Società | Sexueller Missbrauch

"Ein selbstbewusstes Auftreten schützt"

Zwei Experten zeigen, warum in der Präventionsarbeit mehr über Sexualaufklärung und den Einfluss von traditionellen Machtstrukturen nachgedacht werden sollte.
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Berichte über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen erzeugen Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht und werfen immer wieder dieselben Fragen auf: Wie kann man Kinder besser schützen? Was kann die Prävention leisten? Wer sind die Täter? „Es passiert immer und überall“ lautete die Tagung der Diözese Bozen-Brixen Mitte Oktober. Dass die Worte des Bischofs und der gute Wille der Arbeitsgruppe für das Thema zu sensibilisieren alleine jedoch nicht reichen, sondern auch die Kirche ihr Bild von Sexualität überdenken und festgefahrene Machtstrukturen aufbrechen muss, zeigen die Ergebnisse über Misshandlungen in Klöstern des Soziologen Heinrich Keupp. Auch Michael Reiner von der Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliche Young+Direct in Bozen erklärt, wenn man Kinder vor sexueller Gewalt schützen will, muss man sie stärken und aufklären.

Sexualfeindlichkeit in der Kirche 

In einem katholisch geprägten Land wie Südtirol, ist die Haltung der Kirche ein wichtiger Maßstab für den Umgang mit Sexualität und damit verbunden auch mit sexueller Gewalt. Seit der Aufdeckung zahlreicher Missbrauchsfälle innerhalb kirchlicher Strukturen ist die Kirche in den letzten Jahren immer mehr unter Druck geraten sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Die Diözese in Südtirol zeigt sich bemüht, auch dort haben sexueller Missbrauch, sowie körperliche und psychische Gewalt durch Priester und Ordensleute stattgefunden. Bischof Ivo Muser verkündete in seiner Eröffnungsrede während der Tagung, dass er froh darüber sei, dass diese Bombe geplatzt ist und die Macht des Schweigens gebrochen wurde. Man müsse wegkommen vom Ausblenden und nicht Einmischen und hin zum Hinschauen und zur Transparenz. Muser erklärte, es bräuchte einen neuen Dialog mit der Gesellschaft, um die Frage der christlichen Grundwerte in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen und das sexuelle Miteinander zu beantworten.

Eine Antwort konnte Referent Heinrich Keupp, der über die Untersuchungen zu den Missbrauchsfällen in den Benediktinerklöstern Ettal (Bayern) und Kremsmünster (Oberösterreich) berichtete, schon während der Tagung geben: „Die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche verhindert einen reflektiven Umgang mit der eigenen Sexualität. Sexualität ist ein Ort der Gefahren und ist bis heute von Tabus umgeben, die einen offenen und reflektierten Umgang verhindern. Die Reflexion mit dem eigenen sexuellen Begehren wird in einem Milieu der Sexualabstinenz nicht gefördert“.

Das ist eines der Ergebnissen der Studie, für die zahlreiche Interviews sowohl mit Opfern, als auch mit Tätern geführt wurden. So berichtete zum Beispiel einer der Pater von unbefriedigten Bedürfnissen nach Geborgenheit und Nähe in Verbindung mit großem Schamgefühl. Die sexuelle Aufklärung ist daher ein wichtiger Bestandteil der Präventionsarbeit, erklärte Keupp gegenüber salto.bz. Sexualaufklärung fände oft sehr reduziert statt, im Sinne der biologischen Funktionen von Männern und Frauen, aber die ganze dynamische und tief in den Menschen hineinführende Seite der menschlichen Sexualität würde nicht zum Thema gemacht, so der Soziologe.

Es fehle an reflexivem Umgang mit Sexualität, sowohl an den Schulen, als auch in den kirchlichen Einrichtungen. Das sei eine Voraussetzung dafür, dass an gewissen Stellen die Prävention wirksam werden kann, weil Kinder aber auch Erwachsene einen anderen Zugang zu dem Thema finden.

