Cultura | Salto Afternoon

Blick in beide Richtungen

An jedem letzten Tag des Jahres feiert der Schriftsteller Sepp Mall seinen Geburtstag. Seit 1955. Zu seinem 65sten hat Salto gratulierend nachgefragt.
Sepp Mall3
Foto: Werner Hanni

salto.bz: Sie feiern heute ihren 65. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! Ihr Geburtsdatum suggeriert irgendwie Rückblickendes… Wie ordnen Sie Ihr spezielles Geburtsdatum ein?

Sepp Mall: Danke! Ich habe diesen Silvestergeburtstag immer als Datum des Überganges gesehen, janusköpfig sozusagen, vom alten Jahr ins neue mit dem gleichzeitigen Blick in beide Richtungen. So etwas wie eine Schwellensituation, das Vergangene sortierend und das Zukünftige offen erwartend. Lustig, dass neben dem Datum auch meine Geburtsgemeinde diese Übergangssituation in sich trägt, als Wasserscheide zwischen Etsch und Inn und gleichzeitig als Staatsgrenze. Aber ich will das Ganze auch nicht überinterpretieren…

Man sah halt ganz deutlich, dass Kunst und Kultur in Südtirol nicht besonders wichtig sind und keine Lobby haben.

Sie sind im Dorf Graun am Reschensee aufgewachsen. Welche Bedeutung hat dieser in den vergangenen Jahren medial aufgewertete Ort für Sie heute?

Mittlerweile sind meine Bezüge zu Graun äußerlich recht lose geworden, meine Geschwister leben noch in dem 400-Seelen-Dorf und ich komme drei-viermal im Jahr dorthin. Gleichzeitig aber ist das der Ort, wo meine gesamte Kindheit vergraben ist, ein Erinnerungsort, und daneben ein Ort mit grandioser Landschaft. Die Seen, die Kargheit der Umgebung und die Abgeschiedenheit haben es mir immer noch angetan, aber auch das Drama der Seestauung und Vertreibung, gerade fünf Jahre vor meiner Geburt, ist in meiner Seele präsent. Die mediale Aufwertung kann ich nachvollziehen, sehe sie aber doch mit einiger Skepsis. Es wär furchtbar schade, wenn aus dem Oberland ein Hotspot ähnlich wie der Pragser Wildsee werden würde. 


Wann haben Sie Ihr erstes Gedicht geschrieben? Was war der Anlass?

Mein allererstes Gedicht ist im Johanneum-Internat in Dorf Tirol entstanden, für einen literarischen Schülerwettbewerb, den der dortige Deutschlehrer und Literatur-Aficionado Alfred Gruber für die Johanneumzöglinge ins Leben gerufen hat. Ich war da schätzungsweise fünfzehn oder sechzehn. Und ich habe keine Ahnung mehr, was das für ein Text war, kann sein, dass er sogar irgendwo noch im Alfred-Gruber-Nachlass versteckt ist. Möge er doch weiterhin verborgen bleiben!

Sie hatten gerade mal ein Viertel Jahrhundert gelebt, als sie mit anderen Mitstreitern, die AutorenInnen-Gewerkschaft“ SAV ins Leben riefen. Wie erinnern Sie sich an diese Geburt?

Nach meiner Erinnerung ist die Entstehung der SAV vor allem dem vor 10 Jahren allzufrüh verstorbenen Autor und Schriftsetzer Georg Engl zu verdanken. Er hatte in Wien studiert und kannte einige aus der engagierten linken Literaturszene der österreichischen Hauptstadt. Wir waren eine kleine Gruppe mit ähnlich aufrührerischen Gedanken, Joseph Zoderer war anfangs dabei, Gerhard Mumelter wurde der erste Vorsitzende, auch einige andere, die heute nicht mehr schreiben. Kurt Lanthaler stieß bald dazu, auch Werner und Klaus Menapace und Josef Oberhollenzer. Es ging uns vor allem darum, der Literatur in Südtirol eine starke Stimme zu geben. Wir fühlten uns vom Kreis der Autoren im Künstlerbund nicht vertreten, wir wollten Sprachrohr gegenüber dem Land sein, eine Art Gewerkschaftsvertretung aller Autoren und Autorinnen, wir forderten Arbeitsstipendien, neue Veröffentlichungsmöglichkeiten waren uns ein Anliegen. Allmählich wurden wir auch ernst genommen und die Künstlerförderung, die es heute gibt, geht in erster Linie auf den damaligen Kampf der SAV zurück.

