Books | Salto Afternoon
Am Banco der Erinnerung
Foto: Seehauserfoto
Der Autor nimmt Platz, löst seine Taschenuhr von der Kette und ist bereit. Von Christine Vescoli gibt es die - wie man sie bereits kennt - präzisen, etwas ausladenden und lobreichen Grußworte für Gäste, auch wenn Oberhollenzer selbst Mitglied des Beirats der Bücherwürmer ist. Gast bleibt Gast. Auf die Feststellung Vescolis, dass man in Kultur Lana nach der Erstpräsentation in der Alten Schmiede in Wien nun die „erste Vorstellung in Südtirol“ habe, fügt Oberhollenzer an: „in Italien“.
Wenig verwunderlich, trägt man als Pressestimme (gesammelt zum ersten Band der Sülzrather-Zuber-Prantner-Trilogie) doch „eine wundervolle Zumutung“ (Deutschlandfunk Kultur) auf der Rückseite, mit Stolz. Diese „Zumutung“ des im FolioVerlag erschienenen „Prantner oder die Erfindung der Vergangenheit“ ist seit dem ersten Buch nicht kleiner geworden. „Sülzrather“ hatte den Schriftsteller 2018 auf die Longlist des deutschen Buchpreises geführt. Der neue Roman ist, in Folge eines Erzählens von Erzähltem, einer systematischen Durchforstung eines kollektiven Gedächtnisses am Dorf, beim Konjunktiv und 200 Fußnoten gelandet, ausschweifend und verwirrend - gerade im mündlichen Vortrag, auch wenn das Buch Mündlichkeit imitiert - aber dennoch nicht ohne einen mehr oder weniger starken Reiz. Was über die Stärke dieses Reizes wohl in der Hauptsache entscheiden dürfte, ist die eigene, persönliche Toleranz für diese „Zumutung“.
Wir folgen, unter anderem Prantner Kaspar (vorab ein Personenregister von vier Seiten), erfahren aus dessen Leben, was man sich halt so erzählt. Am häufigsten das, was dem Geschichtensammler F. von der Kalber Cäcilia zugetragen wird, welche zum Teil wiederum aus anderen Quellen schöpft. Wir haben es mit mehr als einem unzuverlässigen Erzähler zu tun und was hier wahr ist und was nicht, wird am Ende mehr zur Glaubens- denn zur Wissensfrage. Auch wäre der Begriff der Zuverlässigkeit selbst zu hinterfragen, da uns hier niemand ernsthaft vorgaukelt, die Wahrheit zu kennen, sondern auf diese Unzuverlässigkeit schon wieder Verlass ist. „Vor allem Frauen erzählen in meinem Werk.“, meint Oberhollenzer, bevor er sein eigenes Statement mit Anmerkungen zu Ausnahmen versieht und die Lesung von einer knappen Stunde beginnt.
Bemerkenswert ist dabei mit welchem Feingespür der Autor seine Worte an der „kurzen Leine des langen Redens“ hält (habe es Vescoli eingangs formuliert, sagt M.), obwohl man von der Handlung nur Flicken mitbekommt, welchen es an Kontext fehlt. Dafür erhält man einen Eindruck vom Modus des Erzählens. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Exkurs in Prantners Welt und das fiktive Dorf Aibeln bei einer, der zum Teil Nebenhandlungen eröffnenden Fußnoten beginnt, in welcher sich F. über die Erzählweise einer gewissen Herlinde, religiöse Wirtshausgängerin, beklagt. Im fast endlosen Schachtelsatz werden ihre „ausufernden Aberrationen“ angeprangert, ein Ausdruck der wiederum übernommen ist. „Das als Einleitung, zum Erzählen. So erzählt man eben in Aibeln und da komme ich auch nicht darum herum.“, meinte der Autor dazu.
Fakt ist, dass Oberhollenzer in seiner fiktionalen Erzählung voller Unschärfen immer wieder gesicherte Details einbaut, die mit unserer Realität übereinstimmen, sozusagen die Tiefenschärfe neu ausrichten. Ob das nun ein Lied im Radio ist - wie Iggy Pops „Passenger“, dessen Melodie Oberhollenzer verfälscht - oder Bücherwürmer Vereinspräsident Elmar Locher als Verwahrer einer Kladde aus der Feder Vitus Sültzrathers, die Option oder aber auch die Pandemie, welche im jüngsten Band Einzug hält. Sie geben dem Leser Halt, bei allen Zeitsprüngen im Buch und im Abend. Auch bleiben die Dinge zum Teil so offen, dass wir zwar von den Geschehnissen mit ausreichender Sicherheit informiert werden, bei den Motiven einer - wohl absichtlich - verpfuschten Beinoperation aber im Dunkel tappen. Durch diese blieb Prantner im Übrigen der Wehrdienst in den Weltkriegen erspart.
Josef Oberhollenzer hat kunstfertiges Geplänkel am „Banco“ der Erinnerung geschrieben, mit spitzer Feder für Feinheiten in der Sprache, wo er nicht etwa pedantisch eingreift, sondern weil er muss: Ist die Quellenlage derart komplex, so ermöglicht vielleicht der linguistische Blick, welcher die Augen in beide Richtungen, Zukunft und Vergangenheit, offen hält, Rückschlüsse darauf, wer wozu spricht und wozu schweigt. Jugendsprache und Anglizismen halten dabei ebenso Einzug, wie Dialektformen, welchen durch Generationenwechsel das Verschwinden droht. Immer tiefer verliert man sich dabei in den unmöglichsten Möglichkeitsformen und hat nach einer Stunde zuhören noch kaum an der Oberfläche gekratzt. Der Autor textet sich durch rund ein Jahrhundert und blickt noch weiter in den zahlreichen - auch hier kommt ein guter Teil der Fußnoten zustande - Texten, die man zitiert.
Josef Oberhollenzers Roman verspricht - in dem, was er blicken ließ - tatsächlich eine „wundervolle Zumutung“ zu sein. „Zumutung“ für jene, die einfach wissen möchten, wie es nun war, mit dem Zusatz „wundervoll“ für jene, die Einblick erhalten möchten, wie sich Geschichten (und damit Vergangenheit) entwickeln und aus widersprüchlichen Erinnerungen heraus immer wieder neu erfinden.
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