Zeugin von Diskriminierung

-
Sehr geehrte Teilnehmende und Organisatoren dieser Veranstaltung, sehr geehrte Präsidentin und sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Alexander Langer Stiftung.
Ich danke der Stiftung von Herzen, da ich durch sie meinen ersten Menschenrechtspreis erhalten habe. Das war für mich eine große Ermutigung, mein Engagement fortzusetzen, und auch ein großer Trost nach den Ereignissen der Bewegung Grüne Welle im Jahr 2009.
Damals wurden viele Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger von den Sicherheitsbehörden stark unter Druck gesetzt, Opfer von Repressionen oder inhaftiert.
Als ich den Internationalen Alexander Langer Preis erhielt, spürte ich einen Funken Hoffnung in mir. Obwohl wir Repressionen, Verhaftungen und Inhaftierungen ausgesetzt waren, obwohl unsere Büros geschlossen wurden und man versuchte, unsere Stimmen zum Schweigen zu bringen, bedeutete der Preis, dass unsere Stimmen nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Wenn mir in einem Land wie Italien ein solcher Preis verliehen wurde, eine Zeremonie abgehalten wurde, wir nominiert wurden und man sich an diejenigen erinnerte, die im Iran kämpften, bekräftigte dies unsere Stimmen. Es bedeutete, dass die Gerechtigkeit weder besiegt noch mit Füßen getreten werden konnte und dass sie metaphorisch gesprochen aus einem anderen Nest hervorkam. An diesem Tag rief diese Anerkennung von Seiten der Stiftung diese Bedeutung in meiner Erinnerung hervor.
Ich denke jedoch, dass ich, wenn Sie dieses Video sehen, wieder im Gefängnis sein werde.
-
Lectio Langer im Filmclub.: Narges Mohammadis Rede wurde als Videobotschaft eingespielt. Foto: Seehauserfoto
Nun komme ich zum Kern der Diskussion Ihrer heutigen Veranstaltung. Ich wäre so gerne bei Ihnen, um mit Ihnen in Dialog zu treten. Ich denke jedoch, dass ich, wenn Sie dieses Video sehen, wieder im Gefängnis sein werde und ich somit diese Gelegenheit verpasse.
Wie auch immer, zurück zur Sache, zu Alexander Langer’s zehn Punkten für das Zusammenleben, die das Manifest Ihrer Stiftung sind. Ich habe eine Kopie davon erhalten, die mir sehr nützlich war. Ich befinde mich im Iran. Im Nahen Osten und insbesondere in meinem Land haben wir ständig Diskriminierungen erlebt. Wir waren/sind Zeugen einer komplexen Form der Diskriminierung.
Leider verwandeln sich unsere Stärken manchmal in Schwächen, wenn die Gesellschaft nicht demokratisch ist.
Der Iran ist ein Land, das sich aus verschiedenen Ethnien, verschiedenen Sprachen und Dialekten, verschiedenen politischen, religiösen und ideologischen Orientierungen zusammensetzt. Vielleicht sind diese Vielfalt und dieser Reichtum die Stärke meines Landes, und ich glaube eigentlich, dass sie auch die Grundlage für die Gestaltung der Demokratie sind. Leider verwandeln sich unsere Stärken manchmal in Schwächen, wenn die Gesellschaft nicht demokratisch ist, wenn sie keine Regierungsform hat, die auf Demokratie und Säkularismus fußt.
In der Gesellschaft, in der ich lebe, habe ich diese Diskriminierungen miterlebt. Ich habe die immer stärkere Diskriminierung von Frauen miterlebt. Durch die Geschlechterapartheid haben wir eine totale Diskriminierung von Frauen erlebt. In meinem Land habe ich auch ethnische Diskriminierung miterlebt. Ich werde die Erzählung als Methode anwenden, um meine Absicht hoffentlich wirkungsvoller zu vermitteln.
