Società | Gastbeitrag

Das Janusgesicht des Tourismus

Hans Heiss ist nicht nur Politiker und Historiker, sondern auch ein ausgewiesener Tourismus-Experte. Als solcher referierte er bei der gestrigen Anhörung (20. November) im Landtag vor dem III. Gesetzgebungsausschuss zum Thema Tourismusentwicklung im Land.
hans heiss
Foto: SALTO
  • Es erscheint paradox, dass ein florierender Sektor wie der Tourismus in Südtirol unter dauernder Beobachtung und Kritik steht. Aber die Zielkonflikte zwischen stetem Erfolg und Kollateraleffekten haben seit Jahren so stark zugenommen, dass eine nüchterne wie entschiedene Bilanz geboten ist. Genannt werden zehn Vorzüge und zehn Schwachstellen; sie sind nicht vollständig, aber ein nützlicher Behelf.

    1 + Tourismus hat Abwanderung gebremst: Der touristische Sektor hat seit den 1960er Jahren Wohlstand und Einkommenslage landesweit kapillar verbessert. In einer Phase bedrohlicher Abwanderung aus vielen Landgemeinden war die touristische Erschließung ländlicher Räume von ca. 1960 bis 1975 eine probate Gegenstrategie.

    1 - Tourismus heute fördert Abwanderung: Abwanderungsstopp als historische Mission des Sektors ist seit 35 Jahren erfüllt und verkehrt sich ins Gegenteil. Ländliche Räume in Südtirol sind heute erschlossen, strukturell gefestigt und touristisch oft übernutzt. Wieder setzt Abwanderung ein – aus anderen Gründen: aus überteuerten Wohn- und Lebensräumen in andere Wohnorte, sogar außer Landes. Zudem gibt es Wechsel aus touristischen in andere Berufe.

    2 + Tourismus ist ein Faktor von Identität: Er prägt die Identität Südtirols nach außen und innen grundlegend. Die Attraktivität unseres Landes und der touristische Besuch haben Bekanntheit und Ruf der Region in Zentraleuropa gehoben. Der Erfolg hat das Selbstbewusstsein der Südtiroler*innen in allen Sprachgruppen sprunghaft gesteigert.

    2 - … und von übertriebenem Selbstbewusstein. Heute ist die gefestigte Identität weiterhin spürbar, mündet aber in eine Selbstsicherheit, die von Arroganz mitunter nicht allzu fern ist. In Überheblichkeit, die die Lernfähigkeit mindert. Der beschrittene Weg erscheint so erfolgreich, dass Alternativen nicht mehr bedacht werden.

  • Massenströme: Die Kehrseite des Tourismus. Foto: Othmar Seehauser
  • 3 + Südtirols Tourismus durchläuft seit 60 Jahren ein Dauerwachstum, das sich nur kurzzeitig abgeschwächt hat. Die seit 2013 verstärkte Wachstumsspirale eilt von Rekord zu Rekord. Die 2024 absehbaren 37 Millionen Nächtigungen sind nur ein weiterer Zwischenstopp. Südtirols geografische Gunstposition und Marktnähe, Globalisierung und Qualität halten das Land in steter Wachstumsschleife. Die Klimakrise ist ein weiterer Verstärker: Sie treibt die Gäste temperierten und gut bewässerten Regionen zu.

    3 - Das Wachstum des Tourismus belastet viele Bürger*innen. Südtirol hat mit 20,3 Betten pro Quadratkilometer alpenweit die höchste Dichte gastgewerblicher Betten, die stärkste Tourismusintensität und besetzt Rang 4 der tourismusintensivsten Destinationen Europas: Hinter den Ägäischen, den Ionischen Inseln und der kroatischen Küste.  Die touristische Großmacht Österreich zählt 2023 insgesamt 150 Millionen Nächtigungen; Südtirol hat sechs Prozent der Einwohner und acht Prozent der Fläche der Republik, erzielt aber fast ein Viertel der österreichischen Nächtigungen. Im Klartext: Der Massenbesuch ist da, er zeigt sich, abgesehen von den Hotspots, noch halbwegs verteilt, wirkt aber als durchgehende Belastung. 

