Verfassungsreform: kommt die italienweite Volksinitiative?
Bei der Abhaltung von staatsweiten Volksabstimmungen hat man in Italien immer wieder den Eindruck, es gehe eher darum, möglichst viele Bürger von der Stimmabgabe abzuschrecken als eine demokratische Entscheidung herbeizuführen. Dafür genügt ein Blick auf die Amtstafeln und die amtlichen Referendumsplakate. In verklausulierter Form wird das Abstimmungsthema angekündigt, dann folgen die formalen Abstimmungsregeln. Nirgendwo sieht sich der Staat oder auch die Gemeinden in der Pflicht, eine für den Normalbürger verständliche Erläuterung der Sachfrage zu bieten, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, jedem Wähler eine Info-Broschüre mit Pro und Contra ins Haus zu senden. Der Staat gibt zwar 300 Millionen Euro für dieses Referendum aus, sieht sich aber nicht verpflichtet, die Bürger korrekt über das zu lösende Problem zu informieren. Es gibt sogar ein Staatsgesetz (Gesetz Nr. 28, vom 22. Februar 2000), das es der öffentlichen Hand verbietet, jegliche Art der Kommunikation mit Ausnahme der technischen Abwicklung der Wahlhandlungen vorzunehmen. In diesem Sinn bringt die Webseite des Innenministeriums (www.interno.gov.it), nur Hinweise und FAQs zu den Abstimmungsmodalitäten, statt über die Sachfrage ausgewogen zu informieren.
Eine Ausnahme bilden nur die Belangsendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also der RAI. Dort gibt es auf Italienisch einige „spazi autogestiti“ der Promotoren und Gegner der Referendumsfrage. Für Südtirol wäre somit die RAI Südtirol in die Pflicht gerufen, Infos auch auf Deutsch und Ladinisch zu bieten bzw. den lokalen Promotorenvertretern diese Chance zu geben. Fehlanzeige, es gibt sie nicht. Daraufhin hat sich ein Bozner Wähler bei der italienischen Regulierungsbehörde für die Telekommunikation AGCOM beklagt und darauf hingewiesen, dass der Großteil der Südtiroler Fernsehzuschauer (und Gebührenzahlerinnen) die italienischen RAI-Kanäle gar nicht nutzt. Auch von der lokalen Aufsichtsbehörde (Landesbeirat für das Kommunikationswesen) wurde mitgeteilt, dass man deutsche und ladinische Sendungen während der Abstimmungskampagne leider nicht bedacht habe. Südtirols Wählerschaft wird zwar für die Erreichung des Quorums in ganz Italien nicht entscheidend sein, aber dennoch geht es hier um eine Missachtung von Bürgerrechten und um eine Geringschätzung der direkten Demokratie. Genauer gesagt: es ist die Missachtung von Rechten von Sprachminderheiten bei der Ausübung von direkter Demokratie.
Die Regierung Renzi hat auch die gestern verabschiedete Verfassungsreform nicht dafür genutzt, die Volksabstimmungen aus Staatsebene bürgerfreundlicher zu regeln, etwa durch Abschaffung des Quorums und Erweiterung des Instrumentariums. Vier Beispiele dafür:
- Das Beteiligungsquorum von 50% – ein echtes „ammazzareferendum“ – bleibt in der Regel. Nur wenn mehr als 800.000 Unterschriften gesammelt werden, sinkt das Quorum auf 50%+1 der Beteiligung der vorangegangenen Parlamentswahlen.
- Die Beteiligung ließe sich erhöhen, wenn Volksabstimmungen mit anderen Referenden (z.B. das bestätigende Verfassungsreferendum im Herbst 2016) oder mit Kommunalwahlen zusammengelegt werden könnten. So werden fürs Referendum 300 Mio. Euro ausgegeben, aber höchstwahrscheinlich kein gültiges Ergebnis erzielt.
- Um dem Parlament ein Volksbegehren (ohne Volksabstimmung) vorzulegen, werden künftig 150.000 Unterschriften statt bisher 50.000 gefordert. Allerdings sieht die Verfassungsreform endlich vor, dass das Parlament (Kammer), die Volksbegehren binnen einer präzisen Frist behandeln muss, im Unterschied zum bisherigen Missstand, wo die meisten Volksbegehren liegen blieben.
- Den einzigen Lichtblick bildet der neue Art.75 Verf.: "Al fine di favorire la partecipazione dei cittadini alla determinazione delle politiche pubbliche, la legge costituzionale stabilisce condizioni ed effetti di referendum popolari propositivi e d’indirizzo, nonché di altre forme di consultazione, anche delle formazioni sociali. Con legge approvata da entrambe le Camere sono disposte le modalità di attuazione». Damit wird - theoretisch - die Möglichkeit der echten Volksinitiative auf Staatsebene eingeführt, allerdings ihre Gestaltung dem Parlament mit weiterem Verfassungsgesetz überlassen. Warum hat man nicht an dieser Stelle das demokratische Grundrecht auf Volksinitiative festgeschrieben und nur seine Ausgestaltung dem Parlament überlassen?
So finden sich von den Vorschlägen des Komitees „Quorumzeropiudemocrazia“ nur wenige Spuren in der soeben verabschiedeten Verfassungsreform. Eine echte Gesamtreform der direkten Demokratie auf Staatsebene würde anders aussehen, wie in der POLITiS-Publikation „Più potere ai cittadini“ (2014) dargelegt. Es steht zu hoffen, dass das Parlament die neue Chance ergreift, und baldmöglichst die italienweite Volksinitiative einführt und bürgerfreundlich regelt.