Was mir dabei hilft, meine Argumente zu untermauern, sind die Geschichten der Zeugen, die davon berichten. Es handelt sich um die sogenannte anekdotische Evidenz. Dabei ist die Quelle ein Zeuge, der eine Geschichte erzählt, die er/sie selbst erlebt hat, oder ein anderer Zeuge, der/die die Geschichte kennt, weil er/sie diese gehört hat und sie nun weitererzählt. Vor allem, als ich im Evin-Gefängnis war, und insbesondere in den letzten Jahren, als ich die Geschichten von Frauen unterschiedlicher Herkunft aus Kurdistan oder Khuzestan oder Sistan-Baluchistan hörte, wurde mir klar, wie sehr diese ethnische Diskriminierung das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit zerstörte. So wie wir in einer demokratischen Debatte über Integration und die Abwesenheit von Diskriminierung zwischen Menschen in einem bestimmten Bereich sprechen, dachte ich darüber nach, wie sehr ethnische Diskriminierung der Demokratie einen tödlichen Schlag versetzt und die Menschenrechte gefährdet.
Ich habe viele Zeuginnen und Zeugen angehört und hätte gerne über dieses Thema anhand ihrer Erzählungen diskutiert. Die Zeit ist aber knapp.
Ich möchte Ihnen jedoch sagen, dass ich Erfahrung mit dem habe, was in Ihrem Dekalog steht, und ich bin fest davon überzeugt, dass die zehn Punkte nicht nur von Ihrer Stiftung in Italien, sondern auch von anderen ähnlichen Stiftungen auf der ganzen Welt angegangen werden müssen. In der heutigen Welt ist dies unerlässlich. Die heutige Welt hat mit Krisen zu kämpfen, die wir vielleicht als Superkrisen bezeichnen sollten. Sie hat mit Herausforderungen zu kämpfen, die wir angesichts ihres Ausmaßes vielleicht als Superherausforderungen bezeichnen sollten. Die Klimafrage kann als eine der globalen Krisen betrachtet werden. Auch die Diskriminierung von Frauen, die Geschlechterapartheid und die Frauenfrage sind als solche zu betrachten. Vor allem in geografischen Gebieten wie dem Nahen Osten und insbesondere bei Regierungsformen wie denen der Taliban und der Islamischen Republik. Soziale, ethnische, geschlechtsspezifische, religiöse Diskriminierungen...
Die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die zu erheblichen sozialen Brüchen und Unterschieden führen, sind Spaltungen in Bewegung; sie ähneln aktiver Erdbebenverwerfungen und können die Welt auf den Kopf stellen. Die Gesamtheit dieser Krisen ist mehr als die Summe ihrer Teile. Wir stehen vor einer allumfassenden Krise, die die Verflechtung dieser Krisen enthält. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Krise der geschlechtsspezifischen Diskriminierung von Frauen gelöst wäre, wenn wir das Problem der Klimakrise beseitigen würden. Sie sind miteinander verbunden. Auch die Frage der ethnischen Diskriminierung ist eine dieser komplexen und miteinander verbundenen Krisen, die das Ausmaß der Krise beschreiben, die Krise aufgrund der Migration.Verschiedene Kulturen, verschiedene Menschen mit verschiedenen Traditionen, verschiedenen Meinungen, verschiedenen Ideen. Wenn wir die Probleme dieser Gesellschaften nicht lösen können, werden die Krisen immer größer werden und unsere Welt, unsere Zukunft und die Zukunft der Menschheit beeinflussen.
Wir können nicht über Menschenrechte sprechen, ohne die Umweltfrage zu berücksichtigen. Wir können nicht über ethnische Diskriminierung sprechen, ohne die Frage der Menschenrechte anzugehen. Wir können nicht über Demokratie sprechen, ohne die Frauenfrage zu berücksichtigen beziehungsweise so tun, als gäbe es keine Geschlechterapartheid. All dies hängt miteinander zusammen.
Wenn wir Demokratie und Menschenrechte anstreben, können wir nicht akzeptieren, dass einige Nationen von der Demokratie profitieren und andere weiterhin unter dem Joch der Unterdrückung leben.