     

    „Der Massenbesuch ist da, er zeigt sich, abgesehen von den Hotspots, noch halbwegs verteilt, wirkt aber als durchgehende Belastung.“

     

    4 + Tourismus generiert in Südtirol eine breite Palette von Arbeitsplätzen: Rund 40.000 Stellen waren 2023 besetzt, wodurch der Sektor einen wichtigen Puffer gegen Arbeitslosigkeit bildet. Berufs- und Hotelfachschulen bieten qualifizierte Ausbildungsstufen, von der Küche bis zur Managementebene. Auch Beschäftigungsverhältnisse und Lohnstrukturen haben sich im Vergleich zur Vergangenheit deutlich gebessert. Gastfreundschaft und Service übertreffen das Level anderer Destinationen.

    4 - Die Kehrseite der Beschäftigungseffekte: Saisonalität mit einer  begrenzten Zahl von Jahresstellen, verbunden mit hoher Wochenarbeitszeit. Das Lohnniveau ist übertariflich, liegt aber im Schnitt um 20 Prozent unter anderen Sektoren, bis auf den Handel; auch unter Einrechnung von Schwarzzahlungen und Trinkgeldern. Der Wechsel ist hoch, die Zahl der Abbrechenden, die aus Fachschulen in andere Ausbildungsgänge wechseln, beachtlich. Da Mitarbeiter*innen zu 1/3 aus anderen Ländern stammen, sind Unterkunfts- und Wohnungsfragen ein Dauerthema. Ebenso der Fachkräftemangel, der Kampf der Betriebe um Köche und Servicekräfte läuft still, aber beinhart.

  • Gastgewerbe: „Der Kampf der Betriebe um Köche und Servicekräfte läuft still, aber beinhart.“ Foto: Armin Terzer
  • 5 + Mobilitätsgewinne: Tourismus hat das Land durchgreifend erschlossen und die Mobilität strategisch gestärkt: Durch ein Netz von Landes-, Gemeindestraßen und Öffis, ein sensationelles Angebot an Aufstiegsanlagen. Źahlreiche Orte, die noch um 1970 motorisiert schwer erreichbar waren, sind dank der Straßenkommunikation aufgelebt.

    5 – und Mobilitätshorror: Die bereits durch die Einheimischen bei einem Stand von über 950 Pkw auf 1.000 Einwohner entfesselte fossile Mobilität ist eine hohe Grundlast. Sie wird durch den Tourismus verstärkt. Ca. 85 Prozent der An-/Abreise erfolgen mit Pkw, der Tagestourismus kommt hinzu, die Intensität auf Berg- und Passstraßen spottet jeder Beschreibung. Hinzu kommt die niederschwellige Mobilität durch Mountain- und E-Bikes. Modernisierung und Ausbau von Aufstiegsanlagen laufen weiter; es gibt ca. 15 Ausbau-Projekte großen Stils. Zudem als Sahnehäubchen die Wander-Mobilität, mit unentwegten Turnschuh-Kolonnen am Berg und Staustufen in der Saison.

     

    „Zudem als Sahnehäubchen die Wander-Mobilität, mit unentwegten Turnschuh-Kolonnen am Berg und Staustufen in der Saison.“

     

    6 + Inwertsetzung von Natur und Landschaft: Tourismus hat in 150 Jahren ab 1860 ca. Natur- und Landschaft im südlichen Tirol vielfach erst erlebbar gemacht, durch Wege- und Straßenbau wie durch angemessene Unterkünfte. Gasthöfe und Hotels entstanden oft in qualitätsstarker Architektur, die Maßstäblichkeit und Landschaftsbezug in den Mittelpunkt stellte.

    6 - … und ihre systematische Entwertung: Das Gespür für Maßstab und Kontext ist in der touristischen Architektur auf dem Rückzug und hat sich oft ganz verflüchtigt. Trotz überschaubarer Bettenzahlen pro Betrieb ist die Architektur neuer Hotelbauten oft aufdringlich, flächenfressend und zerstört örtliche Bezüge. Die filigrane Landschaft Südtirols in ihrer feinen Differenzierung von Topografie, Kulturflächen, Wald und Bergregionen ist im Alpenraum singulär. Sie verkommt aber häufig zur Benutzeroberfläche für Investments und verkümmert zum visuellen Selbstbedienungsshop für Millionen Selfies.

    7 + Hohe Bauqualität: Bauliche Qualität und Ausstattung vieler Betriebe, vom UaB, über Privatzimmer, Residence/Garni, Pensionen, Hotels bis zur Fünf-Sterne-Klasse sind exzellent - dank Planung, Baumanagement, Handwerkerleistung und Detailpflege. Der Qualitätsdruck zeigt sich im Trend hin zu ****- und *****häusern, wovon Südtirol doppelt so viele wie das Bundesland Tirol hat.