In der Kirche müssen die Erwachsenen mehr zur Verantwortung gezogen werden, besonders im Hinblick darauf, dass viele Täter ihr Fehlverhalten nicht anerkennen. „Es geht vor allen Dingen um die Erwachsenen, die selber diese Verantwortung übernehmen müssen, dass sie nicht sagen, die Kinder waren da ja auch irgendwie bereit zu bestimmten Aktivitäten. Nein, verantwortlich sind Erwachsene, das ist Teil ihrer ethischen Grundhaltung und natürlich muss in der katholischen Kirche endlich über Sexualität geredet werden. Warum hat die Kirche ein so verklemmtes Verhältnis zum Thema, zur Homosexualität noch viel schlimmer, das darf es überhaupt nicht geben, das ist Sünde. Die Kategorie Sünde hat im Diskurs über Sexualität nichts zu suchen, so einfach kann man das sagen.“, so Keupp.

Täter: Macht und traditionelle Männlichkeitsvorstellung

Laut Statistik sind Mädchen dreimal mehr von sexueller Gewalt betroffen als Jungen und die meisten Täter sind Männer. Wenn von sexuellem Missbrauch gesprochen wird, geht es immer auch um Machtverhältnisse, Machtpositionen, Machtausübung und Machtmissbrauch innerhalb der gesellschaftlichen und im kleineren der institutionellen aber auch familiären Ordnung. Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet. 

Wann immer Sexualität in Bezug auf Grenzüberschreitung stattfindet, hat es mit Macht zu tun. Da übt jemand Macht über jemand anderen aus, das ist ein großes Thema“, stellt Keupp deutlich klar. „Es wird lange ausgeklammert, gerade auch wenn es nicht um Befriedigung elementarer Bedürfnisse geht, sondern um die Ausübung von Macht und der Zerstörung von Personen, die in ihrer Selbstständigkeit lädiert werden. Von daher ist es ein Teil der Sexualaufklärung zu zeigen, wo immer wir hinschauen, ob das zum Beispiel die Pornografie ist, es geht immer darum, dass Menschen über andere verfügen wollen, Macht ausüben wollen. Wenn man das nicht in den Köpfen verankert, dann werden wir noch lange mit dem Thema zu kämpfen haben“, versichert der Soziologe.

Ein Risikofaktor sind laut Erkenntnissen zu sexuellem Missbrauch patriarchal geprägte Familienstrukturen. Auch die traditionellen Männlichkeitsvorstellungen und autoritären Strukturen innerhalb der Klöster dienten laut den Analysen des Soziologen als Nährboden für den stattgefundenen Missbrauch.

In den untersuchten Klosterinternaten wurden Jungen von Männern erzogen. Der ideologische Bezugsrahmen ihrer Interaktionen ist die katholische Kirche mit ihren Vorstellungen und Praxen einer traditionellen Männlichkeit“, so Keupp.

Auch für den Leiter der Beratungsstelle Young+Direct, Michael Reiner, ist klar, „dass Macht in diesem Kontext immer eine Rolle spielt“ und in Verbindung mit Sexualität eben mehr beim Mann zu finden sei.

Der Psychologe erklärte salto.bz gegenüber, dass viele Täter Kompetenzen besitzen um die Opfer zu manipulieren, um sich gut verstellen zu können und um so ihre Machtpostition gegenüber dem Vertrauen der Kinder auszunutzen. „Gewalt definieren wir so, dass die Einwilligung dazu fehlen muss. Egal wie alt das Opfer ist. Aber oft laufen diese Dinge eben sehr subtil ab, verdeckt und versteckt. In einer Art und Weise, dass es eben nicht sofort als etwas auffällt, was für den Betroffenen schlecht oder nicht in Ordnung ist. Für manche Kinder wird es sogar als angenehm empfunden. Warum, weil es so verdeckt ist und mit Menschen geschieht, die wir gerne haben.“, so Reiner. Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch finden statistisch gesehen im näheren Umfeld der Opfer statt, in ihren Familien, im Bekanntenkreis oder in Institutionen, in denen sich die Kinder aufhalten.