Wenn wir über das Zusammenleben innerhalb von Gesellschaften nachdenken, müssen wir uns im Wesentlichen fragen, inwieweit die Menschen, die wir miteinander leben lassen wollen, in der Gesellschaft selbst präsent sind. Haben sie eine Stimme in der Gesellschaft? Leben sie in einem Umfeld, in dem nachhaltige Umweltbedingungen herrschen? Oder ist es nur für uns selbst wichtig, dass wir uns um unsere Umwelt kümmern und glauben wir vielleicht, dass nur wir sie verdienen und das Recht dazu haben? Genießt das Subjekt, über das wir in unseren Dialogen diskutieren und über dessen Zusammenleben wir Hypothesen aufstellen, die Menschenrechte und Grundrechte eines Menschen, damit wir gemeinsam über die Bedeutung und die Erfahrung des sozialen Zusammenlebens diskutieren können? Hat diese Person eine eigene Stimme, damit sie mit uns in Dialog treten kann? Ist ihre Stimme jemals auf die Ebene der menschlichen Gesellschaften gestiegen oder blieb sie ihr im Halse stecken? Ist es möglich, einen Menschen, dessen Stimme im Hals stecken geblieben ist, zu einem friedlichen Zusammenleben einzuladen? Ist dies dann möglich, wenn dieser Mensch noch auf der untersten Stufe der sozialen Leiter steht? Wenn ihm noch nicht die Erlaubnis gegeben wurde, den Weg zur nächsten Stufe zu beschreiten?
Historischer Überblick zur Geschichte des Irans: Farian Sabahi sprach bei Lectio Langer im Filmclub. Sie ist Senior Researcherin für Zeitgeschichte an der Universität Insubria und Beauftragte für institutionelle und diplomatische Angelegenheiten am DISUIT (Fachbereich für Humanwissenschaften und Innovation für das Territorium). Foto: SeehauserfotoWas ich damit sagen will, ist, dass wir jedes Mal, wenn wir über den möglichen Weg zu interethnischem Zusammenleben, zur Umweltfrage oder zur Frage der Frauenrechte nachdenken, von den Menschenrechten ausgehen müssen. Wenn wir Demokratie und Menschenrechte anstreben und uns dafür einsetzen, können wir nicht akzeptieren, dass einige Nationen von der Demokratie profitieren und andere weiterhin unter dem Joch der Unterdrückung leben.
Hier zeigt sich das Problem der Migration. Das Fehlen von Wert und Würde des Menschen macht die Migration zu einer Gewohnheit. Diese Migrationen können Ethnien, Kulturen und Bräuche zusammenbringen und miteinander verbinden, die sich nicht aus dem Bedürfnis heraus, das Zusammenleben zu erfahren, angenähert haben, sondern weil sie durch Armut, Diskriminierung, Gefängnis, Tod, Massaker und Krieg dazu gezwungen wurden, von einem Ort zu fliehen und anderswo ein neues Leben zu beginnen.
Kürzlich habe ich etwas über Demokratie gelesen. Claus Offe behauptet, dass eine der Voraussetzungen für Demokratie darin besteht, dass Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Lebensumfeld empfinden. Sie müssen über Ausdauer und Toleranz verfügen. Die Gesellschaft muss mit Geduld und Toleranz ausgestattet sein. Er hält die Abwesenheit sozialer Diskriminierung und das Vorhandensein sozialer Gerechtigkeit für grundlegend. Fehlt einer dieser Parameter, ist die Demokratie in Gefahr. Wenn jeder dieser Parameter in Gefahr ist und die Demokratie sich nicht durchsetzen kann, sind Frauen, ethnische Gruppen, junge Menschen in Gefahr. Was also tun?
