Società | offener Brief

“Verlieren Sie keine Zeit mehr!”

Eine Gruppe von Psychologinnen ruft den Landeshauptmann auf, Kinder und Jugendliche nicht links liegen zu lassen – und liefert konkrete Vorschläge.
Junge
Foto: Austin Pacheco on Unsplash

Unterzeichnet ist das Schreiben von zehn Psychologinnen. Sie wenden sich an den Landeshauptmann, Familienlandesrätin Deeg und Bildungslandesrat Achammer – mit demselben Anliegen wie jenes von Kinderdorf-Geschäftsführer Heinz Senoner und Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller: Sorgt euch um die Kinder und Jugendlichen, die in der aktuellen Situation nicht gehört und viel zu oft nicht gesehen werden!

 

Der offene Brief im Wortlaut

 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Arno Kompatscher,
sehr geehrte Frau Landesrätin Waltraud Deeg,
sehr geehrter Herr Landesrat Philipp Achammer,

mit diesem Schreiben wenden wir uns an Sie mit der Bitte um Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verständnis für ein wichtiges Anliegen.

Wir verstehen uns als eine Stimme für jene Menschengruppe, die für die Gesellschaft in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft die Hauptrolle spielt: 

unsere Kinder und Jugendlichen.

Sie scheinen zu jenen zu gehören, die von keiner Lobby vertreten werden und in ihren Bedürfnissen und Rechten allzu oft, und in den aktuellen Zeiten ganz akut, schlicht und ergreifend übersehen und vergessen werden.

Wir möchten vor allem Ihnen, Herr Landeshauptmann, unsere Anerkennung aussprechen, für die Bewältigung der vielen schwierigen Aufgaben seit dem Ausbruch der Pandemie. Fast über Nacht sind Sicherheiten abhanden gekommen; in diesen Momenten des Kontrollverlustes waren Ihr Handeln und Ihre Übernahme der Verantwortung wichtig und haltgebend.

Nun sind seit dem “Lockdown” nahezu drei Monate vergangen, seit Anfang Mai hat es eine Reihe von Lockerungen gegeben, die aufgrund Ihres Einsatzes in Südtirol weitreichender waren als im restlichen Italien. Ja, man hat den Eindruck, dass die Wirtschaft wieder in vollem Gange ist, wenn auch mit deutlichen Einschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen. Und das ist mutig, aber auch wichtig und gut, wenn auch die Sorge mitschwingt, wie es uns gelingen kann, keinen Rückschritt zu riskieren.

Auf der Strecke geblieben sind aber unfassbarer Weise die Kinder, die kleinen und die größeren, die nahezu keine Perspektiven für eine Rückkehr in einen halbwegs “normalen” Alltag bekommen. Die Schulen bleiben, außer für eine kleine Minderheit, weiterhin geschlossen. Die Notbetreuung für eine Gruppe von Kindern  mutet wie ein Feigenblatt an. Die Kriterien für die Auswahl dieser Gruppe sind diskriminierend, sowohl für die “Auserwählten” als auch für jene, die den vorgeschriebenen Kriterien nicht entsprechen. Letztere muten so absurd an, dass die meisten Eltern gar nicht um die Betreuung angesucht haben.

Die vielen kreativen Lösungen, die alle Wirtschaftszweige gefunden haben, sind an den Schulen vorbei möglich gemacht worden. Kreativität und Einsatz, um Kindergärten und Schulen wieder für alle Kinder zu öffnen, sind nicht zu erkennen. 

Die Argumente, dass mit Kindern die Sicherheitsmaßnahmen nicht einzuhalten seien, sind schlicht und einfach nicht wahr.  Kinder sind sehr wohl in der Lage, Anweisungen und Regeln zu befolgen und anzunehmen, wenn sie klar und einsichtig vermittelt werden. Man könnte gar wagen zu behaupten, dass Kinder dies besser leisten als manche Erwachsene. LehrerInnen und ErzieherInnen werden bestätigen können, dass sie die Kompetenz haben, diese Aufgabe gemeinsam mit den von ihnen betreuten Kindern zu bewältigen.

Dazu müssen Rahmenbedingungen angepasst werden und dafür ist Kreativität gefordert, vor allem aber braucht es endlich klare Konzepte. Die Politik ist dringend gefordert, solche Konzepte ausarbeiten zu lassen.

Wir alle konnten sehen, wie effizient, schnell und mit aller Konsequenz eine Taskforce zusammengestellt werden konnte, um Maßnahmen zur Bewältigung der Krise zu erarbeiten. Es brauchte das dringende Motiv und eine klare Überzeugung, und so ist es zunächst gelungen, Katastrophen abzuwenden.

Eine solche Taskforce braucht es nun auch um eine schwelende Katastrophe abzuwenden, vor allem aber einer dringenden Pflicht nachzukommen, den Kindern und Jugendlichen deren Pflicht, die Schulpflicht, wieder zu ermöglichen.

Dass die Beziehung zu den Lehrenden eine pädagogisch, entwicklungspsychologisch und neurobiologisch relevante Einflussgröße auf das Lernen von Kindern und Jugendlichen darstellt, ist allen in diesen Bereichen Tätigen bekannt. Und genau darauf, auf die Beziehung zu ihren KindergärtnerInnen, LehrerInnen und ErzieherInnen, müssen Kinder seit Monaten verzichten, sollen aber trotzdem lernen und leisten.

Es kann nicht sein, dass die Schulpflicht von Lehrern gewährleistet wird, indem sie das gesamte Lehrprogramm mühsam und mit viel Aufwand digital aufbereiten und nach Hause schicken und die Lehre, die Aufsicht, die Hilfestellungen den Eltern (zum Großteil sind es die Mütter) überlassen werden.

