Plädoyer für eine Politik der guten Arbeit
Der 1. Mai. Traditionell ein Tag, an dem die Arbeitnehmer die Anerkennung ihrer Rechte feiern und einfordern. Ein im besten Sinne politischer Tag für den Wert der Arbeit und für die Arbeiter als kollektiv handelndes politisches Subjekt. Auch deshalb feiern die Gewerkschaften seit jeher und weltweit diesen Tag. Und heute? Für einen richtigen Feiertag reicht es nicht wirklich an diesem 1. Mai 2015. Nach wie vor steckt Europa in der größten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Die abhängig Beschäftigten und die sozialen Errungenschaften, die am 1. Mai gefeiert werden, geraten auch in Südtirol zunehmend unter Druck.
Die gesellschaftliche Ungleichheit nimmt zu
Wohin wir auch schauen: In den letzten Jahren haben die gesellschaftlichen Ungleichheiten zugenommen sowohl zwischen als auch in den Ländern. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass gerade diese Ungleichheiten die andauernde Wirtschaftskrise verursachen. Die Verteilung der Vermögen und Einkommen spaltet die europäischen Gesellschaften zunehmend in Arme und Reiche. Eine Abwärtsspirale aus stagnierender Nachfrage, geringeren öffentlichen Einnahmen und somit geringeren öffentlichen Ausgaben entsteht. Diese Situation schadet vor allem der Realwirtschaft – und somit Unternehmen und Beschäftigten. Die Entscheidungen auf europäischer Ebene schützen stärker denn je die Interessen des Finanzkapitals. Auch wenn man es in Südtirol nicht gerne hört: Verantwortung für die europäische Misere tragen weniger die südlichen „Krisenstaaten“, sondern vielmehr ist die neoliberal orientierte Politik Deutschlands für die Tiefe und Dauer der europäischen Krise maßgeblich mitverantwortlich.
Die rigide Sparpolitik verstärkt die Ungleichheiten
Nach wie vor werden in Europa Strukturreformen wie Deregulierung, Privatisierung, der Abbau sozialer Errungenschaften, Lohnzurückhaltung und die angeblich segensreiche Wirkung von Konkurrenz propagiert, also jene Rezepte, die die Krise mit verursacht haben und für die lange Dauer seit 2008 verantwortlich zeichnen. Die Krise der öffentlichen Haushalte führt in ganz Europa zu einer Investitionslücke: notwendige Infrastrukturen werden nicht erneuert, sozial und ökologisch sinnvolle Investitionen nicht ausreichend getätigt. Und es muss deutlich gesagt werden: Die Finanzierung von öffentlichen Infrastrukturen durch privates Kapital auf der Suche nach Renditemöglichkeiten hat sich als lukratives Geschäft für eben dieses Kapital erwiesen und als Belastung für die öffentlichen Haushalte.
Arbeit in Südtirol quo vadis?
Angesichts der wirtschaftlichen Vernetzung und der politischen Abhängigkeiten ist klar, dass Südtirol von diesen Entwicklungen nicht unberührt bleibt. Im staatlichen Vergleich mag der Arbeitsmarkt zwar stabil sein, aber auch in Südtirol ist die Erwerbstätigenquote leicht rückläufig (70,8%), die Arbeitslosenquote vergleichsweise hoch (4,4%) und die Jugendarbeitslosenquote liegt nach wie vor bei 12%. In vielen Bereichen entsprechen diese Werte in Südtirol nicht jenen, die in anderen europäischen Ländern und Regionen erzielt werden. Insbesondere bei den Frauen steigt die Teilzeitquote (42,7%), was weit über dem EU-Schnitt (von knapp 33%) liegt; bei den Männern ist der Anteil mit mickrigen 5,8% weit unterdurchschnittlich (EU: 9,8%).
Ein Sprung in die Zukunft: 1. Mai 2025. Wenn in Südtirol noch in zehn Jahren ein würdiger erster Mai als Tag der Arbeit(en) begangen werden soll, dann ist es höchste Zeit, mit der Debatte darüber zu beginnen, wie eine „Politik der guten Arbeit“ hier zu Lande aussehen kann.
1. Mehr Fairness durch eine bessere Verteilung der Arbeit. Dies betrifft sowohl die Erwerbsarbeit wie die anderen Formen der Arbeit im Haushalt und in der Pflege. Die Arbeitswelt der Zukunft wird in jeder Hinsicht vielfältiger sein; Phasen der Erwerbsarbeit werden sich mit Phasen der Weiterbildung und der Pflege etc. abwechseln; in den Betrieben werden Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters diskriminierungsfrei kooperieren. Das sind zwei große Herausforderungen, die nicht nur privat bewältigt werden können, sondern konzertierte Maßnahmen erforderlich machen: Wie können die Übergänge zwischen den Lebensphasen abgesichert werden? Wie soll die – durchaus wünschenswerte - Mobilität zwischen Arbeitsplätzen angeregt und unterstützt werden? Welche Formen der Weiterbildung etablieren sich? Wie kann Arbeit alter(n)sgerecht gestaltet werden?
2. Beteiligung an den Entscheidungsprozessen ist ein Prinzip, das auch in der Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle spielt. Auch innerhalb der Betriebe müssen Formen der Mitwirkung und demokratischen Teilhabe entwickelt und gestärkt werden. Das seit Jahrzehnten diskutierte und verfassungsmäßig vorgesehene italienische Gesetz über Partizipation ist nach wie vor ausständig; mit Initiativen auf Landesebene kann diesem Defizit begegnet werden.
3. Arbeit politisch diskutieren, aber immer mit sachbezogenen Argumenten. Entwicklungen in der Arbeitswelt – mehr und qualitativ bessere Arbeitsplätze - ergeben sich nicht von selbst. Fortschritte in der Arbeitspolitik gibt es nur, wenn die Arbeit und ihre vielfältigen Veränderungen fundiert zum Thema gemacht und auch kontrovers diskutiert werden. Eine lohnende und anspruchsvolle Aufgabe sowohl für die Gewerkschaften, aber auch für die ihnen nahestehende Einrichtungen, die sich als Kompetenzzentrum für Arbeit verstehen.
Die Geschichte des 1. Mai als Tag der Arbeit zeigt, dass es Fortschritte in der Arbeitspolitik nur gibt, wenn die Sorgen und die Anliegen der Arbeitenden beherzt und kämpferisch im Rahmen der demokratischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung vorgetragen werden.
Werner Pramstrahler, Mitarbeiter des AFI | Arbeitsförderungsinstitut. Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Meinung des Instituts.