Verschleierungen, Gespräche über das Kopftuch
Monika Zisterer hat Pädagogik mit dem Fokus MigrantInnen- und Frauenforschung an der Universität Innsbruck studiert. Die Recherchen zu ihrer Dissertation führten sie zur Frage: "Was bedeutet es für Frauen, in einer von Differenz- und Hierarchieverhältnissen durchdrungenen Gesellschaft Kopftuch zu tragen?" In ihrem Buch Verschleierungen, herausgegeben im Innsbrucker Studienverlag, geht es um persönliche Reflexionen, theoretische Einblicke und empirische Annäherngen an das Thema. Hier ein Auszug aus dem Werk:
Islamisierung als persönlicher Entwicklungsprozess
Ein zentrales Ergebnis, das in allen oben angeführten Studien und auch in meiner Studie gewonnen werden konnte, ist die so genannte „Individualisierung der religiösen Praxis“ (Beck-Gernsheim 2004, S.37). Den befragten Mädchen und Frauen ist es wichtig, ihre verstärkte Hinwendung zum Islam als persönlichen Entwicklungsprozess zu beschreiben und sich von einer bloß unreflektierten Übernahme
religiöser Traditionen zu distanzieren. So konstatiert etwa Klinkhammer: „‚Islamisch sein‘ wollten die Frauen vor allem als ein individuelles Projekt verstanden wissen, das sich in der Konzentration auf das Individuum und seine religiöse Lebensführung vollzieht und nicht nur in Reaktion auf die Fremdwahrnehmung als Muslimin und schon gar nicht als Gehorsamkeit gegenüber der Elterngeneration. […] Unabhängig davon, welche tatsächlichen Einflüsse und Kontexte für die Islamisierung der Frauen letztlich beobachtbar waren, rücken sie selbst mit dem Bekenntnis zur ‚Wahl‘ retrospektiv ihre subjektive Entscheidung in den Mittelpunkt ihrer Religionsaneignung und beanspruchten zumindest für die Gegenwart und Zukunft die Notwendigkeit einer gefühlten religiösen Authentizität“ (Klinkhammer 2007, S.117).
Die Bedeckung als religiöse Pflicht
Von einem Großteil der Befragten in den genannten Untersuchungen wird die Wahl für das Kopftuch als eigene dargestellt, die erst erfolgte, nachdem frau sich innerlich dafür bereit fühlte. Religiös begründet wird die Sinnhaftigkeit der Verschleierung mit verschiedenen Suren im Koran (51), die den Frauen zufolge ausdrücklich darauf hinweisen, dass Gott die Bedeckung als religiöse Pflicht der gläubigen Frauen erachtet.
Außerdem wird auch die Sunna zur religiösen Begründung herangezogen. (52) Die Pflicht des Kopftuchtragens sei dabei nur eine unter vielen religiösen Pflichten, die im Diesseits befolgt werden sollten, um im Jenseits belohnt zu werden. Höglinger resümiert: „Das Kopftuch ist somit eingebunden in einen weiteren spirituellen Kontext, der nicht nur im Diesseits wirkt und Vorteile bringt, wie Schutz, Erkannt-
Werden, Stabilisierung der Gesellschaftsordnung etc., sondern bezieht sich auch auf islamische Vorstellungen vom Jenseits, in dem das Nicht-Tragen als Sünde sanktioniert wird“ (Höglinger 2002, S.81).
Monika Zisterer, Dr.in, Studium der Erziehungswissenschaft in Innsbruck, engagiert in der kritischen Migrations- und Frauenforschung, seit 2003 in der offenen Jugendarbeit tätig.
