Tlo bën identità!
Das Gedicht bzw. Wortspiel ën sënn (Jetzt Zorn) im Sinne des journalistischen Schlagwortes der 1950er und 1960er-Jahre der Angry Young Men-Bewegung, die damals die Unzufriedenheit mit dem Status quo und die Klassenkonflikte thematisierte, verstehe ich heute als Zorn auf die Versäumnisse und die Vernachlässigung sprachlicher Belange in Ladinien.
Hautfarbe und Akzent
Ich habe keine andere Hautfarbe, ich bin weder schwarz, gelb noch rot, meine Haare sind nicht kraus, ... und ich gehöre nicht einer vernachlässigten Unterschicht an. Meine Statur ist zwar klein, aber es gibt in Südtirol viele kleine Menschen – schließlich sind die Südtiroler auch Bergler. Trotzdem werde ich bis heute nach den ersten deutschen Worten von Südtirolern gefragt: „Sein Sie aus Greden?“ Es muss wohl an meinem kratzenden -R- liegen. Als Mädchen habe ich stundenlang geübt, das -R- zu rollen, indem ich mir Wörter wie „rana“ vorsagte, aber umsonst. Wir Grödner, zumindest die meisten, können das -R- nicht so wie die Badioc/Gadertaler, mit der Zunge rollen. Einstmals galt das kratzende -R- als städtisch und vornehm und das rollende -R- als ländlich und berglerisch, das man zu verbergen versuchte. Dies hat sich heute wohl ins Gegenteil gewendet.
Mein Akzent ersetzt die Hautfarbe, und bei der Identifizierung des Andersartigen kommt es immer auf den Takt an, ob man ein Wohlwollen und ehrliches Interesse spürt oder ob man sich ausgegrenzt und beleidigt fühlen soll. Doch sobald ein persönlicher Kontakt hergestellt ist, kurz gesagt, man zusammen ein Bier trinkt, kann das Gegenüber schon nicht mehr pauschal urteilen und muss differenziert denken. Und wenn man die Dinge differenzierter betrachtet, wie Herta Müller es in einem Interview hervorhob, ist es kaum noch möglich, plakative Vorurteile zu äußern. Ijoma Mangold, väterlicherseits Nigerianer, Autor und einer der bedeutendsten Literaturkritiker Deutschlands sowie Literaturchef der Wochenzeitung „Die Zeit“, sagt, dass vieles an seinem Verhalten als Reaktion auf sein Aussehen zu erklären sei. Ist unsere Identität demzufolge einfach nur die Gesamtheit der Adaptationen an die äußere Umgebung? Mangolds Strategie ist: Sofort in einem übertrieben gestochenen Hochdeutsch zu sprechen, um damit soziale Verachtung auszuschließen. Und auf den deutsch-israelischen Literaturtagen 2013, an denen der Satz formuliert wurde, Identität sei, „was andere aus dir machen“, entgegnete Eva Menasse: „Ich weigere mich dagegen, mich vor anderen bekennen zu müssen“.
In eine Hautfarbe oder in eine Sprachgruppe wird man ungefragt hineingeboren. Man wird nicht gefragt, ob man Lust habe, sein Leben lang diese Gruppe zu verteidigen. Es ist wie eine Pflicht, die einem aufoktroyiert wird, sich, wie Mangold sagt, „Member of the Club“ zu fühlen. Mangold zieht es vor, ein Weltbürger zu sein und nicht ein Repräsentant einer bestimmten Gruppe. Als Frau ergeht es mir oft ähnlich. Ich bin Frau, weiß um die Missstände, die Frauen widerfahren, kann mich voll und ganz als Feministin bezeichnen, will mich aber nicht immer nur und ausschließlich als Feministin äußern, denn ich bin mehr. So bin ich auch als Ladinerin noch etwas anderes als „ladina“, hoffe ich zumindest. Es ist mühsam und vor allem einschränkend, wenn ich ausschließlich auf mein Ladinerinsein reduziert werde: „Na, wie geht es dem Ladinischen?“ ist bei vielen Südtirolern, wenn auch gut gemeint, ein Standardsatz. Ich bin es leid, wenn bei mir nach einer literarischen Lesung kein textbezogener Dialog entsteht, sondern mir lediglich die Frage gestellt wird: „Wie viele Stunden wird in der Schule Ladinisch unterrichtet?“ Inwieweit bin ich verpflichtet, zum Sprachrohr oder zur Botschafterin meines Bergtales zu werden?
Ortstafeln
Nichtsdestotrotz kann ich mich durchaus echauffieren, wenn ich auf Wanderungen Ortstafeln sehe, auf denen der italienische Name oder der vermeintlich italienische Name, der oft ein ladinischer und daher ein vorgermanischer ist, von deutschtümelnden Fanatikern schwarz übermalt ist. Oder wenn im Dokumentations-Zentrum unter dem Siegesdenkmal von faschistischen Worterfindungen die Rede ist, die laut den Ausstellungsmachern von Tolomei ungeschickt aus dem Deutschen ins Italienische übersetzt worden seien, obwohl es sich hierbei des Öfteren um autochthon ladinische Toponyme handelt, wie z.B. Braies für Prags.
