Politica | Nach dem Votum gegen die Personenfreizügigkeit

Die Schweiz tickt anders

Eine knappe Mehrheit der Eidgenossen will eine Kontingentierung des Ausländerzuzugs. Obwohl sie 2005 und 2009 der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU zugestimmt haben, haben sie jetzt kalte Füße bekommen, weil immer mehr EU-Bürger zuwandern (Ausländeranteil bei 23,3%). Sind die Schweizer Opfer von fremdenfeindlichem Populismus geworden oder haben sie, mit den Worten von Minister Schäuble, nur "zunehmend Unbehagen gegenüber einer unbegrenzten Freizügigkeit?" Und - bei aller Kritik an der Schweiz - wer ist eigentlich gemeint? Das Land, die Mehrheit der Stimmbürger, die SVP mit ihrer "Masseneinwanderungsinitiative" oder die dortige direkte Demokratie? Etwas Differenzierung tut not.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

 In Südtirol haben SVP-Vertreter die Schweizer Abstimmung zum Anlass genommen, die direkte Demokratie zu brandmarken. Schon wird das Quorum exhumiert und Dieter Steger meint, die rein repräsentativen politischen Systeme seien der Garant gegen Populismus. Ganz so als blühte der Rechtspopulismus gerade in Ländern, die direkte Demokratie pflegen, und nicht in Frankreich, Ungarn, Holland, Österreich, wo es kaum Abstimmungen gibt. Dahinter steckt die alte Einschätzung, das Volk sei nicht in der Lage, verantwortungsbewusst abzustimmen. Dem Volk sei nicht zu trauen, es sei verführt von Populisten und unmündig, weshalb die Stimmrechte möglichst beschränkt werden sollen.
Da irrt Steger, denn in der Schweiz gibt es seit 1964 immer wieder Abstimmungen über Ausländerpolitik, über Asylregeln, über Einbürgerungsverfahren und das Verhältnis zur EU. Diese Abstimmungen gingen sehr wechselhaft aus. 2005 und 2009 waren die Schweizer pro Freizügigkeit, dann hatte 2009 die Minarett-Initiative Erfolg. Mal wurden SVP-Anträge angenommen, mal abgelehnt. Kaum ein Land hat sich so intensiv mit diesen Fragen befasst wie diese Insel in der EU. Und kein Schweizer wird sich vorwerfen lassen, er müsse so stimmen, weil eben von Blocher aufgehetzt. Im Tessin haben 68% der Wähler die SVP-Initiative gutgeheißen, eine Region mit ausgeprägter Tradition republikanischer Freiheiten, deren Bürger jedes Jahr über mehrere Fragen abstimmen. In ganz Italien haben seit 1948 wegen schlechter Regeln ganze 17 regionale Volksabstimmungen stattgefunden. Will Italien die Tessiner vor Populismus schützen? Die Schweiz tickt in Sachen Demokratie etwas anders: wenn der Souverän nach langer Debatte gesprochen hat, müssen die Politiker eine Lösung im Einklang mit der Mehrheitsmeinung finden. Wenn bei uns die Bürger nicht nach dem Geschmack bestimmter Politiker abstimmen, wird unterstellt, dass sie Populisten auf den Leim gegangen sind und die direkte Demokratie eingeschränkt gehört. Gleichzeitig führt man dieselbe Politik weiter, wie in Italien mehrfach geschehen (z.B. bei der Parteienfinanzierung, 1993 per Referendum abgeschafft, zur Hintertür wieder eingeführt).


Freilich liegt die 50,3%-Mehrheit der Schweizer vom letzten Sonntag falsch mit ihrem JA. Auch in der Schweiz gibt es Ausländerfeindlichkeit, genauso wie in der EU. Viele Schweizer fürchten eine Überschwemmung des Arbeitsmarktes, Lohndumping, Konkurrenz der Kleinunternehmen, Überbeanspruchung des Sozialstaats. Alles wie in Österreich und in Norditalien. Die SVP will im Grunde zurück zum Saisonnier-Status, also ganz nach Bedarf Ausländer holen und wieder verschicken. Man gewinnt den Eindruck, die Schweiz will von der EU profitieren - Handelsaustausch, Kapitalimport, auch Auslandsschweizer genießen die Freizügigkeit in der EU - aber keine Gegenleistung erbringen. Für die Bürger- und Sozialrechte der Ausländer in der Schweiz wird die Umsetzung der SVP-Initiative ein gewaltiger Rückschritt.

Jenseits des wohlfeilen Schweizer-Demokratie-bashings hat auch die direkte Demokratie dort ihre Schwächen. So sind eben gut 20% der Bewohner vom Stimmrecht ausgeschlossen, weil sie nicht Staatsbürger sind; so gibt es bei Abstimmungskämpfen immer noch zu viel Macht für Finanzstarke wie Blocher; so gibt es einen noch unzureichenden Grundrechtsschutz bei Volksinitiativen; und auf Bundesebene fehlt immer noch die Gesetzinitiative und das konstruktive Referendum. Für die politische Bildung kann auch die Schweiz mehr tun. Doch kein Zweifel: in der Schweiz ist das Volk der Souverän und kann über die Volksrechte seine Meinung geltend machen. Das werden sich die Schweizer von der EU nicht nehmen lassen, auch wenn sie jetzt einen hohen Preis dafür zahlen.

Thomas Benedikter

Bild
Profile picture for user gorgias
gorgias Sab, 02/15/2014 - 20:55

>Ganz so als blühte der Rechtspopulismus gerade in Ländern, die direkte Demokratie pflegen, und nicht in Frankreich, Ungarn, Holland, Österreich, wo es kaum Abstimmungen gibt. Dahinter steckt die alte Einschätzung, das Volk sei nicht in der Lage, verantwortungsbewusst abzustimmen.<
Durch direkte Demokratie wird weder mehr noch weniger Populismus geschaffen. Direkte Demokratie bietet aber ein Kanal über den Populismus frei ausgelebt werden kann und führt zu so was wie ein Bauverbot für Minarette in der Verfassung.
>Doch kein Zweifel: in der Schweiz ist das Volk der Souverän und kann über die Volksrechte seine Meinung geltend machen. Das werden sich die Schweizer von der EU nicht nehmen lassen, auch wenn sie jetzt einen hohen Preis dafür zahlen.<
Den Zahlen sie bestimmt. Ist das schweizer Volk aber dann wirklich nicht zu blöd um über die eigenen Interessen zu entscheiden? Hier kann man sich gerne die Frage stellen. Auch ist aufzupassen, solche Entwicklungen nicht als "Lernprozesse" zu bagatlisieren. Es gibt auch historische Entscheidungen, die nicht mehr reversibel sein können.
Aber eine Sache bin ich mir sicher und darin ist die Schweizer Bevölkerung besser: Wenn es darum ginge das Gesetz für direkte Demokratie zu ändern, würde es sicher eine höhere Wahlbeteiligung als 24,6% Prozent geben. Ich kann mir gut auch 80-90% Prozent vorstellen.
Ein Volk das nicht für seine Freiheiten und Rechte bereit ist zu kämpfen (oder auch nur sich zu informieren um sie so wie das Abstimmungsrecht zu beanspruchen) hat sie im Grunde nicht verdient und ist dafür nicht reif genug.

Sab, 02/15/2014 - 20:55 Collegamento permanente