 

Sie wurden zum diesjährigen Welttag des Buches von der italienischen UNESCO-Kommission für Ihr literarisches Schaffen geehrt. Ihr Roman „Wundränder“ wurde somit –  neben Joseph Zoderers „Die Walsche“ – zu einem offiziellen Klassiker Neuer Südtiroler Literatur erhoben. Ist „Wundränder“ auch für Sie selbst das wichtigste Buch?

Das wichtigste Buch ist mir immer das, an dem ich grad schreibe. „Wundränder“ ist aber ohne Zweifel mein erfolgreichstes Buch. Nach der Hardcover-Ausgabe wurde es als Taschenbuch aufgelegt, mittlerweile in der 6. Auflage. Später kam dann noch die italienische Übersetzung von Sonia Sulzer, die vor 6 Jahren bei kellereditore in Rovereto erschienen ist. Und was mich erstaunt - ich werd immer noch eingeladen, aus diesem Buch, das jetzt schon 16 Jahre auf dem Buckel hat, zu lesen. Die größte Enttäuschung habe ich allerdings auch mit „Wundränder“ erlebt. 2016 hatten sich eine Südtiroler und eine Wiener Produktionsfirma zusammengetan, um das Buch zu verfilmen. Ich war insofern beteiligt, als ich zusammen mit dem angeheuerten Regisseur am Treatment mitgeschrieben habe. Leider hat die IDM zweimal den Antrag um Förderung der Produktionsentwicklung rundweg abgelehnt. Filmland Südtirol, halt …

 

Der Poet Sepp Mall überraschte 2004 erstmals mit einem Roman. Wie ist es dazu gekommen? 

Ich hatte mich schon länger mit dem Thema der Südtiroler 60er Jahre beschäftigt und damit, wie ich dieses Sujet mit meinen literarischen Mitteln bewältigen könnte. Es war klar, dass das mit Gedichten, wie ich sie schreibe, nicht machbar ist, aber ich hatte ja schon Erfahrung mit längeren Prosatexten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits meine Erzählungen „Verwachsene Wege“ und „Brüder“ bei Haymon erscheinen gewesen, auch hatte ich immer schon neben Gedichten kleinere Prosatexte geschrieben. Der Weg zum Roman war dann nur noch ein Schritt, eine folgerichtige Entwicklung. Wobei man nebenbei bemerken muss, dass Verlage heutzutage auf fast alles, was mehr als 100 Seiten hat, gerne Roman draufschreiben. 

In "Wundränder" legten Sie auch Ihre Passion für das Fußballspiel offen. Was ist von dieser Passion noch geblieben?

Die Passion für das Fußballspiel habe ich vor allem einer meiner Hauptfiguren, dem 12jährigen Paul auf den Leib geschrieben. Es hat ja eine schöne Symbolik, wenn der Sohn eines Südtiroler Aktivisten davon träumt, an der Hand des italienischen Fußballgotts Sandro Mazzola in das San-Siro-Stadion in Mailand einzulaufen, um dort den Anstoß vorzunehmen. Meine persönliche Beziehung zum Fußball ist recht passiver Natur, ich schau mir gern, wenn es so weit ist, einige WM-Spiele an und lese am Montag in den Zeitungen, wie meine Lieblingsmannschaft gespielt hat. Für einen Autor, dessen Hauptfiguren meist männlich sind, schien mir das Fußballspiel nicht unwichtig, um diese Figuren zu charakterisieren. In diesem Sinne kommt irgendetwas mit Fußball in allen drei meiner ersten Prosatexte vor. Tempora mutantur – in meinen letzten Romanen, weder in „Berliner Zimmer“ noch in „Hoch über allem“, findet sich kein einziger Ball mehr. Auch in dem Roman, an dem ich zur Zeit arbeite, sieht es bisher nicht danach aus…

 

Sie waren in all den Jahren auch Mentor und Förderer junger literarischer Talente. Das ist nicht alltäglich, scheint Ihnen aber Spaß gemacht zu haben…

Das ist mir nach wie vor wichtig. Junge Leute zu unterstützen, denen Kreativität und die Suche nach sprachlicher Schönheit ein wirkliches Anliegen sind. Und es macht durchaus Freude, mit anderen über Texte zu reden, über das, was gut ist und das, was man verändern könnte. Und wie und mit welchen Mitteln man das anstellen könnte. All das bringt einen auch dazu, das eigene Handwerk zu reflektieren und immer wieder zu überprüfen. 

