Politica | Selbstbestimmung

Grenzen der Demokratie?

Plädoyer für eine Wiederannäherung von Südtiroler Linken und Liberalen mit dem Selbstbestimmungsrecht;
von Simon Constantini, Sigmund Kripp und Marco Manfrini
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Vor wenigen Monaten ist das Buch „Kann Südtirol Staat?“ erschienen, das sich mehr als hundert Jahre nach der Annexion durch Italien ausführlich mit der Idee eines unabhängigen Südtiroler Staates beschäftigt. Die Publikation befasst sich auch mit der grundsätzlichen Frage, wie weit die Forderung nach politischer Mitbestimmung gehen soll und was Demokratie im vereinten Europa des 21. Jahrhunderts eigentlich darf.

Das Buch hat in der Südtiroler Medienwelt einigen Staub aufgewirbelt. Am kommenden Mittwoch, den 2. August, wird es im „Ost West Country Club“ in Meran vorgestellt und diskutiert. Diese Veranstaltung bietet auch die Gelegenheit, einen neuen Dialog zwischen dem Universum der Südtiroler Linken und Liberalen und dem Thema Selbstbestimmung zu beginnen.

Dieses Verhältnis ist derzeit gestört und mit manchem Vorurteil behaftet. Dass das nicht so sein muss, lässt sich auch rückblickend feststellen, da es für lange Zeit beachtliche Schnittmengen zwischen Linken, Liberalen und BefürworterInnen der Selbstbestimmung gab.

Zunächst soll mit zwei verbreiteten Irrtümern und Missverständnissen aufgeräumt werden.

Erstens: Auch heute haben nicht alle linken und liberalen SüdtirolerInnen Schwierigkeiten mit dem Thema Selbstbestimmung. Dies gilt sogar sprachgruppenübergreifend, denn manchmal sind es sogar italienischsprachige MitbürgerInnen, die einen völlig natürlichen Zugang zu dem Thema haben und am unverkrampftesten damit umgehen.

Das Buch „Kann Südtirol Staat?“ selbst ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Recht auf Selbstbestimmung auch in Südtirol durchaus im linken und liberalen politischen Denken vertreten ist, denn mehrere AutorInnen rechnen sich ausdrücklich diesem Lager zu.

Zweitens: Die Forderung nach demokratischer Selbstbestimmung ist nicht mit dem Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit oder gar dem Ziel der Wiedervereinigung mit Österreich gleichzusetzen.

Selbstbestimmung bedeutet zuallererst, den Menschen die Möglichkeit einzuräumen, frei über ihre gemeinsame Zukunft nachzudenken und zu entscheiden. Die Selbstbestimmung ist also nichts anderes als Demokratie.

Demokratiepolitisch ist es weder nachvollziehbar noch schlüssig, wenn links oder liberal denkende Menschen die Entscheidung über die staatliche Zugehörigkeit lieber undurchsichtigen Verhandlungen in Hinterzimmern der Macht oder kriegerischen Auseinandersetzungen überlassen, anstatt die Frage partizipativ und demokratisch zu lösen. Da die Entscheidung darüber, welchem Staat man angehört und wie man sich gesellschaftlich organisiert, sämtliche Lebensbereiche beeinflusst, handelt es sich dabei um eine grundlegende politische Fragestellung, wenn nicht gar um die politische Fragestellung schlechthin. Linke und Liberale müssten sogar zu jenen zählen, die dieses demokratische Recht am vehementesten einfordern.

Es mag zwar sein, dass der Verweis auf das Kollektivrecht auf Selbstbestimmung in Artikel 1 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte teilweise inflationär verwendet wird und in der derzeitigen politischen Praxis kaum Beachtung findet. Dieser Umstand schmälert aber keineswegs seine Bedeutung. Heute wie damals handelt es sich um einen rechtlichen und zivilisatorischen Meilenstein, dessen herausragende Bedeutung den UnterzeichnerInnen durchaus bewusst war: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“

Nicht ohne Grund wurde das Recht auf Selbstbestimmung gleich im ersten Artikel genannt. Wer sich in seinem politischen Denken an den Menschenrechten orientiert, kann und darf die Forderung nach kollektiver Selbstbestimmung nicht unbeachtet lassen, ohne in seinem/ihrem Handeln widersprüchlich zu sein. Wer zur Demokratie steht, muss sich früher oder später auch zur Selbstbestimmung bekennen, denn alles andere würde bedeuten, Bevormundung und Fremdbestimmung über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu akzeptieren und zu legitimieren.