„Traditioneller Islam“ versus „wahrer Islam“
Viele der in den Studien befragten Kopftuchträgerinnen grenzen sich insofern von der Elterngeneration ab, als sie deren religiöse Praxis als „traditional“ einstufen, während sie die eigene als „von kulturellen Traditionen befreite“ begreifen. Im Gegensatz zur elterlichen Religiosität, die als unhinterfragte Weiterführung eines unsystematischen Volksislam kritisiert wird, ist es den Frauen wichtig, sich über die Aneignung religiösen Wissens einen Zugang zum „wahren Islam“ zu erschließen. Die Annäherung an den „wahren Islam“, der als ein universaler, von patriarchalen
Traditionen befreiter verstanden wird, erfolgt u.a. über die intensive Beschäftigung mit dem Koran, der Sunna und über die Lektüre der neuen islamischen Sekundärliteratur.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Suche nach Aussagen und Interpretationen, die die Rechte und Würde von Frauen hervorheben. Sich dem „wahren Islam“ anzunähern, umfasst, wie insbesondere Nökel herausarbeitet, neben der religiösen Wissensaneignung auch eine innere Persönlichkeitsentwicklung, die sich in äußeren Ausdrucksformen und Verhaltensweisen manifestiert: „Die Leibordnung unter islamischen Vorzeichen und dabei insbesondere das Kopftuch gilt als die Manifestation einer ‚totalen Persönlichkeitsentwicklung‘
[…], die jede persönlich und kontinuierlich erarbeiten muß“ (Nökel 2002, S.95).
Im Spannungsfeld von Anpassung und Abgrenzung
Aus den Untersuchungen geht hervor, dass nur ein kleiner Teil der jungen Musliminnen sich für uniformierende Verschleierungsformen wie etwa den Tschador – ein großes schwarzes Körpertuch – oder den türkischen Tscharschaf – einen gleichfarbigen Zweiteiler, bestehend aus einem Mantel und einem sehr großen, über den gesamten Oberkörper fallenden Tuch, welches nur das Oval des Gesichtes freilässt – entscheidet. Den meisten Frauen ist es ein Anliegen, dass ihre Bekleidung in der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft nicht zu fremd wirkt und den eigenen ästhetischen Ansprüchen sowie den gängigen Modekriterien entspricht. Dabei gilt die im normativen islamischen Diskurs vorherrschende Meinung, dass weibliche Bekleidung weder eng noch durchsichtig sein und außer Füßen, Händen und Gesicht alles bedecken sollte, als Rahmen, der von den Frauen individuell gefüllt wird. Weitgehenden Konsens gibt es in der Gruppe der glaubensüberzeugten
Neo-Musliminnen über die Notwendigkeit einer vollständigen Bedeckung des Haupthaares. Häufig, so Nökel, seien die Frauen pingelig darauf bedacht, dass kein Härchen der Verschleierung entschlüpfe. Hier handle es sich aber, wie die Autorin aus den Aussagen der befragten Frauen ableitet, „keineswegs um die Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Eliminierung erotischer Zeichen“, sondern um die „Selbstaffirmation als gewissenhaftes, selbstdiszipliniertes, um die perfekte Erfüllung einer selbstauferlegten Leistung besorgtes Individuum“ (ebd.). Der religiös motivierte, perfekte und dennoch ästhetisch ansprechende Kleidungsstil habe für junge Musliminnen auch die Funktion, sich vom vorherrschenden Bild der „bäuerlichen, ungebildeten, unterdrückten Gastarbeiterin“ abzugrenzen und sich als eigenständige Subjekte in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft zu behaupten: „Den Nichtmuslimen wird über das Zeichensystem Körper sinnlich erfahrbar
zu verstehen gegeben, daß sie es nicht länger und nicht ausschließlich mit naiven oder unzivilisierten Orientalen zu tun haben, sondern mit Individuen, die sich auf die Transzendenz sozialer Ordnungskategorien verstehen, die ihren eigenen Stil entwickeln. Ihnen wird bewiesen, daß auch Muslime Disziplin und Geschmack haben, daß sie in der Lage sind, Ethik und Ästhetik ausgewogen zu verbinden. Ihnen wird über Mode und Kleidung symbolisch die Beherrschung des sozialen Regelwerkes und das hohe, über die Erwartung der bloßen Anpassung hinausgehende Integrationsniveau demonstriert. Mit dem Ineinandergreifen der Formen einer partikularen Ethik und einer universalen Ästhetik überbieten die jungen Frauen die Erwartung der blossen Assimilation und werden damit zu Handlungssubjekten“
(ebd., S.99).
