Keine Lust auf Arbeit?
Immer mehr Menschen in Italien sind arbeitslos. Mit dem Ende des Entlassungsverbotes am 30. Juni wird die Zahl der Arbeitslosen – zumindest kurzfristig – weiter steigen. Gleichzeitig häufen sich in den italienischen Medien die Berichte über fehlende Arbeitskräfte im Tourismus, der Gastronomie und anderen kürzlich wiedereröffneten Sektoren. Schuld sei, so sind sich Vertreter der Lega und des Partito Democratico (PD), aber auch namhafte Wirtschaftsvertreter einig: der reddito di cittadinanza, der junge Menschen dazu verleite, sich auf staatlichen Zuschüssen auszuruhen und Arbeitsplätze zu verschmähen.
Auf der anderen Seite weisen Arbeitsgewerkschaften, aber auch Medienvertreter oder Sozialwissenschaftler darauf hin, dass der reddito di cittadinanza mit maximal 780 Euro pro Person (Beträge, die meist weit geringer ausfallen, da sie pro Familie berechnet werden) nur knapp über der absoluten Armutsschwelle liegt und somit mit einem angemessen bezahlten Arbeitsplatz nicht konkurriert. Das Problem liegt also nicht bei der staatlichen Mindestförderung, sondern in einer wirtschaftlichen Realität, die angemessen Arbeitsangebote – solche mit einer der Leistung und Arbeitszeit entsprechenden Bezahlung, die aber auch persönlichen Bedürfnisse der Arbeitskräfte respektieren – vermissen lässt. “Ein Mismatch”, also eine fehlende Übereinstimmung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, das im Moment verschärft in den Vordergrund tritt, der aber schon jahrelang schwelt. Auch in Südtirol beobachten Vertreter der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung eine ähnliche Entwicklung.
Kurzfristige Symptome, strukturelle Probleme
Wie der Direktor des Amts für Arbeitsmarktbeobachtung, Stefan Luther, erklärt, seien die momentanen Schwierigkeiten, Arbeitsangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen, nicht verwunderlich: “Gastronomie und Tourismus mussten sehr schnell wieder hochgefahren werden. In einer Situation, in der alle gleichzeitig auf der Suche nach Personal sind, sind gewisse Anfangsschwierigkeiten zu erwarten”, so Luther. Es entsteht also eine Art Flaschenhals, wo Angebot und Nachfrage in einem relativ kurzen Zeitfenster aufeinandertreffen müssen.
Gleichzeitig weist Luther aber darauf hin, dass das Mismatch zwischen Arbeitgebern und potenziellen Arbeitnehmern auch in Südtirol ein tiefergreifendes strukturelles Problem darstellt. “Auf der einen Seite werden Arbeitskräfte gebraucht, auf der anderen Seite stehen die potenziellen Arbeitnehmer, die aber nicht die richtigen Voraussetzungen für die freien Stellen vorweisen können”.
Die verschiedenen Wirtschaftsverbände im Land bestätigen Luthers Bild. Laut dem Präsidenten des Hoteliers- und Gastwirteverbands, Manfred Pinzger, sei es nicht einfach gewesen, die nötigen Arbeitskräfte für die Wiedereröffnung zu finden. Auch deshalb nicht, weil einige langjährige Mitarbeiter durch die langen Schließungen dazu gezwungen waren, in andere Sektoren abzuwandern. “Mittlerweile ist aber Bewegung in den Sektor gekommen. Die meisten Stellen konnten besetzt werden”, so Pinzger.
Der Arbeitskräftemangel sei aber ein Problem, das sich jährlich bestätige. Sowohl für den Tourismus- und Gastwirtschaftssektor wie auch für andere Sektoren. Der Präsident des Wirtschaftsverbands Handwerk und Dienstleister (lvh), Martin Haller, gibt an, dass vor allem Fachkräfte gesucht werden: “Das Problem besteht schon seit einigen Jahren und zieht sich durch verschiedene Sektoren. Im Moment gibt es zudem viel Arbeit, es werden also viele Arbeitskräfte gebraucht. Ausgebildete Fachkräfte sind aber schwer zu finden.” Auch der Vizepräsident des Unternehmerverbandes Südtirol, Harald Oberrauch (Durst Group AG und Alupress AG), beschreibt eine ähnliche Situation. Besser ist die Situation hingegen in der Landwirtschaft: Wie der Direktor des Südtiroler Bauernbundes Siegfried Rinner erklärt, seien keine Engpässe gemeldet worden – auch deshalb, weil es dieses Jahr aufgrund der natürlichen Umstände weniger Arbeit gebe.
"Multidimensionales Problem"
Das staatliche Mindesteinkommen (Rdc) sei, so Luther, kein relevanter hemmender Faktor für die Arbeitsvermittlung in Südtirol. Nur ein Bruchteil der Bevölkerung bezieht den reddito di cittadinanza. Wie Luther zu bedenken gibt, habe aber jede Förderung ungewollte Begleiterscheinungen. “Die Idee kann interessant sein, in der Realität spielen sich häufig aber andere ungewollte Abläufe ab.” Auch bei einer Mietbeihilfe, wie sie in Südtirol existiert, entstehen Kollateralschäden: “Wir wissen beispielsweise, dass eine Mietbeihilfe die Mieten in die Höhe treibt."