Eine solche Haltung widerspräche einem emanzipatorischen Gedanken, der sich als politisch links oder liberal bezeichnen kann, und ist darüber hinaus schwer mit der Wahrung der Menschenrechte in Einklang zu bringen. Wer sich dazu bekennt, kann gar nicht anders, als auch die Frage der staatlichen Zugehörigkeit von den unmittelbar Betroffenen demokratisch beantworten zu lassen. Demokratiepolitisch ist es kaum vermittelbar, gerade die wichtige Frage der staatlichen Verfasstheit vom demokratischen Prinzip auszuklammern.

Die überzeugte Ablehnung von Nationalismus, Bevormundung und jeglicher Form von politischem, kulturellem und sprachlichem Zwang muss auch in Südtirol möglich sein. Anders gesagt: Was Linke und Liberale grundsätzlich allen zugestehen würden, sollte auch für Südtirol gelten.

Bereits die italienischen SozialistInnen lehnten unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Annexion Südtirols vehement ab und forderten mit Verweis auf das italienische Risorgimento, dass den SüdtirolerInnen die Selbstbestimmung gewährt werde. Keine noch so großzügige Autonomie könne das Unrecht aufwiegen, das entstehe, wenn man ein Land und seine Menschen gegen deren Willen einem anderen Staat einverleibt.

Doch auch Hans Dietl und seine Sozialdemokratische Partei Südtirols oder der legendäre Bruno Kreisky zeigen, dass die konsequente Ablehnung von Nationalismus und nationalem Expansionismus natürlich die Forderung nach Selbstbestimmung einschließt und Teil des linken Wertekatalogs sind.

Schon Kreisky meinte dazu, dass es nicht konsequent und stimmig sei, als politisch Linke weltweit gegen Nationalismus, Imperialismus und politische Bevormundung einzutreten, gleichzeitig aber einzuknicken und zu schweigen, wenn besagte Phänomene vor der eigenen Haustür eintreten.

Um sich klar zu werden, dass im europäischen und außereuropäischen Kontext gerade linke und liberale Kräfte hinter dem Recht auf demokratische Selbstbestimmung stehen und die Forderung danach vorantreiben, ist ein Blick in die Vergangenheit jedoch gar nicht zwingend nötig. Die Ausübung der Selbstbestimmung als partizipativer Prozess und als demokratische Willensäußerung ist auch heute in Europa politische Realität. Allein in den letzten 20 Jahren haben Menschen zahlreicher Regionen in einem politisch vereinbarten Prozess über die Unabhängigkeit abgestimmt: die Niederländischen Antillen über die Loslösung von den Niederlanden, Montenegro über die Trennung von Serbien, Schottland über die Loslösung vom Vereinigten Königreich und Neukaledonien über die Unabhängigkeit von Frankreich.

Das Buch „Kann Südtirol Staat?“ versteht sich auch als Aufforderung an linke und liberale Kräfte und Menschen im Land, sich der eigenen Werte zu besinnen und die Furcht vor der demokratischen Selbstbestimmung abzulegen. Selbstbestimmung ist Demokratie und entspricht den Prinzipien, die den Menschenrechten zugrunde liegen. Selbstbestimmung ist aber vor allem auch ein unverzichtbarer Teil eines von unten organisierten, wahrlich demokratischen Europas, das innerstaatliche Konflikte nach rechtsstaatlichen Maßstäben und dem Grundsatz der demokratischen Willensäußerung löst.

Es gibt kein überzeugendes Argument, weshalb die Frage nach der territorialen Organisation und der staatlichen Zugehörigkeit nicht auch - wie alle anderen politischen Fragen - auf demokratischem Wege entschieden werden sollte.

