Ungehorsame Pflanzen
-
Einheimisch und exotisch – zwei Begriffe, die sich scheinbar gegenüberstehen. Als Menschen tendieren wir dazu, alles einzuordnen und in Kategorien zu stecken. So wird Wissen verallgemeinert, der breiten Masse zugänglich und verständlicher gemacht. Was geht dabei aber verloren? Welche Sachverhalte werden gänzlich aus dem Kontext gerissen? Welche Beziehungen und Geschichten gehen zugunsten des allgemein Gültigen verloren?
Wo ist man zuhause, wenn man überall “der*die Andere” ist? Wo liegen die eigenen Wurzeln, wenn man exotisch ist, ein Körper im Exil, und nirgends richtig “einheimisch”?
-
Solchen Fragen widmet sich Alexandra Gelis in ihrer Residenz bei Kunst Meran Merano Arte (Juni-September 2025). Als Resultat monatelanger Arbeit entsteht Six Movements in a Disobedient Garden. Es ist ein Werk, welches durch Klang, Video und Skulptur realisiert und durch eine Performance präsentiert wurde. Als disobedient, also ungehorsam, werden dabei einheimische und exotische Pflanzen in Südtirol bezeichnet, die sich durch ihre Herkunft, Migration und Symbiose miteinander nicht nahtlos in ein allgemeingültiges, vereinfachtes Weltbild einfügen, sondern durch ihre Geschichte, gesellschaftlichen Wert und Dissonanzen herausstechen und gesellschaftliche, wie auch naturwissenschaftliche Reibungspunkte provozieren.
-
Alexandra Gelis (aufgewachsen in Venezuela und Kolumbien und lebt und arbeitet zwischen Kanada, Panama, Kolumbien und Costa Rica) prägt selbst auch eine reiche Migrationsgeschichte, in welcher sie sich ständig mit der Frage der Herkunft, Heimat und Zugehörigkeit konfrontiert sieht. Wo ist man zuhause, wenn man überall “der*die Andere” ist? Wo liegen die eigenen Wurzeln, wenn man exotisch ist, ein Körper im Exil, und nirgends richtig “einheimisch”? Diese fluide und vielschichtige Identität, welche nicht nur uns als Menschen betrifft, sondern darüber hinaus in die Pflanzen-, Tier-, und mineralische Welt hineinreicht, ist die Grundlage ihrer Arbeiten der letzten Jahre. Diese Serie von Arbeiten nennt Gelis Plants and Resistance (Pflanzen und Widerstand), in welche sich auch dieses Werk an- und einreiht. Ihre Arbeiten sind für Alexandra Gelis immer auch in Bewegung (movement) und niemals abgeschlossen. Sie sind immer auch Teil der sich bewegenden und verändernden Pflanzenwelt und zudem Teil dessen, wie wir sie als Menschen und Gemeinschaft (community) pflegen, ihnen Wert geben oder absprechen und sie in unsere Geschichten, Erzählungen und Gebrauch einweben.
-
In Six Movements in a Disobedient Garden arbeitete Alexandra Gelis eng mit dem Botaniker Thomas Wilhalm und dem Anthropologen und Linguisten Johannes Ortner zusammen, mit Hilfe derer sie die Benennung von Pflanzen als Gegenstand ihrer Arbeit erforschte. Das Namen-Geben in verschiedenen Sprachen und ihren Dialekten ist immer auch ein Akt der Fürsorge - wir entscheiden als Gemeinschaft, welche Pflanzen Sichtbarkeit und Wert tragen, welche als Unkraut angesehen werden, ob wir ihnen gute oder schlechte Eigenschaften zuschreiben. Wir verbinden sie immer auch mit Geschichten, die über Generationen weitergetragen wurden. Es gibt in verschiedenen Gebieten Südtirols verschiedenste mundartliche Namen in deutschen, italienischen und ladinischen Dialekten, welche dieselben Pflanzen bezeichnen, und dennoch verschiedenste Assoziationen auslösen. So bezeichnet man beispielsweise den Löwenzahn (lat. Taraxacum) als Zigori (m., u. a. Meran), Wisasoulat (m., Langtaufers), Fåckaploam (f., u. a. Prad) oder auch Rearlkraut (n., u. a. Ritten).
Die Baumalleen in Meran, welche in der Kurzeit der 1860er Jahre erschaffen wurden, bestehen aus Platanen, die auf die Stämme schon bestehender Bäume gepelzt wurden.
