Gewissensfragen
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Im Gastspiel des Schauspiels Hannover, das gestern und heute Abend im Bozner Waltherhaus gezeigt wird, werden wir mit der Unabsehbarkeit unseres Handelns konfrontiert. Die Ausgangsprämisse ist recht schnell erklärt: Die Ärztin Ruth Wolff (Johanna Bantzer, kalt-rational gespielt, aber mit einem hintergründigen Gefühlsleben) verweigert einem Pfarrer (Hajo Tuschy, als Gegenspieler voll religiösem Eifer) den Zutritt zu einem Krankenzimmer, weil sie es für die Patientin für das beste hält. Das 14-jährige Mädchen stirbt in Folge einer Sepsis, zu der es nach einem missglückten, im Alleingang durchgeführten Schwangerschaftsabbruch kommt und ein Shitstorm folgt, der zusehends wächst und den Dingen neue Bedeutung zuschreibt.
Die Sache ist, auch wenn es sich bei Dr. Wolff unumstritten um eine Koryphäe handelt, heikel, da die Privatklinik, an der sie als Abteilungsleiterin nach einer Heilung für Alzheimer forscht, auf private Geldgeber angewiesen ist. Auch die Gesundheitsministerin, welche Ruth Wolff aus dem Studium kennt, gilt es milde zu stimmen, da das Geld für ein neues Krankenhausgebäude auf der Kippe steht. Und selbst, wenn wir zu Beginn des Stücks vornehmlich „Götter in Weiss“ (für das Stück grün gekleidet; Kostüm: Annabelle Witt) unter sich sehen, so beginnt rasch das Spiel mit den Zuschreibungen. Für dieses Spiel hat das Stück eigene Regeln und arbeitet stark mit sogenannten Gegenbesetzungen: Geschlecht, Ethnie, sexuelle Orientierung und religiöse Zugehörigkeit werden von den Schauspielern entkoppelt und vergeben, als hätte sie jemand vor Vorstellungsbeginn ausgelost. Bis auf Dr. Wolff sind dabei alle übrigen acht Schauspielerinnen und Schauspieler mehrfach im Einsatz und spielen zum Teil mit Wolff solidarische Kolleginnen und Kollegen, während sie wenig später auf der Anklagebank Platz nehmen.
Das macht es nicht immer leichter, den raschen Wortwechseln zu folgen, schärft aber den Blick auf ein Stück, welches zugegebenermaßen gerade im zweiten Teil des Abends mehr und mehr mit Überspitzungen arbeitet. Die Regie Stefan Puchers, der die moderne Neuinterpretation Schnitzlers von Robert Icke als zweieinhalbstündiges Stück (Pause mitgerechnet) auf die Bühne bringt, lässt die Personen auf der Bühne einander ins Wort fallen, Vorwürfe erheben und sich missverständlich ausdrücken. Bis kurz vor Schluss glauben wir, ein Stück über die Unüberwindbarkeit von Differenzen und das Scheitern von Kommunikation zu sehen.
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Darüber reden
Braut sich in der ersten Hälfte des Stückes der Shitstorm gegen die jüdische Ärztin, die einen schwarzen (von der Hautfarbe erfahren wir erst spät) Priester in der Vergabe der Sterbesakramente behindert hat noch auf, so hat er in der zweiten Hälfte seinen unschönen Höhepunkt erreicht. Die Handlung tritt zurück - es passiert recht wenig - und die Themen des Stückes werden neu ausgehandelt und vertieft, erst in einem klassischen Talkshowformat, wie wir es kennen, dann in einem Vieraugengespräch, das eine überraschende Annäherung zwischen den Standpunkten zweier Figuren ermöglicht.
Freilich, zum „Brüllen“ komisch ist das Stück nicht, dafür ist das Minderheiten- und Diskriminierungsbingo mit wechselnden Figuren zu unbequem. Wir entspannen uns nie gänzlich im Theaterstuhl und lachen kaum instinktiv mehr mit einer Sekunde Bedenkzeit, was wenig Erleichterung schenkt und auch nicht immer ganz nachvollziehbar ist. Für viele Boznerinnen und Bozner scheint allein der Begriff „Postkoloniale Studien“ ausgesprochen witzig zu sein. Am Ende geht es aber auch genau um diesen ausgesprochen „postkolonialen“ Punkt: Man erhält im Theater Gelegenheit, sich der eigenen Position und der mit ihr verbundenen Vorurteile bewusst zu werden und möglicherweise ein Stück weit von ihnen abzukommen.
Dass dieser Schritt mit großen Schwierigkeiten verbunden sein kann, wird uns auf der Bühne gezeigt. Unabhängig davon, ob wir mit der Entscheidung von Ruth Wolff einverstanden sind, wir verstehen, dass sie mit reinem Gewissen und in der Überzeugung gehandelt hat, dies als Ärztin zu tun, um einem Mädchen in ihren letzten Minuten das Ableben zu erleichtern. Ob ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer anderen bei der Entscheidung eine Rolle gespielt hat, ist sekundär Viel wichtiger ist es, dass gezeigt wird, dass auch wenn man selbst sich für oder gegen einen offenen Umgang mit und das Ausleben der eigenen Identität entscheiden kann, sich dennoch die Außensicht auf uns der eigenen Kontrolle entzieht. Online Echo-Kammern verstärken diesen Effekt noch zusehends.
„Die Ärztin“ ist moderner als Schnitzlers Skandalstück „Professor Bernhardi“ von 1912 auch darin, uns zu zeigen, dass Gruppen-Zugehörigkeiten nicht singulär sind und einander nicht ausschließen müssen. Die schier endlose Zahl an möglichen Schnittmengen lässt dabei den einen oder die andere vielleicht vor unbestimmter Angst erzittern. Eine mögliche Gefahr im Stück, die für mich persönlich besorgniserregender ist, wird von Wolff geäußert: Was macht das mit uns, als Gesellschaft, wenn wir unsere Identität immer stärker und feinmaschiger auf der Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Kreis aufbauen? Verschließen wir uns so nicht auch gegenüber anderen? Das Thema, das sich seit dem Beginn des digitalen Zeitalters zusehends verschärft, kann nicht einfach ignoriert werden, muss aber vorsichtig angegangen werden. Diese mögliche Zukunft klingt nicht nach einer, in der man leben möchte.
Das Gastspiel „Die Ärztin“ des Schauspiels Hannover beim Südtiroler Kulturinstitut wird heute Abend, 14. März, noch einmal im Bozner Waltherhaus gezeigt. Beginn der Vorstellung ist um 20 Uhr, eine Einführung findet ab 19.30 Uhr im Untergeschoss statt.