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„Ich verlor den Bezug zur Realität“

Die Erzdiözese München unterstützt einen unabhängigen Betroffenenbeirat zu sexualisierter Gewalt: Auf der Reise zum neuen Papst nach Rom haben sich die Missbrauchsopfer mit SALTO getroffen.
Richard Kick, Papst Franzikus
Foto: Betroffenenbeirat Diözese München
  • „Ich war Ministrant und wurde von einem Priester zwischen meinem achten und zwölften Lebensjahr schwer sexuell missbraucht“, erklärt Richard Kick, Sprecher des unabhängigen Betroffenenbeirats in der Erzdiözese München und Freising. Der Beirat wurde 2021 gegründet, um zur Aufarbeitung und Prävention von Missbrauchsfällen beizutragen. Ein Jahr darauf veröffentlichte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ihre Untersuchung und stellte bei zahlreichen Verantwortlichen ein fehlerhaftes Verhalten im Umgang mit Missbrauch in der Münchner Diözese fest, unter anderem auch bei dem späteren Papst Benedikt XVI. 

     

    „Es kann im Jahr 2025 nicht sein, dass ein Missbrauchstäter in eine andere Pfarrei versetzt wird.“

     

    Auch in Südtirol hat die renommierte Anwaltskanzlei zu Jahresbeginn das Missbrauchsgutachten der Diözese Bozen-Brixen vorgestellt. Im Zeitraum von 1964 bis 2023 wurden Sachverhalte mit 59 Betroffenen und 41 beschuldigten Klerikern dokumentiert – einer von ihnen Pater Don Giorgio Carli. Das Strafverfahren gegen ihn war vor Gericht wegen Verjährung eingestellt worden, Bischof Ivo Muser wollte ihn dieses Jahr in die Gemeinde Innichen versetzen. Nach einem öffentlichen Aufschrei hat Muser diese Entscheidung zurückgezogen. „Es kann im Jahr 2025 nicht sein, dass ein Missbrauchstäter in eine andere Pfarrei versetzt wird“, sagt Herbert Fuchs, ebenfalls Betroffener des deutschen Beirats, bei dem Gespräch mit SALTO in Bozen. 

  • Das Mahnmal: Das Kunstwerk steht im Münchner Frauendom. Foto: Betroffenenbeirat Diözese München

    Der unabhängige Betroffenenbeirat reist heuer ein zweites Mal über Bozen und Assisi nach Rom, um von Papst Leo empfangen zu werden. „Wir sind 2023 das erste Mal über mehrere Fahrrad-Etappen nach Rom gereist und haben Papst Franziskus unser Symbol des Herzens überreicht“, sagt Kick. Eine zweite Version des Kunstwerks von Michael Pendry steht seit Februar als Mahnmal im Münchner Frauendom. 

    „Ich habe meinem Täter, der 2019 verstorben ist, nie verziehen. Ich werde das auch nicht können, aber ich bin mit dem, was mir passiert ist, menschlich fertig geworden“, so der Sprecher des Münchner Betroffenenbeirates. Die Missbrauchserfahrungen hatten sein Leben schlagartig verändert. „Ich fühlte mich wie in Watte gepackt und verlor den Bezug zur Realität“, sagt er. 

    Die Folgen von sexuellem Missbrauch zeigen sich häufig in Suizidgedanken und der Entwicklung eines Suchtverhaltens. Bei Richard Kick verschlechterten sich die Schulleistungen rapide, in den darauffolgenden Jahren entwickelte er eine Depression und Alkoholsucht. Erst durch mehrere Therapien und die Unterstützung seiner Ehefrau konnte er diese Schwierigkeiten bewältigen. 

     

    „Erzbischof Kardinal Reinhard Marx schätzt unsere Arbeit. Er sagt, wir nerven, aber wir nerven an der richtigen Stelle.“

     

    Heute ist er Ansprechpartner für andere Betroffene. „Von unserer Fahrradreise 2023 haben viele deutsche und internationale Medien berichtet, über Monate meldeten sich zahlreiche Betroffene bei uns“, sagt Kick. Diese Tätigkeiten werden von der Erzdiözese München finanziell unterstützt. „Erzbischof Kardinal Reinhard Marx schätzt unsere Arbeit. Er sagt, wir nerven, aber wir nerven an der richtigen Stelle“, erklärt Fuchs. Ohne diese positive Rückmeldung der Kirche wäre jemand wie Helmut Bader nicht im Beirat, sagt der Betroffene in Bozen. 

  • Offener Brief an Papst Leo

    Der unabhängige Beirat der Erzdiözese München will Papst Leo in Rom einen offenen Brief mit Forderungen überreichen. Um Missbrauch aufzuarbeiten und zu bekämpfen, seien Transparenz und das Wohl der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Es brauche unabhängige Verfahren, konsequente Verantwortung von Priestern, Bischöfen und Ordensleuten sowie Reformen in Ausbildung und Machstrukturen. „Worte allein genügen nicht mehr. Sichtbare Schritte – auch durch Sie persönlich – würden vielen Menschen Mut machen, dass die Kirche ihre Schuld erkennt und den Weg der Umkehr ernsthaft geht“, erklärt der Betroffenenbeirat im Brief an den Papst. 

  • Der unabhängige Betroffenenbeirat: Das Gremium unterstützt die Diözese München und Freising bei Fragen zu sexualisierter Gewalt in der Kirche. Foto: Betroffenenbeirat Diözese München
  • Die Botschaft der zweiten Reise nach Rom sei klar: „Wir sind hier, wir zeigen Gesicht. Wir lassen uns nicht mehr ausbremsen“, sagt Fuchs. „Kleriker glauben häufig, dass Betroffene nie mehr etwas mit der Kirche zu tun haben wollen“, erklärt Kick. Zumindest bei ihnen ist eher das Gegenteil der Fall. „Wir sind im katholischen Glauben erzogen worden, das ist ein Stück weit ein Teil von uns und ermöglicht uns Heilung. In unserer Gesellschaft bräuchte jeder so einen Halt, egal ob die Person von sexuellem Missbrauch betroffen ist oder sich in einer Notsituation befindet.“ 

    Auch Elisabeth Geitner, ebenso Betroffene aus Deutschland, erklärt: „Ich wundere mich über die mangelnde Sensibilität der Verantwortlichen, auch hier in Südtirol. Die Kirche tut sich keinen Dienst damit, wenn sie beim Thema Missbrauch so zurückhaltend ist.“ Josef Germeier sieht darin eine große Schwachstelle der katholischen Kirche von heute. „Erstarrte Strukturen und Klerikalismus, die Missbrauch ermöglichen, werden weiterhin gelebt. Darunter leide ich, diese Leute machen unsere Kirche kaputt“, sagt der Betroffene.