Finanzielle Förderung ist wichtig, und da ist Südtirol ja nicht ganz schlecht aufgestellt, aber das allein ist zu wenig.

Die Lehrertätigkeit lief immer parallel zu Ihrer Arbeit als Schriftsteller. War das eine nie dem anderen im Weg?

Doch, immer wieder einmal. Vor allem in zeitlicher Hinsicht. Aber ich habe das nie als großes Problem gesehen. In einem bestimmten Sinne haben sich diese beiden Berufe gegenseitig auch befruchtet oder ausgleichend gewirkt. Aus meinem Schreiben habe ich einiges für den Unterricht mitnehmen können und der Kontakt mit meinen Schülern und Lehrerkollegen und Kolleginnen war mir oft willkommener Ausgleich zur Einsamkeit der Schreibkammer.

Wie haben Sie das Covid-19 Jahr erlebt. Als Lehrer, der gleichzeitig als Künstler arbeitet, wurden sie von der Politik sträflich vernachlässigt. Ist die Südtiroler Kulturpolitik eine Tragödie oder Komödie?

Ich war froh, dass ich in dieser Zeit nicht von der Literatur allein leben musste. Ich hatte mein Teilzeitlehrergehalt und dann die Landesbeihilfe und kam über die Runden. Aber all die Künstler, Schauspieler und Kulturarbeiter, die keinen Brotjob hatten, die haben mir wirklich leid getan. Man sah halt ganz deutlich, dass Kunst und Kultur in Südtirol nicht besonders wichtig sind und keine Lobby haben. Das sind die Tatsachen. Aber das liegt wohl eher an der Südtiroler Gesellschaft als an der Kulturpolitik, deren Aufgabe es jedoch auch wäre, die Marginalisierung der Kunst aktiv, das heißt mit aller Kraft und allen Mitteln, zu bekämpfen. Finanzielle Förderung ist wichtig, und da ist Südtirol ja nicht ganz schlecht aufgestellt, aber das allein ist zu wenig.

 

Sie haben sich mit der Online-Lesung zu ihrem jüngsten Gedichtband „Holz und Haut“ für das Literaturhaus Innsbruck auf das virtuelle Parkett begeben. Haben Sie selbst auch an anderen virtuellen Leseabenden teilgenommen? Wie stehen Sie zu den neuen Veranstaltungsangeboten?

Schreiben ist ja ein Metier, das fast per se zur sozialen Isolation führt. Lesungen sind Gelegenheiten, wo diese Isolation aufgehoben ist, wo ein Autor seine Leser trifft und auch die Wirkung seiner Texte an der Reaktion eines Publikums überprüfen kann. Online-Lesungen sind interessante Formate, aber ich sehe sie als Notlösungen, nicht viel mehr. Ich habe als Zuschauer an Diskussionen, etwa bei der Frankfurter Buchmesse, oder bei Buchpräsentationen des alpha-beta-Verlages teilgenommen und mich durchaus gefreut, dass ich das alles erleben konnte, ohne meine Hintern aus dem Meraner Sessel zu erheben. Bequem halt, aber live dabei sein ist was anders.

Ein Gedicht im neuen Buch nennt sich Holzwege. Welcher Holzweg hat Sie am meisten geprägt?

Beim Schreiben geht man dauernd Holzwege. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich in einem Gedicht schon umgekehrt bin, weil ich irgendwann gemerkt habe, dass der eingeschlagene Weg nirgendwohin führt. Dann geht man Wort für Wort zurück, versucht einen neuen Weg, immer wieder, bis man dahin kommt, wo man glaubt, dass es stimmt. Um dann vielleicht zu sehen, dass man doch hätte besser mit dem Kopf voraus durch das Dickicht stürmen sollen...

Was macht Sepp Mall am 1. Jänner 2021?

Vielleicht schaffe ich es, gemeinsam mir meiner Frau einen Spaziergang im Schnee zu machen, bestimmt werden wir aufatmen, dass wir 2020 hinter uns haben. Datumsmäßig zumindest. Auf alle Fälle werden wir uns wünschen, dass 2021 ein lichteres Jahr wird als das letzte, das auch jenseits von Corona für uns ein Schreckens- und Trauerjahr war.