„Wir sind eben unvermeidbar“
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SALTO: Sie leiten das Kulturarchiv Oberengadin, in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Südtirol. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Kurt Gritsch: Abwechslungsreich. Mal spreche ich mit Menschen, die uns einen interessanten Nachlass schenken wollen, dann bin ich wieder in den Archivräumen anzutreffen. Ich arbeite mit dem Vorstand zusammen an der Weiterentwicklung des Archivs, vertrete es gegenüber der Öffentlichkeit, bin aber gleichzeitig auch für Forschung und Publikationen aus unseren Beständen verantwortlich.
Neben der Sicherung von Dokumenten besteht eine unserer Hauptaufgaben darin, Archivalien öffentlich zugänglich zu machen, weshalb wir kontinuierlich Neueingänge inventarisieren und für die Online-Suche bereitstellen. Ich kümmere mich aber auch ums Fundraising und organisiere mit meinem Team Ausstellungen – aktuell arbeiten wir an einer Foto-Ausstellung zum Thema „Splendur e Sumbriva“, Licht und Schatten. Und dann steht uns dieses Jahr ein großer Umzug bevor – wir werden voraussichtlich ab Sommer 2024 vom bisherigen Standort in Samedan nach Zuoz in die neu restaurierte Chesa Planta ziehen.Sie leben mit Ihrer Frau seit nun doch einigen Jahren in der Schweiz. Welchen Stellenwert hat Kultur in dieser Gegend, beispielsweise auch im Vergleich zu Ihrer Herkunftsgegend Südtirol?
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Kultur ist im Engadin wichtig, was z. B. daran ersichtlich ist, dass es eine sehr hohe Anzahl an Museen, Galerien und Veranstaltungseinrichtungen für Literatur, Kleinkunst oder Musik gibt. Das hat einerseits mit dem Kulturtourismus zu tun, andererseits aber auch mit der hohen Zahl von Kunstschaffenden aus dem In- und Ausland, die seit der Belle Époque im Engadin gelebt oder dort regelmäßig lange Aufenthalte verbracht haben, denken wir an Giovanni Segantini, Mili Weber, Hermann Hesse, Friedrich Nietzsche, Richard Strauss, Erich Kästner, Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt oder Claudio Abbado, der im Fextal im Oberengadin seine letzte Ruhe gefunden hat.
Daraus sind oft Gedächtnisinstitutionen entstanden, z. B. das Mili-Weber-Haus, das Nietzsche-Haus oder das Segantini-Museum. Und wichtige Nachlässe von Engadiner Künstler*innen wie Steivan Liun Könz oder Annamaria Reinalter lagern im Kulturarchiv Oberengadin.Die Gründung von Kulturarchiven begünstigt zweifelsohne die Erhaltung wichtiger Quellen für zukünftige Forschung, sie schärft das gesellschaftliche Bewusstsein für die Dokumentation der Vergangenheit und stärkt das Geschichtsbewusstsein.
Welche Rolle spielt der Kulturtourismus?Bis heute sind große Hotels auch als Kulturveranstalter aktiv, in St. Moritz wurde vor kurzem ein Sänger als Gemeindepräsident wiedergewählt. Ich denke, das zeigt durchaus eine gewisse Bedeutung von Kultur, gerade auch als Wirtschaftsfaktor, wenngleich natürlich auch im Engadin die Kultur beständig ihren Platz behaupten muss, weshalb jüngst der Verein Chesas da Cultura Engiadina (Kulturhäuser des Engadins) gegründet wurde, der u. a. die Museumsnacht koordiniert. Auch in Südtirol gibt es ein breites Kulturangebot, vielleicht mit dem Unterschied, dass im Engadin der Kulturtourismus eine größere Rolle spielt.
Wie handhaben Sie als Archivar die Angelegenheit der Minderheitensprache Rätoromanisch? Wie geläufig ist sie Ihnen?
