Josef Kostner, Veränderung und Befreiung
Es gibt Männer und Frauen, die über den Tellerrand der täglichen Probleme hinausblicken, und andere, die nicht nur ihrer Zeit voraus sind, sondern auch Dinge realisieren, auf die zuvor keiner gekommen war – mit einem einzigen Ziel: uns eine Ahnung von universaler Schönheit zu vermitteln. Ich denke dabei an Arnold Schönberg mit seiner atonalen und Zwölftonmusik. Oder an David Bowie, der uns erst vor wenigen Tagen verlassen hat, sein Erbe dieser psychopathische und futuristische Expressionismus, der so direkt war und doch so genial. Auch an die Impressionisten muss ich denken, die eine neue Art des Malens angeregt, beeinflusst und erfunden haben. Oder an die Pop Art – erst mit Rauschenberg und Johns, dann mit Warhol und Lichtenstein – die nicht davor zurückschreckte, sich die Hände mit Popkultur schmutzig zu machen.
Oft bleiben diese Menschen unverstanden und ungehört. Josef Kostner, ein ladinischer Künstler, der zusammen mit Gilbert Prousch zu den größten lebenden Künstlern des ganzen Alpenraums zählt, gilt teilweise heute noch als unverstanden. Sei es, wenn er – was er bis heute tut – die Gesellschaft, die Fremden, die Einheimischen, den Massentourismus kritisiert. Sei es, wenn er sich als Junge als Mann der Zukunft offenbarte, als „haereticus“, was er mit seinen über 80 Jahren bis heute ist. Denn der Haereticus ist in der griechischen Kultur derjenigen, der eine Wahl trifft. Es war die Kirche, die die Bedeutung des Wortes in das negativ assoziierte „Häretiker“ (Ketzer) umänderte.
Der Grödner Josef Kostner hat die Wahl getroffen, zu kritisieren, gegen den Strom zu schwimmen, sein Material mit Blick auf das Immaterielle zu bearbeiten. Der Mann, der selbst Armut kennengelernt hat und in der väterlichen Werkstatt mitarbeiten musste, um die vielköpfige Familie zu ernähren, beklagt die schnelle, ungebremste Entwicklung einer Gesellschaft, die nur noch den Götzen Reichtum verehrt. Mit Frömmlern kommt er nicht aus, die Kirche und selbsternannte Volkserzieher klagt er an. In früheren Jahrhunderten wäre er enthauptet oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Bei uns wurde er toleriert. Doch Toleranz ist oftmals nicht aufrichtig und von falscher Freundlichkeit. Sie besiegt weder die Ignoranz noch verhindert sie Verachtung. Aufrichtig dagegen ist Josef Kostner immer gewesen, mit seinen Kunstwerken und mit seinen äußerst kraftvollen Gedichten. Anfang der 70er Jahre schreibt er: „Gestatten, darf man hier bei euch noch Grödnerisch reden? Ihr wisst wohl, wir sind noch aus einer vergangenen Zeit; entschuldigt uns! Noch ein paar Jahre, und alles ist vorbei. Doch solange will ich ganz höflich, wenn’s gestattet ist, nachfragen, ob ich euch das noch auf Grödnerisch sagen darf.“
Die Welt braucht mehr als nur Ideen, die Wirklichkeit geworden sind. Sie braucht die Kunst, sie braucht all die großen Künstler, die Konkretes ebenso wie Spirituelles sehen, so wie es uns die Philosophien des Ostens lehren. Weil Lyrik, Gesang und Vorstellung sich nicht von der realen Welt trennen lassen. Die Welt braucht einen Künstler wie Josef Kostner mit seinen Skulpturen, die an Henry Moore erinnern und die uns Beobachter zum ungläubigen Staunen verleiten. Benommen und wie elektrisiert stehen wir von der rauen Schönheit einer Materie, die mit Kraft, Gefühl und Beharrlichkeit bearbeitet wurde.
In unserer westlichen Welt haben wir die raue Schönheit und Materie, die zur Vision wird, ein bisschen aus den Augen verloren. Natürlich schaffen die künstlerische und spirituelle Dimension von Menschen wie Kostner nicht automatisch Empfänglichkeit und spürbaren Reichtum. Doch sie führen uns zu neuen Ufern, zum Leben in seiner Gänze, das nicht nur aus Geld und Macht besteht, und sei es nur auf kleinem, lokalen Niveau. Die Kunst hatte immer die Aufgabe, das Bestehende mit dem Elixier der Kreativität und Inspiration aufzupeppen, Gefühle und Nachdenklichkeit zu erzeugen, Zeugnis abzulegen. Es bleibt zu hoffen, dass die Kunst unsere Gesellschaft immer stärker kontaminiert, bis es irgendwann, früher oder später, zu einer neuen Renaissance kommt. Es bleibt auch zu hoffen, dass der derzeitige Homo oeconomicus – schwer beschäftigt mit Flughäfen und absurden Tunneln unter den Dolomitenpässen hindurch, mit Ex-Bergsteigern, die jedes fallende Blatt kommentieren, mit Unternehmer- und Hoteliers-Verbänden, die angesichts des Schneemangels den Verstand zu verlieren zu scheinen, und (wie immer) mit der heißgeliebten Kubatur-Erweiterung – dass also dieser Mensch unserer Tage offener und empfänglicher dem gegenüber wird, der die größere Vision hat. Künstler wie Josef Kostner zu verstehen, kann dabei helfen, unseren Blickpunkt zu verändern, unsere Fantasie zu befreien. Künstler auf ihrem kreativen Schaffensweg zu verfolgen, kann uns zu neuen Erkenntnissen über die Freiheit führen. Freiheit ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Fähigkeit, die man lernen kann. Es ist die Fähigkeit, die Welt durch eine andere Brille als die eigene zu sehen, sich etwas vorzustellen, was sich noch niemand vorgestellt hat, Schönheit, Bedeutung und Inspiration zu finden. In anderen Worten: Leben. Und dank des orakelnden Künstlers kann jedes Leben zu einem Märchen über die Freiheit werden. Wie die Freiheit von Josef Kostner, dem freien Künstler, der die Zeit besiegt hat.