Egalitäre Verschiedenheit
Auch in der Beziehung zu (insbesondere muslimischen) Männern demonstriere das perfekt sitzende Kopftuch, „daß man weiß, was man tut und selbstbewußt als Person gleichen Ranges oder Wertes bzw. gleicher Kompetenz auftreten kann“ (ebd., S.95). In der Kennzeichnung seiner Trägerinnen als dem „wahren Islam“ zugehörig wirke das Kopftuch als Zeichen der Unabhängigkeit, „denn durch dieses äußere Zeichen der Rechtgläubigkeit werden die Frauen befähigt, emanzipative Ansprüche gegen die Männer zu formulieren“ (Klinkhammer 2000, S.277). Dabei gehe es diesen Frauen in ihren emanzipatorischen Bestrebungen jedoch nicht darum, den Männern gleich zu werden, vielmehr werde ein Geschlechtermodell propagiert, das auf der Vorstellung einer gottgewollten egalitären Verschiedenheit zwischen Mann und Frau basiere. Diesem Verständnis gemäß seien die Geschlechter zwar gleichwertig, hätten aber aufgrund ihrer unterschiedlichen „Natur“ verschiedene
Rechte und Pflichten. Im Bereich der „Arbeit“ beispielsweise bestehe die Hauptaufgabe des Mannes darin, die Familie finanziell zu versorgen, während die Frau insbesondere für die Kindererziehung verantwortlich sei. Diese Hauptverantwortlichkeiten würden aber keineswegs bedeuten, dass nicht auch Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen könnten, falls sie das wollten. Mit Bezug auf die Frauen des „Goldenen Zeitalters“ geht ein Großteil der in den Studien befragten Kopftuchträgerinnen davon aus, dass weibliche Berufstätigkeit nicht im Widerspruch zur
islamischen Gesellschaftsordnung steht.53 Allerdings sollte die Frau in der Öffentlichkeit ihre „Weiblichkeit“ verhüllen.54 In diesem Kontext habe das Kopftuch für die Frauen, so Karakaşoğlu-Aydin, eine doppelte Funktion:
Es wirke einerseits geschlechtsneutralisierend nach außen und ermögliche somit, dass die männliche Aufmerksamkeit weg von äußeren Merkmalen hin zu inneren, individuellen Werten gelenkt werde und Frauen mehr als „Persönlichkeit“ denn als „Sexualobjekte“ wahrgenommen werden würden. Das Kopftuch wirke andererseits aber auch geschlechtsbetonend nach innen, was zur Folge habe, dass Frauen sich in ihrer „Weiblichkeit“ stärker und bewusster spürten (vgl. Karakaşoğlu-Aydin 1999, S.214).
„Befreites Wir“ – „Unbefreite Andere“
Die interviewten Kopftuchträgerinnen, die angeben, streng darauf bedacht zu sein, ihre weibliche sexuelle Ausstrahlung nur auf den eigenen Ehemann wirken zu lassen, üben zum Teil scharfe Kritik an freizügig gekleideten Frauen. Diese – so ein gängiges Interpretationsmuster – würden sich durch die „Offenlegung ihrer Weiblichkeit“ selbst zu Sexualobjekten degradieren. Sie seien Opfer des westlichen kapitalistischen Patriarchats, das Frauen zu Profitzwecken ausbeute. In Abgrenzung zu den als „unfrei“ wahrgenommenen „aufreizend“ gekleideten Frauen deklarieren sich Neo-Musliminnen als „befreit“, wie etwa im folgenden Zitat einer von Höglinger befragten Kopftuchträgerin zum Ausdruck kommt: „Also, ich bin mit dem Kopftuch noch freier geworden mit der Zeit und noch dazu schöner geworden. Ich besitze für mich was, das gehört nur mir, meine Schönheit, meinen Charakter. Und … ich bin stolz darauf, dass ich das mache, denn, wenn ich die Frauen anschaue … Ja, ich brauch’ nur die Werbungen anschauen …, egal [ob] für eine Bank, für eine Katzennahrung, [eine] Autowerbung: Lange Beine, kurzer Minirock. Oben frei, unten, ich weiß es nicht, fast frei! Oder diese … Reklame in der Stadt. Ich geniere mich für … [diese] Frau! … Diese Scheuheit ist verloren gegangen bei der Frau. Dieses Kopftuch ist ein Schutz deshalb“ (zit. n. Höglinger 2002, S.121, Einschübe im Original).