Romanisch ist im Engadin keine Minderheitensprache, sondern eine Mehrheitssprache. Es ist zudem neben Italienisch und Deutsch eine der drei offiziellen Sprachen im Kanton Graubünden. Das Kulturarchiv Oberengadin führt romanischsprachige Quellen als eigenen Sammlungsschwerpunkt, d. h. Dokumente in romanischer Sprache – das Idiom Puter im Oberengadin, Vallader im Unterengadin – machen einen Gutteil unserer Archivalien aus. Ich kann Vallader und Puter – ausgesprochen mit langem e – verstehen und auf Verständigungsebene sprechen. Wir hatten auch schon eine Vorstandssitzung auf Puter, weil außer mir alle romanischer Erstsprache sind. Und auch wenn die Engadiner Romanen sehr gut Deutsch sprechen, ist hier auch eine gewisse Sprachsensibilität gefordert, die den Südtiroler*innen ja auch nicht völlig fremd ist.
Im Bestand des Archivs findet sich auch eine Arbeit über „Frauen-Migration von Südtirol nach Graubünden in der Nachkriegszeit“. Was wissen Sie dazu?
Die Historikerin Martina Rüegg hat für dieses Buch sechs Interviews mit Südtirolerinnen geführt, die nach Graubünden migriert sind. Alle sechs stammen aus Gemeinden des oberen Vinschgaus. Rüegg hat hier den Fokus auf eine wichtige Realität gelenkt – bis heute arbeiten im Engadin sehr viele Vinschger*innen. Darüber hinaus leben viele Südtiroler Arbeitsmigrant*innen in Graubünden und in der gesamten Schweiz. Die spezifischen Erfahrungen von Frauen wurden bisher auch in der Migrationsforschung noch zu wenig beleuchtet.
Ich werde manchmal im Engadin gefragt, warum es hier viele Südtiroler*innen gibt – wobei die singulär größte Migrant*innengruppe aus Portugal stammt und die zweitgrößte, historisch und gegenwärtig, aus dem Veltlin, der heutigen Provinz Sondrio. Ich antworte dann meistens: „Tja, wir Südtiroler*innen sind eben unvermeidbar.“ Tatsächlich steht diese Migration in der Tradition jahrhundertealter Mobilität im rätischen Dreieck.
Wir Südtiroler*innen können auf der Suche nach besseren Perspektiven jederzeit den Staat wechseln, das Migrationsregime erlaubt uns das.
Sie sind einst selbst von Naturns in die Schweiz migriert, haben sich auch ausführlich und publizistisch mit Migrationsgeschichten beschäftigt. Welche Rolle spielen Aus- und Einwanderung aktuell in Ihrem Leben?Ich habe in der Vergangenheit an verschiedenen Orten gelebt, studiert, gearbeitet, u. a. in Innsbruck, in Rom, im Val Müstair, in Chur und in Wien. Ich gehöre zu den privilegierten Migrant*innen – als EU-Bürger*innen steht uns quasi die ganze Welt offen. Dieses Glück haben viele Menschen aus Ländern außerhalb der EU nicht. Wir Südtiroler*innen können auf der Suche nach besseren Perspektiven jederzeit den Staat wechseln, das Migrationsregime erlaubt uns das. Wenn wir einen besseren Job wollen, können wir ganz legal ins Ausland reisen, uns eine Wohnung suchen und zu arbeiten beginnen.
Wenn man etwas polemisch sein möchte, dann sind wir die Wirtschaftsflüchtlinge – übrigens schon seit mehreren Generationen, wenn man bedenkt, dass Südtirol bis 1990 einen negativen Wanderungssaldo aufwies, also mehr Menschen aus- als eingewandert sind. Meine eigene Migrationsgeschichte hat hier meiner Forschung im Bereich Mobilität und Migration einen zusätzlichen Impuls verliehen, auch wenn ich aktuell sesshaft bin – wir wohnen jetzt seit zwölf Jahren im Engadin und sind vor sieben Jahren das letzte Mal umgezogen.Welche Berührungspunkte mit Südtirol finden sich außerdem in Ihrem Kulturarchiv? Etwa auch Jenische Geschichten?