-
Magnolie, Olivenbaum, Bambus, Chinesische Hanfpalme, Aloe. Diese Arten, und noch mehr, beleben das Stadtbild von Meran und sind exotisch: aus dem Ausland eingeführt, aber nie ganz akklimatisiert. Die Baumalleen in Meran, welche in der Kurzeit der 1860er Jahre erschaffen wurden, bestehen aus Platanen, die auf die Stämme schon bestehender Bäume gepelzt wurden. Sie wuchsen schneller als die einheimischen Bäume und sollten von kaiserlichem Prestige zeugen. Somit wurde eine Vereinigung von Einheimischem und Exotischem geschaffen. Ihre Geschichte ist heute noch an den wulstigen Nähten an ihren Stämmen sichtbar, die Narben ihrer Verbindung.
-
Alexandra Gelis verbrachte auch sehr viel Zeit in den Bergen, um sich mit einheimischen Alpenpflanzen auseinanderzusetzen. Sie war vor allem im Martelltal und in den Dolomiten unterwegs: dort entstand das Videomaterial für den Filmessay, welcher Teil der Performance war.
Technologie, organisches Material und Gemeinschaft traten so in Bewegung und Symbiose miteinander und formten einen Chorus.
Gelis arbeitete mit den Stadtgärtner*innen Anni Schwarz und Stefan Dosser zusammen, welche ihr umfangreiche Einblicke in die Gärten von Meran ermöglichten. Aus diesen Gärten durfte sie Pflanzen als Material für ihre Skulpturen sammeln, die sie in der Performance einsetzte. Dabei fertigte sie geflochtene Matten aus Kräutern an, auf welche sich die Teilnehmer*innen der Performance setzten. Sie flocht lange Bänder aus Kräutern, die als Erweiterung der Pflanzen in Form von symbolischen Wurzeln galten, welche die pflanzliche und gesellschaftliche Landschaft Südtirols verbanden. Ihnen wurde damit ermöglicht, über die Erfahrung des Sehens und Hörens zusätzlich noch die Erfahrung des Fühlens und Riechens zu erleben. Darüber hinaus setzte Alexandra Gelis ein Lesegerät ein, welches sie über die Bilder des Videos hielt und zuvor aufgenommene Stimmen von italienisch-, deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler*innen wiedergab. Sie erzählten von den mundartlichen Bezeichnungen der Pflanzen und ihrer Beziehung mit ihnen. Technologie, organisches Material und Gemeinschaft traten so in Bewegung und Symbiose miteinander und formten einen Chorus. -
In der Performance vollziehen sich Six Movements, also sechs Bewegungen, im Sinne von sechs Kapiteln, in welchen eine Geschichte der Migration, Verbindung, Zusammenarbeit, Möglichkeit und Widerstand bis hin zu einem “blühenden Pluriversum” (A Pluriverse in Bloom) erzählt wird. Die Bewegungen vollziehen sich dabei in jedem Kapitel in verschiedenen Rhythmen, wobei jedes seine eigene Atmosphäre und Klanghaftigkeit hat. Begleitet von aus osteuropäischem Erbe stammenden Gesängen von Adriana Ghimp und einem literarischen Text führte Alexandra Gelis durch das Dickicht von pflanzlichen, menschlichen und geschichtlichen Beziehungen. Zusammen bildet alles eine vielstimmige Erzählung.
Das Unterschwellige tritt zutage und ein Garten wird ungehorsam...
Die Themen der Performance zeugen von einem menschengemachten, lebendigen Archiv. Gelis sieht es als ein “Herbarium der Möglichkeiten” (possibilities), welches im Gegensatz zu klassischen Herbarien nicht die Verallgemeinerung, Verwissenschaftlichung und den damit einhergehenden Ausschluss des Nicht-Relevanten praktiziert, sondern im Sinne des alpinen Widerstands (alpine Resistance) eine Vielfalt erzeugt und das Schweigen des Ausgeschlossenen bricht. Das Unterschwellige tritt zutage und ein Garten wird ungehorsam (disobedient) gegenüber den kolonialen Taxonomien (Einordnung in systematische Kategorien). -
In diesem Plutiversum von Pflanzenbeziehungen werden bestehendes Wissen, Sprache und Beziehung zum Werkzeug der Sichtbarkeit. Es dient zur Infragestellung und Aufgliederung von Kategorien und plädiert für eine Gemeinschaft, die auch das Nicht-Menschliche als Gleichwertig in die Gesellschaft mit einbezieht und Gemeinschaften in Symbiose miteinander sieht.
Ihre Namen vervielfältigen sich
Ihre Geschichten entfalten sich.
Ihr Schweigen bricht.Ein Herbarium wird zu einem Chor.
Ein Archiv wird zu Widerstand.
Ein Garten – ungehorsam.
(aus Six Movements in a Disobedient Garden, Begleitheft zur Performance, 2025) -
Articoli correlati
Culture | Kunst MeranZwischen Erde und Erbe
Arts | ArchitekturErbauliche Aussichten?
Culture | MeranDie öffentliche Hand kauft das Kunsthaus
Acconsenti per leggere i commenti o per commentare tu stesso. Puoi revocare il tuo consenso in qualsiasi momento.