Empirischer Ausblick
Resümierend kann festgestellt werden, dass die in den Studien befragten Frauen sehr darauf bedacht sind, sich als widerständige, emanzipierte Subjekte zu konstruieren. Erfahrungen, die diesen Selbstkonstruktionen entgegenstehen, werden weitgehend tabuisiert und harmonisiert. Angesichts der Tendenz, individuelle und gesellschaftliche Widersprüche und Problemstellungen zugunsten einer forcierten Emanzipationsrhetorik auszublenden und damit Ungleichheitsverhältnisse unter dem Deckmantel der Befreiung aufrechtzuerhalten, ist es meines Erachtens notwendig, die immer vorhandene Dialektik zwischen Ausbruch aus und Anpassung an gesellschaftliche Dominanzverhältnisse in den Blick zu nehmen. Dementsprechend möchte ich die „Bedeutungen des Kopftuches für muslimische Frauen in Österreich“ sowohl unter dem Aspekt der Widerständigkeit als auch unter dem Aspekt des Unterworfenseins betrachten und somit die Widersprüchlichkeit kultureller Symbole und Bedeutungszuschreibungen in den Mittelpunkt rücken.55 Diese Blickrichtung unterscheidet meine Studie insofern von eben angeführten Untersuchungen, als in diesen die Selbstbeschreibungen und Handlungsweisen der befragten Frauen häufig in einer harmonisierten Art und Weise dargestellt werden. Den Fragen, inwieweit die Idealkonstruktion „emanzipierte Kopftuchträgerin“ dazu dienen kann, real existierende Ungleichheitsverhältnisse zu verharmlosen und welche Identitätszwänge damit einhergehen, wird kaum nachgegangen. Die Autorinnen verbleiben in ihren Analysen vornehmlich auf der manifesten Textebene. Das Zwischen-den-Zeilen-, quer zum manifesten Textsinn Stehende findet kaum Berücksichtigung. In dieser Studie ist es mir nun ein Anliegen, die Aussagen meiner Gesprächspartnerinnen auch auf ihren latenten Sinngehalt – ihre nicht konsens- und/oder bewusstseinsfähige Anteile – hin zu befragen.
Monika Zisterer, Verschleierungen, Gespräche über das Kopftuch...,224 Seiten, broschiert, Euro 34,90, Studienverlag 2015Fußnoten:
51 Zu den Suren im Koran, aus denen die Verschleierungspflicht abgeleitet wird, vgl. den Abschnitt
„Islam – Muslime – Kopftuch …“ in der Einleitung dieser Arbeit.
52 Zum Thema „Kopftuch in der Sunna“ vgl. Denffer 1998, S.21–26.
53 Die befragten Frauen berufen sich insbesondere auf die Frauen des Propheten Mohammeds, die,
so wird angenommen, bereits das Recht auf Erwerbsarbeit gehabt hätten.
54 Viele der in den Studien befragten Frauen argumentieren, dass die Frau von Natur aus schöner
und sexuell attraktiver sei als der Mann, dieser hingegen von Natur aus triebhafter sei als die Frau.
Aus dieser Konstellation ergäbe sich, dass ein Zusammentreffen zwischen den Geschlechtern in
der Öffentlichkeit immer die Gefahr der sexuellen Ausschweifung berge. Um die islamische Gesellschaftsordnung
vor ihrem Zerfall durch außereheliche Sexualbeziehungen, vor fitna (Chaos),
zu schützen, existiert ein religiöser Tugendkatalog, der die Beziehungen zwischen Männern und
Frauen reguliert. Sowohl durch die Kleiderregeln als auch durch genaue Verhaltensanweisungen
für Männer und Frauen, die weder blutsverwandt noch miteinander verheiratet sind, soll Ordnung hergestellt
werden. In Sure 24:30–31 werden die „Grundregeln der Schicklichkeit“ für Frauen und
für Männer beschrieben (vgl. hierzu etwa Höglinger 2003, S.83f.).