Tiber
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Società | Drogenmetropole Rom

Kokain im Tiber

Die jüngste Ermordung eines Carabiniere demonstriert eindrücklich die Drogen-Exzesse der italienischen Hauptstadt.
In kaum einer anderen europäischen Metropole hat die Drogenkriminalität so bedenkliche Ausmasse erreicht wie in Italiens Hauptstadt. Die jüngste Ermordung des Carabiniere Mario Cerciello wirft ein Schlaglicht auf eine Situation, die der Kontrolle der Polizei längst entglitten ist. Dabei ereignete sich der Mord mitten im heiter anmutenden römischen Ausgehviertel Trastevere mit seiner bekannten Kneipenszene, in dem es besondern am Wochenende von Besuchern  wimmelt. Alkohol- und Drogenexzesse sind hier an der Tagesordnung: "E' la Mecca dello sballo per giovani e turisti", stöhnt ein genervter Ladenbesitzer." Tagsüber bewahrt das Viertel meistens sein fast dörflich anmutendes Gesicht, ab 18 Uhr wird es zum Umschlagplatz von Haschisch, Marihuana, Kokain, Crack, Tabletten und synthetischen Drogen aller Art. Die Marktplätze kennt jeder: Ponte Sisto, Piazza Trilussa, vicolo del Cinque, Piazza Sant'Apollonia...
"Qui non serve cercare la droga, è la droga che viene da te", spottet ein resignierter Gastwirt: "Te la vendono i vu'cumprà." Viele Bewohner meiden das nächtliche Gedränge: "La sera non esco più. E se lo faccio vado da un'altra parte", versichert ein frustrierter Bewohner. Allein im vergangenen Jahr wurden in Rom 380 Kilo Kokain und fast 60 Kilo Heroin beschlagnahmt – ein Bruchteil der in Italiens Hauptstadt konsumierten Rauschmittel. Die hohe Kokain-Konzentration im Tiber "gefährde das Überleben der dortigen Flussaale", versichert die an der Universität Neapel lehrende Ökologie-Professorin Anna Capaldo. Der Drogenmarkt zielt vor allem auf die vielen jungen Amerikaner, denen die trattorie für 10 Euro ein schäbiges Fünf-Gänge-Menu anbieten, das "all you-can-drink"-Angebot für Frauen kostet 5 Euro. Das Feilschen mit den Dealern findet öffentlich statt: 80 Euro für ein Gramm Kokain,
10 für ein Gramm Marihuana.
Roms Polizei unterscheidet zwischen mercati chiusi und mercati aperti. Zur letzteren Kategorie gehört Trastevere, zur ersteren das im Nordosten der Stadt nahe des raccordo anulare gelegene Stadtviertel San Basilio. "Portare la divisa qui significa avere coraggio", so die Kommandantin der lokalen Carabinieri-Station Agnese Cedrone. Hier befindet sich der Handel in der Hand krimineller Netzwerke, die der N'Drangheta nahestehen. Das ehemalige Industrieviertel gilt als drittgrösster Umschlagplatz Europas – wichtiger als Scampia und Secondigliano. "Es ist zwecklos, die allgegenwärtigen Pusher zu durchsuchen. Sie haben nur wenige Gramm Kokain bei sich, den Rest verstecken sie in umliegenden Beeten, Müllkörben, Kanalrohren, Stiegenhäusern oder Blumentöpfen", schildert ein resignierter Carabiniere die Lage. Nach Anbruch der Dunkelheit  trauen sich nur noch wenige auf die Strasse. Kriminelle Drogenkartelle haben ganze Kondominien in Beschlag genommen und mit gepanzerten Türen versehen. Fluchtwege verlaufen über Dächer oder durch eigens gegrabene Tunnels. Keiner der Mitbewohner wagt, dagegen aufzumucken. Von Dächern und strategischen Punkten beobachten 14-15-Jährige die Umgebung und melden sofort jede verdächtige Bewegung. Sie besorgen auch die "consegne a domicilio" der Drogen auf Rädern oder motorini. Das aus den Fünfziger Jahre stammende Viertel schlitterte nach der Schliessung mehrere Fabriken um 1970 in eine Krise, ist aber nicht der einzige mercato chiuso in der Hauptstadt. 
 
Aufatmen konnte im letzten Jahr nur ein einziges römisches Stadtviertel: der einst mondäne Badeort Ostia, in dem über Jahre der Sinti-Clan der Spada den Drogenhandel kontrolliert und Schutzgelder erpresst hatte. Der Clanchef Massimiliano Spada wurde im Vorjahr zu neun Jahren Haft verurteilten, weitere 32 Mitangeklagte zu niedrigeren Strafen. Bagger zerstörten demonstrativ vor laufenden TV-Kameras die mit vergoldetem Kitsch dekorierte Villa des Clans. An die Schalthebel des Baggers setzte sich demonstrativ Innenminister Matteo Salvini. Die Angst jedoch blieb: alle vor Gericht geladenen Zeugen legten ärztliche Bescheiningungen vor, um nicht aussagen zu müssen.