Das Lernen im Sozialen, das neben der Wissensvermittlung nachweislich mindestens genauso wichtig für eine gesunde Entwicklung ist, fällt auf diese Weise total durch den Rost, ebenso ein ganz natürliches Bedürfnis von Kindern mit Gleichaltrigen in Kontakt zu sein. Dafür ist Schule, ist die Erziehung in den Kindergärten unabdingbar. Es ist unsere Verantwortung als Erwachsene, dies wieder zu ermöglichen.

Hören Sie in die Kinderstimmen hinein und fragen nach deren Wünschen, dann ist der Wunsch wieder in die Schule gehen zu “d ü r f e n” ziemlich erstgereiht. 

Uns allen ist klar, dass Gruppen eine große Gefahr für die Ausbreitung des Corona-Virus darstellen. Wenn jedoch mit dem Engagement, das alle Wirtschaftszweige an den Tag legen, auch der Schulbetrieb in Gang gesetzt würde, dann ließen sich dort sicherlich auch gute Möglichkeiten, Wege und Schutzmaßnahmen finden. 

Wir plädieren für die Einsetzung einer Kommission, in der Fachleute unterschiedlicher Richtungen vertreten sind: Mütter und Väter, PädagogInnen, PsychologInnen, Virologen, PolitikerInnen, ArchitektInnen? Warum macht man nicht öffentliche Räume auf, schafft Provisorien, wo Menschen mit dem nötigen Abstand zusammenkommen können? Auch den Mundschutz tragen Kinder, wenn sie dazu mit Vorbild angeleitet werden.

Sie mögen diese in den Raum geworfenen Ideen vielleicht als kühn betrachten. Aber es stellt sich die Frage, ob das “Wegsperren” der Kinder, die sich am wenigsten allein behelfen können, um aus diesem Lockdown herauszukommen, tatsächlich eine faire Maßnahme sein kann?! Jugendliche haben es etwas leichter, indem sie sich “organisieren”, vielleicht auch illegal, so wie Erwachsene im Übrigen auch, wie zumindest die nicht wenigen Strafbescheide beweisen.

Wahrscheinlich werden SchülerInnen sich nach der langen Trennung beim Wiedersehen umarmen. Genauso umarmen sie die Großeltern, die sie endlich wiedersehen dürfen, jene Großeltern, die jetzt für die Betreuung eingesetzt werden, damit die Eltern zur Arbeit gehen können. Viele dieser Großeltern gehören nach wie vor zur Risikogruppe, die es zu schützen galt. Sind sie inzwischen jünger geworden (Ironie)? 

Eltern im home office sowie Eltern, die Betreuungsmöglichkeiten haben, entsprechen nicht den Kriterien, um das Kind in die Notbetreuung von Kindergarten und Schule schicken zu können. Home office plus homeschooling plus Haushalt plus Kinder versorgen ist der vorprogrammierte Weg ins Burnout.

Ein spannendes Experiment:

Man stelle einen Politiker, der eine solche Ideen vertritt, einen Tag lang in ein solches “Home”: er versorgt und betreut ein Kindergartenkind, ein Grundschulkind und vielleicht auch noch einen Mittelschüler; er kocht, kauft ein, räumt auf, motiviert zum homeschooling, spielt mit den Kindern, bringt sie abends noch ins Bett und arbeitet im home office. Man könnte jede Wette eingehen, dass er spätestens nach Mitternacht, wenn ihm am PC die Augen vor Müdigkeit zufallen, seine Idee fallen lässt.

Damit nun die besagten unhaltbaren Zustände aufhören, gäbe es ein probates Mittel, das uns Virologen und eine Gruppe von Wissenschaftlern schon seit längerem predigen: testen, testen, testen.

Warum können in Schulen nicht regelmäßig Tests durchgeführt werden, bei Kindern und Lehrern, etwa Stichproben mit täglich tausend Tests? Die Kapazität sollte es, laut Presseberichten, (wie für den Tourismusbereich ja auch geplant!) geben.

Die von Ihnen, Herr Landeshauptmann, immer wieder eingeforderte Disziplin ist ein Vertrauensvorschuss, den Sie uns geben. Wo lernt man Disziplin: Wenn nicht im Elternhaus, dann spätestens im Kindergarten und in der Schule werden Disziplin soweit gefordert, dass ein geordneter Ablauf im Lernen und Zusammensein in Freiheit und Sicherheit gewährleistet sind. 

Wenn Grenzen geöffnet werden, Touristen einreisen sollen, die gesamte Wirtschaft wieder hochgefahren wird, dann darf nicht der wichtigste Teil der Gesellschaft mit äußerst halbherzigen “Notlösungen” abgespeist werden.

Wir hoffen, dass Sie die vorgebrachten Ausführungen ernst nehmen und keine Zeit mehr verlieren, diese unhaltbare Situation zu beenden. Es sind konkrete, dringend notwendige Maßnahmen zu treffen, damit Kinder und Jugendliche gehört, gesehen und fair behandelt werden.

Auf eine Stellungnahme freuen wir uns und verbleiben
mit besten Grüßen

eine Gruppe von PsychologInnen, die Kindern eine Stimme geben:

Dr. Lydia Scherer Überbacher, Dr. Brigitte Andres, Dr. Sonja Fischnaller, Dr. Monika Kahler, Dr. Doris Forer, Dr. Barbara Wenter, Dr. Marlies Pallhuber, Dr. Christine Baumgartner, Dr. Walburga Wild, Christine Wagner