Zur Geschichte der Jenischen haben wir nur sehr wenig, aber das Rätische Museum in Chur hat 2021 eine beeindruckende Sonderausstellung dazu gezeigt. Vom Glück vergessen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Graubünden widmete sich der bedrückenden Geschichte der Jenischen, denen man als sogenannte Fahrende z. B. die Kinder wegnahm, aber auch Menschen in Anstalten einwies, weil die Gesellschaft sie als „Landstreicher“ verachtete. Uschi Waser, selbst ehemaliges sogenanntes „Kind der Landstrasse“ und heute Präsidentin der Stiftung „Naschet Jenische“, hat dazu einiges aufgearbeitet.
Ein besonderer Bestand in Ihrem Archiv ist das Schaffenswerk der früh verstorbenen Künstlerin Annamaria Reinalter. Was macht den Bestand so besonders?
Annamaria Reinalter stammte aus Brail in der Gemeinde Zernez. Sie ist in ihrem kurzen Leben – sie kam 1959 zur Welt und ist bereits 1977 gestorben – als äußerst begabte junge Frau aufgefallen. Sie hat das Zeichnen bei Alois Carigiet gelernt – er wurde u. a. durch seine Illustration des Kinderbuchs „Schellenursli“ von Selina Chönz berühmt – und die im Wandel begriffene Welt der Bergbauern künstlerisch reflektiert und dargestellt.
Darüber hinaus stelle ich fest, dass Kultur immer mehr Menschen interessiert, wenngleich oft auch erst ab einem gewissen Alter.
„Annamaria – Zeichnungen einer verlorenen Welt“ heißt der Film, den mein Archivkollege, der Filmemacher Gian-Nicola Bass, dazu gestaltet hat und der bereits zweimal auf 3sat ausgestrahlt wurde – erst kürzlich wieder.
Das Kulturarchiv Oberengadin verwaltet Annamaria Reinalters Nachlass, darunter verschiedene Zeichnungen und Skizzen, aber auch Briefe, Postkarten, Fotoalben oder Spielsachen. Daraus lässt sich Leben und Werk der jungen Künstlerin nachzeichnen, die sonst vielleicht in Vergessenheit geraten wäre.Wären Kulturarchive für größere Landstriche auch für Südtirol – etwa Vinschgau, Pustertal, Eisacktal, Unterland – interessant?
Ich denke, dass Kulturarchive grundsätzlich sehr interessant sind, weil sie auf regional begrenztem Raum eine Bandbreite von Inhalten abdecken können, die durch die gängigen Archive nicht dokumentiert werden. Ähnliches gilt auch für Regionalmuseen, sofern sie ein breit ausgerichtetes Sammlungskonzept aufweisen. Die Gründung von Kulturarchiven begünstigt zweifelsohne die Erhaltung wichtiger Quellen für zukünftige Forschung, sie schärft das gesellschaftliche Bewusstsein für die Dokumentation der Vergangenheit und stärkt das Geschichtsbewusstsein. Ein Kulturarchiv ist in gewissem Sinne das kulturelle Gedächtnis einer Region.
Für gute Kulturarbeit benötigt es natürlich auch ausreichend finanzielle Mittel, wie auch Aufgeschlossenheit und Sensibilität für kulturelle Themen und Vielfalt. Warum in Kultur investieren?
Die idealistische Antwort lautet, dass eine Gesellschaft ohne Kultur auf Dauer verarmt und sich damit selbst ihrer Möglichkeiten beraubt. Und das ist ja auch nicht von der Hand zu weisen. Die pragmatische Antwort hingegen ist, dass sich Kultur zum Wirtschaften eignet und Rendite bringt. Das wurde z. B. im Tourismus vielerorts bereits erkannt. Darüber hinaus stelle ich fest, dass Kultur immer mehr Menschen interessiert, wenngleich oft auch erst ab einem gewissen Alter.
Was bleibt von mir, wenn ich einmal nicht mehr bin? Kultur überdauert.
