Kennen Sie Ihre Grenzen?
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Das Südtiroler Kinderdorf macht jedes Jahr am 20. November, dem internationalen Tag der Kinderrechte, auf ein Anliegen für Kinder oder Jugendliche bzw. gemeinsam mit ihnen aufmerksam. Dieses Jahr hat das Team den lokalen Medien den Prozess für die Erstellung des Kinderschutzkonzeptes vorgestellt. Wie auch beim Aktionstag gegen Gewalt an Frauen am 25. November geht es um den Schutz vulnerabler Personengruppen, in diesem Fall Kinder und Jugendliche.
Für Karl Brunner, Direktor des Kinderdorfs, ist das Thema Schutz vor Grenzüberschreitung nicht neu. Als geistlicher Assistent des KVW stellte er gemeinsam mit der Autorin Veronika Oberbichler vergangenes Jahr ihr Buch „Wir brechen das Schweigen. Betroffene sprechen über sexuellen Missbrauch“ in ganz Südtirol vor.
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„Wenn Sie mich fragen, was wir bis jetzt zum Schutzkonzept im Kinderdorf erarbeitet haben, dann liegt in schriftlicher Form noch nicht viel vor. Aber es geht nicht darum, sondern es war wichtig, die Bewusstseinsarbeit zu starten und eine Haltung zu entwickeln. Denn Prävention ist das beste Instrument dafür, dass Macht nicht missbraucht werden kann“, erklärt Brunner und: „Ein verschämter Diskurs ist das beste Einfallstor, um Schwächere zu übertrumpfen.“
Das Ziel des Kinderdorfes sei es deshalb, ein Klima der Offenheit und Partizipation zu schaffen. „Wir stehen als sozialpädagogische Einrichtung, die sich der Begleitung von Menschen in herausfordernden Lebenslagen widmet, in der Pflicht, uns im direkten Austausch mit den Kindern, Jugendlichen und deren Eltern kritisch mit unserem professionellen Handeln auseinanderzusetzen“, erklärt die Präsidentin des Südtiroler Kinderdorfes Sabina Frei.
Es tut uns als Südtiroler Gesellschaft gut, einen Blick dafür zu haben, wo die eigenen Grenzen liegen und zu ihnen zu stehen.
Erst wer die Risiko- und Gefahrenmomente benennen kann und im Auge behält, kann schützen. Das Schutzkonzept diene so auch der Orientierung der Mitarbeitenden. Im deutschsprachigen Ausland seien Schutzkonzepte in Organisationen, in denen Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, bereits an der Tagesordnung, „für Südtirol ist das Kinderdorf eine der ersten sozialpädagogischen Einrichtungen, die ein solches nun ausarbeitet und auch impulsgebend vorangehen möchte“, sagt Brunner.
RisikoanalyseIn der ersten Phase setzte eine Arbeitsgruppe eine detaillierte Risikoanalyse in Gang. In der Arbeitsgruppe waren Personen von allen Bereichen – von der Verwaltung, Reinigungskraft bis zu Erzieher*innen und Psycholog*innen – vertreten. Zurück in den einzelnen Bereichen wurden die Risiken und möglichen Gefahrenmomente in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen in der Gruppe diskutiert: Gibt es Gefahrenzonen in den Räumlichkeiten? Gibt es Einzelsituationen zwischen Mitarbeitenden und Kindern, etwa im Bereich der Pflege oder Hygieneerziehung, wo es besonderer Achtsamkeit bedarf? Welche grenzverletzenden Situationen gibt es im gelebten Alltag im Kinderdorf, zwischen den Kindern, Jugendlichen und Mitarbeitenden?
Als Ansprechpartner bei Missständen können sich Betroffene an das Überwachungsorgan des Kinderdorfes oder aufgrund einer spezifischen Zusammenarbeit an die Kinder- und Jugendanwaltschaft wenden. „In Zukunft werden wir im Rahmen des Schutzkonzeptes auch eine interne Meldestelle einrichten“, so der Direktor.
Dabei sei Grenzüberschreitung auch außerhalb des Kinderdorfes ein alltägliches Thema. „Von dem Familientherapeuten Jesper Juul, der im Kinderdorf mit meinem Vorgänger Heinz Senoner gearbeitet hat, kann man lernen, dass es sehr wichtig ist, zu den eigenen Grenzen zu stehen. Es tut uns als Südtiroler Gesellschaft gut, einen Blick dafür zu haben, wo die eigenen Grenzen liegen und zu ihnen zu stehen“, sagt Brunner.
Dadurch falle es Menschen leichter, die Grenzen anderer auch in der Erziehung anzuerkennen. „Wenn Eltern auch mal sagen, dass sie jetzt müde sind oder Zeit für sich brauchen, dann lernen Kinder, dass sie auch zu ihren Grenzen stehen dürfen“, erklärt Brunner. So könne in der Beziehungsgestaltung Rücksicht auf die Bedürfnisse genommen werden.
Teil dieses Entwicklungsprozesses sei es ebenso, darauf zu achten, ob es eine Fehlerkultur gibt und wie sich bestimmte Organisationsabläufe gestalten. „Es müssen keine Seelenstripties gemacht werden, aber die Vorsicht, eine Tat zu benennen, ist fehl am Platz. Da darf und muss man auch zu dem oder der Betroffenen stehen. Der Übergriff braucht einen Namen, er muss ausgesprochen und es muss ihm nachgegangen werden.“
Im Kinderdorf werden einzelne Leitfäden, etwa zu Sexualpädagogik, Krisenintervention oder Drogenkonsum nun in das Schutzkonzept eingearbeitet. Außerdem werden in den nächsten Monaten die Kinder, Jugendlichen, Eltern und alleinerziehenden Mütter in den Prozess miteingebunden. „Denn nur so“, meint Frei, „kann das Kinderdorf der sichere Ort sein, an dem Neuanfang und Weiterentwicklung möglich werden.“
Das Südtiroler KinderdorfDie Sozialgenossenschaft Südtiroler Kinderdorf wurde 1955 gegründet. Das Kinderdorf arbeitet im Jahr mit rund 400 Kindern, Jugendlichen und deren Eltern in herausfordernden Lebenssituationen und ist darüber hinaus auch bewusstseinsbildend aktiv.
Dabei arbeitet die Sozialgenossenschaft stationär in insgesamt sechs Wohngruppen für Kinder (3-8 bzw. 6-14 Jahre) und für Jugendliche (12-18 Jahre), sowie im Betreuten Wohnen für junge Erwachsene (18-21 Jahre). Im Haus Rainegg gibt es bis zu zehn Plätze für alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern.
Das Team des Kinderdorfs ist auch ambulant in der Mobilen Familienarbeit (aufsuchende Familienarbeit, Besuchsbegleitung, Besuchstreff) und mit dem Programm KIDO.IMPULS für Elternbildung präventiv tätig.
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