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Martin Piger Lun, 06/02/2025 - 23:04

Es klingt zwar wie Geburtstag, Ostern und Weihnachten gleichzeitig, aber am Ende wird trotzdem herauskommen, dass wir in Südtirol eine wunderbare, einmalige Chance haben, für ein friedliches und gerechtes Europa eine Vorbildfunktion einzunehmen und wir sie nutzen werden. Wir, das sind die Südtiroler aller drei Sprachgruppen. Das wird im Interesse Italiens, Österreichs und vor allem der Südtiroler sein. Die große Herausforderung wird sein, allen drei Sprachgruppen Bedingungen zu verschaffen, dass sie mit den gleichen Möglichkeiten an den Startplätzen stehen, auch wenn sie unterschiedliche Stärken aufweisen. Ich persönlich leide zu sehr unter der heute noch alltäglich spürbaren Missachtung meiner deutschen Muttersprache in Südtirol, als dass ich etwas gleiches den anderen Sprachgruppen zumuten möchte. Im Gegenteil, ich glaube, dass es auch zu einer Aufwertung der ladinischen Sprache in ganz Südtirol kommen wird. Sie ist die gefährdetste, und braucht am meisten Schutz. Ein weiteres, langsames Dahinschmelzen des Ladinischen sollte für jeden Südtiroler inakzeptabel sein. Es wird sich jeder zu Hause fühlen dürfen. Es werden die öffentlich Bediensteten sein, von denen man wirklich verlangen wird, dass sie zwei- im besten Fall dreisprachig sind, und nicht die Privatleute. All dies ist mit einem Verbleib bei Italien schwer möglich. Am Ende werden die Vorteile selbst für Italien so überwältigend sein, dass es uns nach Kräften auf unserem Weg unterstützen wird, denn die Welt, in der es für Italien von Vorteil und normal erscheinen konnte, ein fremdes Volk gegen dessen Willen zu beherrschen, gibt es nicht mehr. Frau Zeller hat sich anscheinend gerade heute gegen die Hymne vergangen, das wird aber in Bälde überhaupt keine Bedeutung mehr haben. Niemand wird mehr dazu gedrängt werden, eine Hymne mitzusingen, mit der er (oder sie, es)die eigene Unterjochung feiern muss, und in der er (sie, es) ansonsten nicht vorkommt. Niemand wird mehr mit einer andauernden Gehirnwäsche in eine kollektive Schizophrenie oder neurotische gesellschaftspolitische Apathie gedrängt werden. Es wird noch etwas dauern, bis man in Italien bereit ist, die Geschichte so zu sehen, wie sie wirklich passiert ist, und nicht wie sie der Mythos als passiert erzählt wissen will, weil der Mythos nicht mehr länger der Konfrontation mit der Realität standhalten wird können. Ungefähr so, wie die Griechen einst erkannten, dass die Welt mit dem alten Götterglauben nicht mehr zu meistern war, wird man in Italien einsehen, dass die Zukunft mit der Fortführung des Glaubens von der Vollendung der Einheit Italiens durch die "grande Guerra" nicht zu meistern sein wird. Dieses Festhalten an einer Vergangenheit, die nie so war, wird für Italien immer mehr zur Kugel am Bein werden. Der sogenannte "passato che non passa" und der den Weg in die Zukunft verbaut. Deswegen braucht es auch keine weiteren bitteren Vorwürfe, auch keine aus der eigenen Verletztheit entsprungenen Beleidigungen der Italiener. Am Ende ist diese Beharren auf der realistischen Lesart der Geschichte der größte Dienst, den wir Südtiroler Italien geleistet haben werden, denn dies trägt zur Heilung aller bei. Dabei kann das Herz Jesu, das einst uns Südtirolern und besonders den Schützen ein Anliegen war und vielleicht noch ist, den Weg weisen. Die Anrufung des Herzen Jesu würde eigentlich nicht den Schutz vor äusseren Gefahren bedeuten, wie damals so verstanden, sondern es sollte eigentlich uns selber befähigen, unser Herz für Nächstenliebe und Barmherzigkeit und Mitleid zu öffnen. Dann können wir gemeinsam Unglaubliches erreichen.

Lun, 06/02/2025 - 23:04 Collegamento permanente