Ich glaube, dass es vielleicht ein wichtiger und grundlegender Schritt sein kann, sich für das Thema Dialog zu interessieren und auf die Stimme des anderen zu hören. Vielleicht kann Ihre Stiftung eine Vorreiterrolle übernehmen, indem sie vor allem denjenigen zuhört und eine Stimme gibt, die diskriminiert, unterdrückt, bedrängt und belagert werden. Den Schwächsten. Wenn es gelingt, ihnen mehr Gehör zu verschaffen, damit sie in die Lage versetzt werden, einen Dialog zu führen, und wenn es uns gelingt, einen weltweiten Dialog auf der Grundlage der Menschenrechte und der Rechte der Frauen zu gestalten, dann könnten wir vielleicht auch gute Ergebnisse für das interethnische Zusammenleben erzielen.
Eine unserer Sorgen für die Zukunft, auch für demokratische Gesellschaften, ist die Verwirklichung und Legitimierung der Rechte der Frauen.
Auf jeden Fall habe ich versucht, meine Sorgen als jemand zu teilen, die selbst Diskriminierung erfahren hat und Zeugin von Diskriminierung gegenüber Mitgefangenen oder Landsleuten geworden ist, deren Geschichten und Leiden viel aussagen...
Ich habe versucht, Sie aus dem Herzen all dessen zu erreichen und meine Gedanken mit Ihnen zu teilen. Ich bekräftige, dass die Frage der Frauen ernsthaft berücksichtigt werden muss. Eine unserer Sorgen für die Zukunft, auch für demokratische Gesellschaften, ist die Verwirklichung und Legitimierung der Rechte der Frauen. Insbesondere die Anerkennung der Geschlechterapartheid als Verbrechen. Dieses Verbrechen, das wir in unserem Land und in Afghanistan beobachten und das zeitweise in der gesamten geografischen Region präsent ist.
Ich hoffe, Sie eines Tages in meinem Land, dem Iran, zu sehen, wenn wir Freiheit, Gleichheit und Demokratie erreicht haben.
Ich hoffe, dass sich die Organisatoren dieser Veranstaltung noch mehr als bisher für diese Themen einsetzen und dass sie den Beginn eines weltweiten Dialogs und die Entstehung weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Alexander Langer Stiftung fördern können. Ich bin zutiefst dankbar, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, diese Aspekte und meine Sorgen mit Ihnen zu teilen.Ich hoffe, Sie eines Tages in meinem Land, dem Iran, zu sehen, wenn wir Freiheit, Gleichheit und Demokratie erreicht haben. Um zu feiern. Vielen Dank.
Articoli correlati
Society | Nachgerufen„Alex, du fehlst mir so sehr“
Society | Langer-PreisSein Vermächtnis bewahren
Society | Langer ArchivVorausdenkendes nachlesen
Ich bin ihnen und allen…
Ich bin ihnen und allen anderen dankbar für den Kampf den sie gegen so ein bescheuertes System betreiben und dabei Risiken und hohe Verluste nicht scheuen.
Es sind leider wie allzuoft alte, machtgeile Männer, oder solche die aus Angst mit dem Strom schwimmen, die den Fortschritt in einer Gesellschaft sabotieren.
Demokratie lässt sich leider nicht exportieren, sie muss von der Gesellschaft errungen und andauernd gepflegt und ausgebaut werden.
Was wir haben ist eine angedeutete Demokratie, ein Trugbild mit dem sich viel zu viele zufrieden geben; es wird zunehmends weniger hinterfragt und partizipiert, es findet zunehmends ein Rückzug aus dem Öffentlichen ins Private statt. Viele denken: "was kann ich schon verändern". Dieser Gedanke ist eingepflanzt und ferngesteuert.
Alleine ist jede*r eine leichte Beute (siehe Mafia), gemeinsam verlieren wir unsere Ängste und werden den Unterdrückern gefährlich.
Wohin kämen wir, wenn jede/r aufmerksamer für das Wohl und die Probleme seiner Nächsten würde, anstatt nur auf den eigenen Vorteil aus zu sein?
Die Manipulatoren würden Machtverluste erleiden.
Genau das muss geschehen.