Prävention: Kinder und Jugendliche stärken

Es gibt in Südtirol verschiedene anonyme Anlauf- und Beratungsstellen für Betroffene, zum Beispiel den Frauenhausdienst für Mütter und Kinder oder Yong+Direct in Bozen. Über verschiedenen Wege, auch WhatsApp und Mail, können die Jugendlichen Kontakt zu den Fachpersonen in der Beratungsstelle aufnehmen. Bei Kindern ist es jedoch schwierig, dass sie von selber Hilfe aufsuchen, besonders wenn der Missbrauch im familiären Kontext geschieht, so Michael Reiner.

 

Gerade deshalb ist bei der Präventionsarbeit die sexuelle Aufklärung im Sinne einer Selbstbestimmung und Wahrnehmung so wichtig. „Es ist logisch nicht sinnvoll ein Kleinkind in der Volksschule mit Informationen zum Thema Sexualität frühzeitig komplett zu überhäufen mit Sachen, mit denen sie nicht umgehen können, aber das bedeutet nicht, dass bestimmte Dinge nicht einfach angesprochen werden sollen in der Art und Weise wie die Kinder es brauchen und verarbeiten können“, erklärte der Leiter der Beratungsstelle.

Er ist überzeugt, dass Kinder in Bezug auf ihren Körper das Wissen bräuchten, was richtig und was falsch ist und man ihnen ein Gesprächsklima schaffen müsse, dass ihnen diese Sicherheit vermittelt. Es fängt schon damit an, dass ihnen das Vokabular fehle und die Einschätzung des Kontextes, so der Psychologe. 

Wenn wir von sexueller Gewalt sprechen, dann darf man nicht den Fehler machen, dass ein Bild von Gewalt, von brutalen Übergriffen entsteht. Tatsache ist, dass viele solcher Situationen und Fälle von außen als solche bewertet werden. Für die Kinder selber wird es aber vom Täter, damit es eben funktioniert und über lange Zeit machbar ist, so gemacht, dass es spielerisch ist, das es eben ganz verdeckt, verdreht ist. Dass die Kinder nicht sofort etwas Schlimmes erkennen können.“ 

Laut Reiner sollten Kinder deshalb darin bestärkt werden zu wissen wo ihre Grenzen sind und dass sie aus eigener Sicht sagen können, das will ich nicht, das mag ich nicht. Wichtig sei auch zu vermitteln, dass sie das Recht haben nein zu sagen in Bezug auf Berührungen und dass es eigene körperliche Grenzen gibt, die nicht überschritten werden sollen und dürfen, von niemandem, nicht einmal von den Eltern.

 „Das bedeutet nicht, das ich einem Kleinkind nicht mehr beim Waschen helfen muss, es geht um die Art und Weise und die Situation in der so etwas passiert. Wenn es in einem anderen Kontext passiert, dann passt das eben nicht mehr“.

Ein selbstbewusstes Auftreten schütze die Kinder, so der Psychologe. Auch die Erwachsenen sind in der Verantwortung nicht wegzuschauen und etwas zu unternehmen wenn sie kein gutes Gefühl haben oder etwas beobachten. Bei familiären Systemen sei dies eher schwieriger.

Der erfahrene Psychologe rät daher „die Sache und die Auffälligkeiten näher zu beobachten, vor allem bei den Kindern. Man sollte sich aber bewusst sein, dass man ab einem gewissen Punkt als Erwachsener verpflichtet ist sich schützend vor die Kinder zu stellen. Man könne nicht erwarten, dass ein Kind irgendwas macht“, so Reiner abschließend.  

 

Wenn wir Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch schützen wollen müssen wir sie in erster Linie auch in ihrem Selbstbewusstsein und in ihrer sexuellen Selbstbestimmung stärken und aufklären. Wir müssen auch darüber reflektieren, was Machtpositionen- und Verteilungen innerhalb unserer gesellschaftlichen Ordnung mit dem Thema zu tun haben und dies mit in den öffentlichen Diskurs und in die Präventionsarbeit einbeziehen.