Società | Psychiatrie

“Missstände offen ansprechen”

Menschen mit psychischen Leiden gemeinam zur Seite stehen – dafür appelliert Renate Ausserbrunner an Politik, Gesellschaft und Fachleute: “Es geht um die Würde aller!”
Tür
Foto: web

“Es besteht dringender gemeinsamer Gesprächs- und Handlungsbedarf.” Die Worte von Renate Ausserbrunner lassen keinen Zweifel offen. Die Präsidentin von “Ariadne – für die psychische Gesundheit aller” ist besorgt. Und das salto-Gespräch vom vorigen Sonntag hat sie bestärkt, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Delikates Zusammenspiel

Ins Leben gerufen 1989 von Familienmitgliedern psychisch kranker Personen, setzt sich der Verband “Ariadne” für deren Belange ein. “In den 80er Jahren sahen sich diese Familien isoliert und allein gelassen, Hilfe gab es kaum, weder von öffentlicher Seite noch sonstigen Diensten und Strukturen”, liest man auf der Webseite des Verbands.
Dessen oberstes Ziel ist es, sich für Personen mit psychischen Leiden und deren Familien einzusetzen und “die geeigneten Voraussetzungen für ein autonomes und die Würde respektierendes Leben der Betroffenen innerhalb der Gesellschaft” zu schaffen.
Voraussetzungen, die in Südtirol nicht immer erfüllt werden – in einem Land, in dem bis heute der Elektroschock, mechanische Zwangsfixierung und farmakologische Therapien “jenseits jeglicher Vernunft” im Umgang mit psychisch Kranken eingesetzt werden. Daran hatte jüngst Beppe Dell’Acqua im Gespräch mit salto.bz erinnert. Der Triester Psychiater ist einer der Mitstreiter von Franco Basaglia im Kampf um die Schließung der gerichtlichen psychiatrischen Krankenhäuser, der OPG (“ospedali psichiatrici giudiziari”). Jahrelange Erfahrung hat Dell’Acqua gelehrt, dass die beste Arbeit von psychiatrischen Diensten geleistet wird, die sich an den betroffenen Personen orientieren und sie nicht als Objekt sondern als Subjekt betrachten. Funktioniere das Zusammenspiel zwischen Familie, Ärzten, Psychologen, Krankenhauspersonal, öffentlichen Diensten und den Patienten, könnten auch obligatorische Heilbehandlungen vermieden werden, so Dell’Acqua. Zu dieser Maßnahme (“trattamento sanitario obbligatorio”, TSO), die einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie gleichkommt, wird im Normalfall dann gegriffen, “wenn eine therapeutische Behandlung von Personen verweigert wird, die derartige psychische Störungen aufweisen, dass sie sich selbst oder anderen Schaden zufügen könnten, und es nicht möglich ist, die notwendigen Maßnahmen rechtzeitig außerhalb des Krankenhauses zu treffen”. So steht es auf der Homepage der Stadt Bozen. Dort hat Bürgermeister Caramaschi jüngst die besorgniserregend hohe Anzahl von obligatorischen Heilbehandlungen angesprochen.

Gemeinsam mehr tun

Für Renate Ausserbrunner nur eine Entwicklung, bei der es näher hinzuschauen gelte. Eine Landtagsanfrage der Grünen im Herbst 2016 hat ergeben, dass zwischen 201 und 2015 die Zwangsmaßnahmen in einigen psychiatrischen Strukturen des Landes – wie etwa die physische Ruhigstellung – zum Teil angestiegen sind. Zugleich mit der Fixierungsdauer der Patienten.  
Bei “Ariadne” erachtet man es daher, wie auf nationaler Ebene auch, als notwendig, ein Beobachtungskomitee einzurichten, um auf Missstände in der Psychiatrie hinzuweisen.

Auf der Jahrestagung des Landesethikkomitees im kommenden Herbst will man dieses Thema einbringen, kündigt Ausserbrunner an. Sie fordert eine offene und öffentliche Auseinandersetzung – einen “Trialog” zwischen Patienten, Angehörigen und Experten, “jenseits von Angst und Abhängigkeiten”, so die Verbandspräsidentin. “Außerdem”, fährt sie fort, “braucht es Ergänzungen und Alternativen zu den bestehenden Angeboten und Arbeitsstrukturen: eine Ausweitung der ambulanten Dienste auf 24 Stunden und 7 Tage die Woche, einen Krisendienst, Peer-BeraterInnen und GenesungsbegleiterInnen, Treffen mit PatientInnen, Angehörige, Profis und allen interessierten BürgerInnen – einen Open Dialogue, wie er in Finnland praktiziert wird.” Und nicht zuletzt: “Politische Bewusstmachung.”
“Es besteht dringender gemeinsamer Gesprächs- und Handlungsbedarf, weil es um die Würde aller geht und darum, alles zu tun, um die Anzahl und Dauer von Zwangsmaßnahmen zu reduzieren und möglichst überflüssig zu machen. Und dazu braucht es den gemeinsamen Einsatz von Politik, Fachleuten, Gesellschaft, ganz einfach uns allen!”, schließt Ausserbrunner ihren Appell. Bleibt abzuwarten, ob er gehört wird.