Cultura | Von Waltraud Mittich

Die Gärten der Finzi - Teil 3

Im dritten und letzten Teil von Waltraud Mittichs Erzählung kommt Micòl Finzi Contini aus der UdSSR nach Italien und "seinen Möglichkeiten sozialistischer Politik zurück." Sie erlebt den Tod von Enrico Berlinguer, sein Begräbnis. "Die Erzählerin sieht wohl ein, dass Micóls Faible für Berlinguer ihr eigenes sein könnte oder war oder ist."

Im September des Jahres 1976 würde der Mann noch einmal nach Moskau reisen, der diesen real existierenden Sozialismus in Frage stellte, der ihn reformieren, anpassen wollte an die real existierende Welt. Enrico Berlinguer kam als Bittsteller nach Moskau, hatte Erneuerungsvorschläge im Gepäck. Spricht doch tatsächlich davon, dass die Regeln der Demokratie benutzt und genutzt werden müssen, um an die Regierung zu gelangen, dass der Anspruch auf   d i  e   einzige Partei aufgegeben werden muss. Der Text wird von der Pravda zensuriert.

Allein und voraus gehen, die Vision haben, nicht bloße  Ideologie. Nicht bluffen, kein Angeber sein, weder Träumer noch Scharlatan. Eines Tages wird er der  Kommandeur gewesen sein, der commandante,  der den Schritt getan hat. Den Preis wird er schon gezahlt haben. Micòl Finzi Contini ist zeit ihres Lebens auf der Suche nach solchen Menschen, sie spürt sie auf und verspeist sie, es ist nie genug.

Die Vision war, möglicherweise, eine neue Achse, kein gutes Wort, aber ein notwendiges, eine Verbindung  ins Leben zu rufen zwischen anderen, neuen sozialistischen Kräften, unabhängig vom real existierenden Kommunismus in der UDSSR. Es ist gründlich daneben gegangen, sagt sich Micòl. Später, zwei Jahre später sagt sie sich das. Aber an solchen Projekten zu scheitern, kann wohl jemandes Lebensaufgabe sein. Und  noch etwas sagt  sie sich: Die großen Menschheitserzählungen, solche wie der Kommunismus oder wie die Aufklärung, sind an ein Ende gelangt. Den Mann Berlinguer trifft keine Schuld daran.

Sie reisen nach einmonatigem Aufenthalt über Prag zurück nach Rom. Die Reise endet mit Missmut. Die Sozialdemokraten geraten sich in die Haare. Nicht allzu unverständlich nach den vielen Enttäuschungen, die ihnen der real existierende Sozialismus beschert hat. Am Flughafen von Irkutks schlugen die sozialdemokratischen Reisenden mit den Balalaikas aufeinander ein, die sie als Souvenirs erstanden hatten. Die Balalaikas zerbrachen.

Im März 1978 zerbrachen die Hoffnungen des  Enrico Berlinguer, den Partito Comunista regierungsfähig zu machen. Der zweite große Statist, leader der DC, stärkste politsche Kraft im Land, Aldo Moro, wird von den Roten Brigaden entführt und dann ermordet.  Die  gewaltbereiten Brigate Rosse  sahen in den Kommunisten  Renegaten, Berlinguer  seinerseits bezeichnete sie als Faschisten.

Micòl Finzi Contini kam keineswegs geheilt von Hoffnungen in die Möglichkeiten sozialistischer Politik zurück. Aber immer klarer  sieht sie, was ihr schon in Peterhof, der barocken Zarenresidenz bei Leningrad, wie ein Traumbild aufgegangen war: Sie stand vor der Sonnenfontäne und  durch den Wasserstrahl  hindurch nahm sie die Gestalt wahr, weiß gekleidet mit einem  kleinen Kind an der Hand, ging sie langsam die Allee entlang. Es war ein Mann, aber es konnte auch eine Frau sein, langsam wandte sie sich und suchte Micòls Blick, lächelte und verschwand in der Wegbiegung.

Micòl hatte keine Kinder.

Allein-und Vorausgeherinnen, Asketen, Denkerinnen, große Einzelne sind vonnöten, fähig zu einem ganz normalen Leben mit Kindern und zu etwas, was sich Familie nennt, aber  es gibt viele andere Wörter dafür, die wir erst erfinden müssen, Menschen, die auf jeden  Fall  diesen Spagat schaffen – denn darin besteht  die Größe  des einfachen Lebens, auch die eines Mannes wie Berlinguer.

An seinem Begräbnis nahmen eine Million Menschen teil. Der Trauerzug bewegte sich zum Adagio von Albinoni  von Botteghe Oscure  Richtung Piazza S. Giovanni. Der Präsident der Republik beugt sich über die Leiche und küsst den Enrico Berlinguer.

Der Frontmann Berlinguer war Vater von drei Töchtern und Ehemann einer praktizierenden Katholikin.  Es gibt bloß Wörter aus der Kriegsmaschinerie für solche  Männer.  In allen Sprachen der Welt. Das denkt Micòl. Wir haben es bis jetzt zur Kenntnis genommen und nichts geändert. Es wird eine weibliche Sprache geben, dafür, eines Tages. Der Größe des Menschen tut  das Wort Frontmann aber keinen Abbruch.

Micòl Finzi Contini glaubt möglicherweise auch daran, dass erst die Widersprüche und die Brüche  eines einfachen Lebens  Größe ermöglichen. Sie wird es noch erleben, Berlinguers Tochter Bianca als engagierte Journalistin von TG3  zu sehen. Weinen wird sie, als sie Bianca Berlinguer zum ersten Mal im Fernsehen sieht. Sie  findet im Gesicht der Bianca Berlinguer die Gesichtszüge und  das was den Vater ausgemacht hat, diese Entschlossenheit. Die Kontinuität der Gedanken des Frontmannes  gewährleistet im  perfekten Oval  des Gesichts der Bianca Berlinguer. Micòl Finzi Contini hatte keine Kinder.

Die Erzählerin sieht wohl ein, dass Micóls Faible für Berlinguer ihr eigenes sein könnte oder war oder ist. Nichtsdestotrotz glaubt sie allerdings, einer Frau wie Micòl solche Vorlieben zuschreiben  zu dürfen. PolitikerInnen, denen sie auch  hätte nahe stehen können, gäbe es natürlich. Die Erzählerin dächte etwa an Golda Meir, gäbe es nicht diesen Satz der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin: „Ein Palästinenser Volk gibt es nicht“. Doch die Widersprüche und Brüche im Leben solcher Menschen hätte  die Micòl  eben auch toleriert. Davon ist die Erzählerin  überzeugt. Was Micòls potentielle Anfälligkeit für geschlossene Systeme ,wie eben den Kommunismus, angeht, war sie davor gefeit, dessen ist sich die Erzählerin sicher, ganz im Unterschied zur Erzählerin selbst, die sich im Verlaufe ihres langen Lebens immer wieder hüten musste vor Verbeugungen. Und die Marschmusik und die Fahnen!