Ich denke, wenn wir unsere primären Ziele im Leben erreicht haben, stellt sich oft die Frage, was jetzt noch kommt. Und genau in diesem Moment entdecken viele Menschen die Kultur für sich. Jenseits der klassischen Felder Musik, Literatur oder Malerei geht es dann um die Frage nach der Familiengeschichte, nach dem eigenen Vermächtnis, nach Sinnhaftigkeit im Leben. Kultur bietet uns durch ihre zahlreichen Formen ein Universum an Möglichkeiten. Es reicht schon fast an das Metaphysische heran. Was bleibt von mir, wenn ich einmal nicht mehr bin? Kultur überdauert.Was für Südtirol Typisches vermissen Sie in der Schweiz? Auf was können Sie gut verzichten?
Manchmal vermisse ich den Dialekt in einer Gruppe. Aber dafür entschädigt mich das Engadin mit seiner Vielsprachigkeit – gut Italienisch zu sprechen, ist gerade im Oberengadin ein großer Vorteil. Gut verzichten könnte ich auf die Südtiroler Bürokratie, aber die ist leider unvermeidbar, wenn man beruflich mit der Provinz Bozen zu tun hat. Ich stelle auch fest, dass öffentliche Debatten in Südtirol zunehmend härter geführt werden, beispielsweise beim Thema Hund. Da ist die Schweiz doch viel entspannter.
Neues Sammlungskonzept 2024Zu den Sammlungsschwerpunkten des Kulturarchiv Oberengadin gehören besonders Schriftdokumente (Korrespondenzen, Manuskripte, Programme, Protokolle, Typoskripte, Skizzen, Verträge usw.) sowie Bilder (Fotografien, Grafiken, Karten, Plakate, Zeichnungen usw.) mit regionalem Bezug, also mit Bezug zum Oberengadin und seinen angrenzenden Gebieten, nicht nur, aber vor allem aus den Themenbereichen der Kunst (Architektur, Bildende Kunst, Literatur, Musik usw.), der Naturwissenschaften (Botanik, Geologie, Geographie, Paläontologie, Zoologie usw.), der Geisteswissenschaften (Archäologie, Ethnologie, Geschichte, Romanistik, Philosophie usw.), des Sports, der Politik, der Wirtschaft – mit Schwerpunkt Tourismus und Hotellerie – sowie insbesondere alles, was einen Bezug zur Geschichte der Region aufweist. Dies betrifft Organisationen und Institutionen ebenso wie Vereine oder Einzelpersonen, deren Nachlässe Bezüge zu den Sammlungsschwerpunkten des Kulturarchivs aufweisen.
Die Deakzession, also das Entsammeln, wird ebenfalls im Sammlungskonzept beschrieben, wobei wir uns hier zusätzlich an den Standards des Verbands Schweizer Museen orientieren, der sich seinerseits wieder an den ICOM, an den International Council of Museums, anlehnt. Die Entscheidung darüber, was ausgeschieden wird, fällt in einem mehrstufigen transparenten Verfahren. Meist geht es darum, Objekte, die keinen Bezug zum Sammlungskonzept aufweisen, an eine geeignetere Gedächtnisinstitution, z. B. an ein Museum, weiterzugeben.Articoli correlati
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Danke für das informative…
Danke für das informative Gespräch und Glückauf an Kurt Gritsch im neuen Arbeitsbereich! In Sachen Südtiroler Brain-Drain erwähnen wir der Vollständigkeit halber, dass die höchste Kulturbeamtin Graubündens gleichfalls aus Südtirol stammt: Barbara Gabrielli aus Montan leitet seit 2009 erfolgreich und krisenerprobt das Amt für Kultur.
Kurt Gritsch hat u.a…
Kurt Gritsch hat u.a. aufgezeigt, wo noch unbedingt die Forschung vertieft werden müsste, und zwar über die Jenischen und natürlich auch über unsere Vinschger Karrner, am besten gemeinsam, denn es handelt sich ja um das gleiche Phänomen.