Oder schließlich, wenn gegen die Italianisierung der Familiennamen zur Faschistenzeit in Ladinien, wie etwa Kostner zu Costa, Wanker zu Pancheri usw. gewettert wird, während es sich hierbei oftmals um Belege handelt, die bereits früher aus dem Romanischen ins Deutsche übersetzt worden sind. So wurde beispielsweise Da Banch zu Wangger-Wanker, Paratoni zu Perathoner usw. „Es gibt keine ethnische Reinheit“, sagt der slowenische Autor Goran Vojnovi. Im Roman „Unter dem Feigenbaum“ liest man wie sich heutzutage Grenzen und Nationalitäten verschieben.
Identität ist Übereinstimmung
Identität heißt doch personale Übereinstimmung. Doch mit wem oder mit was? Mit dem Nachbarn in Gröden, weil er auch Ladiner ist? In mancherlei Hinsicht fühle ich mich ihm diametral entgegengesetzt. In vielen Belangen denken wir über kaum etwas auch nur annähernd ähnlich, obwohl wir beide ladinisch sprechen. Vor ein paar Jahren habe ich in Bruneck die aus Südkorea stammende, in Deutschland aufgewachsene und heute in Österreich lebende Schriftstellerin Anna Kim kennengelernt, und wir verstanden uns auf Anhieb. Wenn Identität als Wechselspiel von „Dazugehören“ und/oder „Abgrenzen“ definiert werden kann, dann würde ich mich mit Anna Kim und nicht mit einem beliebigen Grödner Nachbarn identisch fühlen. Abgesehen davon, leben wir heute alle in einer „elektronischen Diaspora“, wie der israelisch-österreichische Autor Doron Rabinovici vermerkt. Wir sind alle medial mit der Welt der anderen vernetzt. Die Suche nach ursprünglicher Herkunft sei ein Luxusproblem.
Identitätszugehörigkeit als Gefahr
Identitätszugehörigkeiten können durchaus zu einer Gefahr werden. Ijoma Mangold7 weist darauf hin, dass Angehörige einer Minderheit in einen Opferwettbewerb geraten können, dem man misstrauen muss und der von Seiten der Minderheiten zu Selbstgerechtigkeit führen kann. Er geht sogar so weit, die Mehrheit gegenüber der Minderheit zu verteidigen, da man ihr gänzlich das Urteilsvermögen abspreche, über Belange von Angehörigen einer Minderheit zu urteilen.
Der Doppelpass für Südtiroler
Ja, gerne hätte ich noch einen Pass, aber nicht den österreichischen, sondern einen interessanteren, oder wie man heute auf Neudeutsch sagt: einen spannenderen: den russischen oder gar einen arabischen. Den österreichischen brauche ich nicht, denn Österreich ist für uns Südtiroler doch problemlos zugänglich. Abgesehen davon, habe ich doch schon einen mir fremden Pass. Soll ich noch einen weiteren beantragen? Unsere Politiker haben es nicht einmal geschafft, uns die geplante und genehmigte ladinische Identitätskarte drucken zu lassen, geschweige denn einen eigenen Pass, wie die Deutschsüdtiroler ihn für sich einfordern. Der italienische Pass ist meiner Identität gleich fremd, wie es der neue österreichische wäre. Einige Politiker glauben sogar in unserem Namen zu sprechen, wenn sie uns Ladinern zumuten, dass wir uns mit einem österreichischen Pass endlich vertreten zu fühlen hätten. Doch hierin irren sie sich. Wir Ladiner werden nicht einmal gefragt und einfach „mitgemeint“. Welche Bedeutung hat denn die Sprache meines Passes in meiner Tasche, wenn meine Muttersprache in ihren wesentlichen Belangen gering geschätzt und vernachlässigt wird?
Meine Identität
Seit meinem 14. Lebensjahr lebe ich außerhalb Ladiniens, und für mich ist inzwischen „Die Sprache das Haus meines Seins“ geworden. Sprache jenseits bloßer Kommunikation, Sprache als erhöhendes Mittel, Sprache als Kunst. Generell scheint die alte Losung „Die Sprache als Haus des Seins“ von Martin Heidegger ein gemeinsamer Nenner von Autoren zu sein. “Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.” All die Fragen nach Herkunft, Religion, Kultur und Staatsangehörigkeit lassen sich darin zusammenführen, sodass für das Denken die Sprache das Zuhause und die Literatur die Heimat ist. So auch für mich.
Salto in Zusammenarbeit mit KULTURELEMENTE