Förderungen müssen deshalb als Teil eines größeren Systems analysiert werden, um eventuelle Nebenwirkungen abzuwenden. Der Verlust bestimmter Förderungen sei aber nur ein Element, das die Arbeitsvermittlung in bestimmten Fällen hemmen kann. “Bei 100 Arbeitslosen gibt es 100 verschiedenen Problematiken. Die Probleme sind nicht nur auf eine Dimension wie Ausbildung, Einkommen, Arbeitszeiten oder den möglichen Verlust bestimmter Förderungen reduzierbar, aber all diese Faktoren können eine Rolle spielen.” Die Summe dieser Fälle, so Luther, ist, dass es einerseits Arbeitskräftepotenzial gibt, das nicht ausgeschöpft werden kann. Andererseits kann die Nachfrage nicht befriedigt werden.
Dass ein Mismatch zwischen potenziellen Arbeitnehmern und den freien Arbeitsplätzen besteht, ist, so Luther, an sich nicht problematisch. “In jeder Gesellschaft gibt es dieses Mismatch, das kurzfristig auch sehr gut aufgefangen werden kann. Problematisch ist es, wenn sich die Situation strukturell verfestigt und kurzzeitige Arbeitslosigkeit in Langzeitarbeitslosigkeit übergeht.” Man müsse deshalb, auch was die Folgen der Pandemie betrifft, vor allem auf die Langzeitarbeitslosigkeit achten, die sich in einem bis zwei Jahren abzeichnen wird. Bis dahin gelte es, die Schere zu beobachten und aktiv gegen das Mismatch anzusteuern.
Was tun?
Hier nennt Luther vor allem die Stärkung verschiedener Strukturen, die für aktive Arbeitspolitik zuständig sind: “Es braucht einen Sinneswandel. Wir dürfen nicht immer nur reagieren und reparieren, sondern müssen die Arbeitswelt aktiv steuern und die verschiedenen Akteure zusammenbringen.” Vermittlungsstellen spielen dabei eine zentrale Rolle. Wenn Mitarbeiter wie jetzt 1600 Fälle betreuen, sei es unmöglich, gegen ein Mismatch anzusteuern: “Bei 1600 Fällen kenne ich meine Klienten nicht und weiß also auch nicht, was sie brauchen. Manche Klienten brauchen eine Umschulung, in anderen Fällen hat eine Umschulung wiederum keinen Sinn.”
Um diese Dinge zu verstehen, brauche es, so Luther, engen und direkten Kontakt mit Betrieben und Arbeitnehmern. “Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarkt sind ein komplexes System mit ganz heterogenen Situationen. Wir haben 600 große Berufsbilder mit 30.000 Unternehmen und 220.000 Beschäftigten in Südtirol und jeder Sektor und Bezirk verlangt nach einer eigenen Analyse. Wenn im Pustertal die Autobranche boomt, kann das für den Vinschgau irrelevant sein und wenn im Vinschgau etwas funktioniert, muss das im Pustertal noch lange nicht funktionieren. Es kommt also immer darauf an, wo wir wohnen und in welcher speziellen Situation wir uns befinden.”
Arbeitsunwillige Jugend?
Die Kritik an der jungen Generation, die zusammen mit der Kritik am reddito di cittadinanza geäußert wurde, weisen viele der Befragten zurück. Es gäbe in Südtirol top motivierte junge Menschen, die gut und gerne arbeiten, so Oberrauch und Pinzger. Haller weist auf ein gutes Arbeitsumfeld und Entwicklungsmöglichkeiten hin: "Dann sind junge Menschen auch motiviert, Arbeitsangebote anzunehmen".
Luther betont zudem, dass junge Menschen aufgrund ihres Alters – und den damit einhergehenden begrenzten Arbeitszeit – von vielen Förderungen ausgeschlossen seien. Die Wiedereröffnung vieler Wirtschaftssektoren spiele der jungen Generation in die Hände: "Neue Arbeitskräfte profitieren von der jetztigen Situation", so Luther.
Trotzdem äußern sich auch einige kritische Stimmen: Aufgrund des Arbeitskräftemangels würden junge Menschen bereits vor dem Arbeitsantritt Forderungen stellen, so die Gesellschafterin der Firma Falser KG und Falser Maschinenbau GmbH, Johanna Falser. "Trotz der Tatsache, dass ein Unternehmen sehr viel an Zeit und Kosten auf sich nimmt, um jungen Leuten eine Ausbildung zu ermöglichen, sowie eine sichere Zukunft zu gewährleisten, ist die Wertschätzung und Loyalität größtenteils verloren gegangen. Bei der Akquise von Arbeitskräften ist leider sehr oft die Aussage 'ich will aber!!!' vorrangig und nicht, 'das bringe ich ein und dementsprechend sollte mein Lohn sein' –, eine leistungsgerechte Entlohnung also".
Auch Pinzger äußert Kritik, die sich vor allem gegen den reddito di cittadinanza wendet: "Vor einigen Jahren gab es eine Zusammenarbeit mit Schulabsolventen aus dem Raum Palermo. Wir haben ihnen die Möglichkeit geboten ein Praktikum in Südtirol anzutreten. Der reddito di cittadinanza hat alles kaputt gemacht: Wenn ich zu Hause gleich viel kriege wie beim Praktikum, bleibe ich zu Hause." Kritik am Praktikumsgehalt von 600 Euro wies Pinzger zurück. Das Praktikum sei nämlich, so Pinzger, als Teil der schulischen Ausbildung zu verstehen.
Die Hoteliers erwirtschaften
Die Hoteliers erwirtschaften Millionengewinne und bauen immer größere und teurerer Luxushotels sind jedoch zu geizig, einem Mitarbeiter einen fairen Lohn zu zahlen.
Es gibt keinen Arbeitskräftemangel, es gibt einen Mangel ein fairen Löhnen. Paradoxerweise spielt die Einwanderung aus Osteuropa und dem Nahen Osten/Afrika den Hoteliers auch noch in die Hände.