, tat sie etwas, nun ja, Umstrittenes. Sie drehte ihrer eigenen Katze den Hals um und machte eine Handtasche aus ihr. Dann stellte sie eine Anleitung ins Netz, wie man aus dem eigenen Haustier eine stylishe Tasche fabriziert.
Das Echo war gewaltig. Tierschützer und Blogger empörten sich über die Tötung und Verarbeitung der Hauskatze, zehntausende User strömten auf ihre Website, und ihr Mailpostfach wurde mit Hassmails überschwemmt. In vier Jahren erhielt Tinkebell etwa 100.000 Mails mit Beschimpfungen oder Drohungen. "Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was auf mich zukommen würde", schrieb sie später in einem Kommentar im Guardian.
Digitale Spuren
Viele Internetuser flippten komplett aus, drohten der Holländerin damit, sie umzubringen, sie zu vergewaltigen, sie auch zu einer Handtasche zu verarbeiten. Tinkebell beschloss, die Hassmails nicht zu verschweigen. Stattdessen sammelte sie diese mit der Künstlerin Coralie Vogelaar, die den digitalen Spuren nachrecherchierte. Vielen E-Mails war unten sogar eine Signatur angehängt, sodass der Absender sofort ersichtlich war. Bei anderen Adressen reichte eine Google-Suche, um die Person zu identifizieren. Simonse und Vogelaar schafften es, etliche Absender auszuforschen. Dann suchten sie ihr Facebook-Profil, ihren Youtube-Account und andere Websites auf, die etwas über die Personen verrieten. Sie speicherten alles, was sie finden konnten: Profilfotos, Selbstbeschreibungen, sogar die Wohnadresse. Daraus wurde ein Buch: Dearest Tinkebell ist die Sammlung dieser Hassmails und ihrer Verfasser.
Ich gebe zwei Schriftstücke im englischen Original wieder, weil hier der Hass besonders eindrucksvoll und ungefiltert spürbar wird. Eine Userin schreibt: "I hope that you will be raped and killed, bitch and cat murdererd. I would like to put a knife in your pussy and open you!!!!!! I hope somebody kill you, in the most painful way is possible!!!!!!" Im Buch sind ihre Mailadresse, der Text sowie detaillierte Informationen über die Absenderin abgedruckt. Sie lebt offensichtlich in Turin, interessiert sich für keltische Kultur und trägt gern Blumen im Haar. Außerdem hat sie eine Vorliebe für Katzen.
Rechtliche Pattsituation
Tinkebell schreibt: "Die Absender kamen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Eine Kombination aus dem falschen Gefühl der Anonymität und der Idee, dass alles Digitale 'nicht echt' ist, macht es einfach, Hassmails zu versenden." Es ist fast schon unbehaglich, wie viele persönliche Details Vogelaar und Simonse über einige Absender herausfinden konnten. Ist das nicht total illegal? Immerhin veröffentlichen die beiden Künstlerinnen höchst persönliche Informationen dieser Menschen, von Urlaubsfotos bis hin zur Wohnadresse. Simonse wurde natürlich darauf angesprochen, dass ihr Vorgehen nicht gerade legal sei, worauf sie antwortete: "Ist es auch nicht. Aber es ist auch nicht erlaubt, Hassmails zu verschicken." Es entstand eine rechtliche Pattsituation. Sollte sich jemand über die Veröffentlichung seiner Daten aufregen und mit dem Rechtsanwalt drohen, könnte Tinkebell diese Person mit ihren eigenen - auch nicht einwandfreien - Worten konfrontieren und ebenfalls mit einer Klage drohen. Aber es trudelten keine Rechtsanwaltsbriefe ein.
Gefühl der Unidentifizierbarkeit
Ihr sei es auch darum gegangen, die Absurdität der vollkommen überzogenen Hassmails aufzuzeigen: "Ihre Details zu veröffentlichen, war eine Form, von ihnen Rechenschaft einzufordern: Du willst, dass ich sterbe, aber wer bist du überhaupt?" Der Fall ist ein eindrucksvoller Beleg für die Enthemmung im Netz, aber auch dafür, dass viele Menschen ihre eigene Anonymität komplett falsch einschätzen. Anonymität ist oft de facto gar nicht vorhanden, trotzdem wiegen sich viele User in einem falschen Gefühl der Unidentifizierbarkeit. Würden sie länger darüber nachdenken, schrieben sie vermutlich keine solchen E-Mails oder täten zumindest mehr dafür, ihre Identität zu verschleiern. Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase des Internets, in der wir das soziale Miteinander neu definieren. Die zentrale Frage lautet dabei: Wie können wir Online-Communitys, also die fragmentierte Gesellschaft im Netz, so gestalten, dass Menschen zu einem angenehmen Verhalten motiviert werden, ohne gleich in eine Überwachungsinfrastruktur abzugleiten? (aus Ingrid Brodnig, DER STANDARD, 27.1.2014)
toller artikel
und nachdem gestrigen tatort mit kinderschänder selbstjustiz flashmobs wir dmir schon langsam etwas mulmig.
Die Technik hat die Menschen
Die Technik hat die Menschen schon immer entfremdet, bzw. deren Hemmungen abgebaut, siehe auch Autofahrer. Ich beobachte aber eine generelle Senkung der Aggressionsschwelle in der Gesellschaft. Immer mehr einsame Menschen unterdrücken vielleicht Frustrationen, die früher eher in kleinen Dosen auf mehrere Menschen verteilt wurden. Heute explodiert so manche/r unvermittelt. Als die Stadtpolizei vor einigen Tagen die Autos in einer zu bestimmten Schulzeiten gesperrten Straße kontrollierte, stieg ein augenscheinlich normaler Familienvater aus und ging brüllend und völlig ausgerastet auf die Polizisten los.
ein sehr guter beitrag...
ein sehr guter beitrag... einmal mehr ein grund für eine forderung medialer bildung ab dem volksschulalter.
In risposta a ein sehr guter beitrag... di Nord licht -r
mediale Bildung?
Du meinst ernsthaft, dass die beschriebenen Morddrohungen ein Zeichen von "medialer Unbildung" sind? Da stimmt doch wohl eher mit den Menschen was nicht, als mit dem schlechten Gebrauch der Medien, oder?
In risposta a ein sehr guter beitrag... di Nord licht -r
@frank b. : ganz sicher
@frank b. : ganz sicher stimmt hier mit dem mensch als solchen was nicht. und ich bin überzeugt davon, dass die bildung des menschen von klein auf hin zu einem selbstreflektiven Menschen in der welt solchen strömungen die stirn bieten kann. da unser sein schon längst auch in die digitale welt eingedrungen ist, ist es auch nötig dieses "digitale bewusstsein" lernen zu steuern oder zu fühlen oder wie auch immer. mit medialer bildung meine ich nicht das vermögen den pc ein und auszuschalten.