Società | Aktion

Mit Pappe gegen Unsichtbarkeit

In Bozen läuft seit einer Woche eine Kampagne, um auf die Obdachlosigkeit und die politische Verantwortung hinzuweisen: “Liebes Bozen, wir brauchen deine Hilfe!”
Liebes Bozen
Foto: Liebes Bozen

Die Sonne scheint wieder länger, die Nächte werden milder. Und dennoch, auch wenn der Frühlingsbeginn unmittelbar bevorsteht, wollen manche nicht wegschauen. In Bozen macht eine Gruppe von Aktivisten gegen die Obdachlosigkeit und damit, wie mit Obdachlosen umgegangen wird, mobil.

“Liebes Bozen, wir brauchen deine Hilfe!” So der Aufruf, der seit einer Woche im Netz kursiert. Auf einer eigens eingerichteten Website, auf Facebook und über eine Petition wollen die Initiatoren aufrütteln. Angestoßen haben die Kampagne zwei Studentinnen des Lehrgangs für Ökosoziales Design an der Freien Universität Bozen, die sich im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit dem Phänomen der Obdachlosigkeit beschäftigt haben.
In Bozen gibt es über 200 Obdachlose – und es werden immer mehr”, stellen die beiden Studentinnen fest. Nach den jüngsten Vorfällen wenden sie sich nun an die Öffentlichkeit.

Ende August 2018 wurde vom Bozner Gemeinderat der Beschluss Nr. 38 genehmigt, aufgrund dessen dürfen Obdachlosen ihre Besitztümer – darunter Decken, Schlafsäcke Kleidung, Rucksäcke und sogar Dokumente – als Müll bezeichnet und weggeworfen werden. Immer wieder hat die Stadtpolizei deshalb in den vergangenen Monaten eingegriffen. “Bei unter 0 Grad Celsius kann das lebensgefährlich sein”, heißt es in der Online-Petition an Bürgermeister Renzo Caramaschi, mit der die Abschaffung des Beschlusses Nr. 38 gefordert wird. Zugleich spricht sich die Petition gegen das Salvini-Gesetz aus, “wegen dem es bald mehr Obdachlose geben wird – auch in Bozen”.

“Derweil scheint die Stadt Bozen die Devise zu vertreten, Obdachlose aus dem Stadtzentrum zu verdrängen”, heißt es in einer Aussendung der beiden Studentinnen. “Entgegen der Ratschläge lokaler Organisationen und Freiwilliger wurde im Dezember das zentrale Kälte-Not-Zentrum auf die Hälfte der Plätze reduziert und eine neue Struktur in der Industriezone eröffnet. Das neue Zentrum stellt ein Massenlager mit 130 Schlafplätzen bereit, obwohl Vertreter von lokalen Organisationen die Wichtigkeit von kleineren Unterbringungen zur Konfliktvermeidung betonen. Des Weiteren wurden einige öffentliche Plätze in Bozen architektonisch so verändert, dass sich obdachlose Menschen dort nicht mehr aufhalten können. Dies wird beispielsweise durch Gitter, Spitzen oder Kunstobjekte erreicht. Mit der Kampagne ‘Liebes Bozen’ wollen wir diese Umstände in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Wir möchten den Bozner Bürger*innen etwas in den Weg stellen, um diese unbeachtete Angelegenheit zurück in ihr Bewusstsein zu bringen. Wir wollen Menschen dazu bringen, sich zu informieren, aktiv zu werden – politisch und gesellschaftlich – und sich gemeinsam für eine bessere Zukunft für alle Bozner*innen einzusetzen.”

Um die oft Unsichtbaren sichtbar zu machen, fand Ende vergangener Woche in der Bozner Altstadt eine Guerilla-Aktion statt. 40 Aufsteller aus recyceltem Karton mit einer Illustration eines obdachlosen Menschen, 45 mit Fakten versehene Plakate und 800 Informations-Flyer wurden in der Innenstadt verteilt. Weil das gesamte Material innerhalb einer Stunde von der Polizei beseitigt wurde und damit “nicht nur Gegenstände, sondern eine Botschaft aus der Sicht der Öffentlichkeit entfernt” worden sei, dachte man sich bei “Liebes Bozen”: Jetzt erst recht!

Am gestrigen Dienstag wurde der zweite Versuch gestartet. Erneut wurden gut besuchte öffentliche Plätze und institutionelle Einrichtungen mit den mahnenden Papp-Aufstellern “geschmückt”. Auch an Brennpunkten wie am Bahnhofsplatz, im Kapuzinerpark oder den zahlreichen Leerständen in der Innenstadt wurden Plakate angebracht. Allerdings bewusst am helllichten Tag.