Politica | Griechenland

In Athen - von Kaufrausch erfasst

Aus Angst vor einem Staatsbankrott und dem "Grexit" haben viele Griechen die Konten geräumt. Die einen horten das Geld , die anderen geben es aus für letzte Schnäppchen.

Jeden Tag nach dem Frühstück vertrete ich mir die Füsse mit einem Spaziergang vom Syntagma- bis zum Omonia-Platz in Athen . Das hat einen praktischen Grund: mein Mann, RAI-Korrespondent in Istanbul und auch für Griechenland zuständig, stürmt jeden Morgen gegen halb sieben aus dem Zimmer und nimmt einen Kamm mit, um  vor den Live-Sendungen kurz noch die Haare in Ordnung zu bringen. Denn die Schaltungen finden auf einem Balkon statt und dort weht meist ein kräftiger Wind. Fast jedesmal vergisst mein Mann diesen Kamm irgendwo und so muss ich regelmässig einen neuen kaufen. Der tägliche Spaziergang dient aber nicht nur  dazu. Ich kaufe nämlich nicht nur einen Kamm, sondern auch viele andere Dinge, die ich nicht unbedingt brauchen würde.   

Auf dem täglichen Weg durch das Zentrum von Athen habe ich in den letzten Tagen und Wochen drastische Preissenkungen beobachtet. Dabei handelt es sich nicht nur um den klassischen Winterschlussverkauf, sondern um eine fast täglich nach unten stürzende Preisspirale. Ich erlebe  die "Deflation" sozusagen vor meinen Augen. 

Schon vor den Wahlen, bei meinem letzten Aufenthalt in Athen Ende Dezember,  stellte ich fest, dass derselbe Pullover einer renommierten englischen Marke in Athen genau die Hälfte von dem kostete, was ich in Rom dafür bezahlt hatte. Ich ärgerte mich natürlich und nahm mir vor, das nächste Mal in Athen, also diesmal , einen weiteren Pullover dieser Marke in einer anderen Farbe zu erstehen. Das tat ich auch: er kostete die Hälfte der Hälfte , die ich im Jänner auf dem Preisschild gesehen hatte.

Mit den Schuhen ist es dasselbe: gestern kaufte ich ein Paar bequeme , qualitativ hochwertige  Gehschuhe für 49 Euro, die vor Jahresende 109 Euro gekostet hatten. Heute vormittag kosteten sie im selben Geschäft 30 Euro.  

Weil ich den Griechen aber alles verzeihe und um ihre Zukunft und Zahlungsfähigkeit bange, war mein Ärger sehr beschränkt. Auch rechtfertige ich vor meinem Gewissen diesen Athener Konsumrausch damit, dass ich nur die krisengeschüttelte griechische Wirtschaft unterstütze. Lieber gebe ich mein Geld in Athen aus als in Rom oder Istanbul, lautet meine Devise.       

Heute aber war mein schlechtes Gewissen nicht mehr zu beruhigen. Ich sah am Strassenrand eine gut gekleidete Frau meines Alters stehen, mit den üblichen Papiertaschentuch-Päckchen in der Hand, die  laut und deutlich um Geld bat.  Ich gab es ihr gerne.  Doch hatte ich nicht den Mut, sie anzusprechen und sie zu fragen, wie es dazu gekommen ist, dass sie betteln musste. Mein geplantes Shopping beendete ich heute sofort.  Mir war übel und ich hatte starkes Herzklopfen. Ich hatte mich so stark in diese Frau hineinversetzt, dass mir schlecht wurde. 

Der von Christa Wolf beschriebenen "Kassandra" wurde auch immer übel, wenn sie düstere Zukunftsvisionen hatte. Das ist mir auf dem Rückweg ins Hotel eingefallen. Und von diesen düsteren Ahnungen bin ich derzeit sehr befallen .  Sollte die neue Regierung in Athen scheitern ,  Griechenland bankrott gehen und aus der Eurozone ausscheiden , wird es in Europa schwere Turbulenzen geben. Dazu der Krieg in der Ukraine.  Mein geliebtes , friedliches , wohlhabendes Nachkriegs-Europa gehört der Vergangenheit an.