    7 - … aber Klima kein Baufaktor: Die Klima-Kehrseite der Bau- und Investitionsfreude ist der beim Bau entstehende, enorme CO₂-Ausstoß, der sich durch zügige Investitions-Rhythmen im Abstand von vier bis fünf Jahren verstärkt. In Südtirol ist fast doppelt so viel Fläche pro Einwohner versiegelt als in Österreich, mit der Bautätigkeit im Tourismus als wesentlichem Treiber. Zudem ist der Ressourcenverbrauch in der Beherbergung hoch, sogar exorbitant: Der Wasserverbrauch pro Gast liegt auf beinahe doppelter Höhe des Konsums der Ortsansässigen.

  • Historiker, Politiker und Tourismus-Experte Hans Heiss: „Nehmen Tourismusorganisationen, Verbände, Hoteliers und andere die Haltung und Bedürfnisse der Einheimischen zur Kenntnis? Nehmen sie deren Sorgen ernst?“ Foto: LPA/Oskar Verant
  • 8 + Tourismus hebt den Wert von Kulturflächen und Immobilien. Er wirkt vermögenssichernd– und steigernd in ländlichen Räumen, deren Liegenschaftswert in Vergangenheit oft nur den landwirtschaftlichen Ertrags- und Nutzwert erzielte.

    8 - …. und macht sie oft unerschwinglich Die Wertsteigerung von Grundflächen und Immobilien in touristischen Hotspots, auch in Durchschnittsdestinationen, verengt den Zugang zum Wohnungsmarkt für Einheimische und macht ihn für viele unerschwinglich. Ein Blick auf die Angebote etwa des Immo-Edel-Entwicklers Engels & Völkers zeigt, dass die Quadratmeter-Preise nach oben offen sind. Die Preishausse des Immobilienmarkts ist Teil eines in Südtirol allgemeinen Preisauftriebs, an dem Tourismus aber wesentlich Verantwortung trägt. 250.000 Gästebetten steht die chronische Wohnungsnot gegenüber, mit Tourismus als einem der Treiber.

     

    „250.000 Gästebetten steht die chronische Wohnungsnot gegenüber, mit Tourismus als einem der Treiber.“

     

    9 + Tourismus und Landwirtschaft stehen im Nahverhältnis, oft sogar in enger Symbiose. Um 1970 wurde der Umstieg aus der bäuerlichen Landwirtschaft in den touristischen Sektor durch die Raumordnung erleichtert, die Chance zur Errichtung von Garnis und Pensionen eröffnet. Zugleich kam UaB in Fahrt, hat konstant zugelegt und ist italienweit führend. Tourismus hat die Chancen für Vermarktung bäuerlicher Erzeugung und direkte Wertschöpfung gehoben. UaB ist heute ein Markenkern des Tourismus in Südtirol.

    9 - das oft problematisch ist. Neben der bis heute grundlegenden Existenzsicherung, die UaB für viele Hofeinheiten leistet, ist UaB ein Schlupfloch für niedrig besteuerte und als Nebenerwerb getarnte Tätigkeit. Zahlreiche Höfe in ertragreichen Tallagen sichern sich damit eine Einkommensquelle, die üppiger sprudelt als dies nach außen sichtbar wird – zudem mit geringeren Belastungen und Auflagen.

    10 + Die sogenannte „Tourismusgesinnung“ der Südtiroler*innen, ihre Einstellung dem Sektor gegenüber wird seit geraumer Zeit sorgsam beobachtet. Die Resultate sind klar: Ein Großteil erkennt die Bedeutung des Tourismus an und bewertet ihn als grundlegend. Rund 30 Prozent der Befragten aber halten weiteres Wachstum für nicht mehr wünschenswert, lehnen viele Begleiterscheinungen und Kollateraleffekte ab und wünschen Rückbau. Solche Haltungen haben sich letzthin verstärkt, wie Umfragen von Uni-BZ und SWZ klar gezeigt haben.

    10 – Und die „Touristiker-Gesinnung“? In diesem Zusammenhang staunen wir darüber, dass sich die Gesinnungsprüfung auf nur einen Sektor und eine Seite beschränkt. Die Tourismushaltung der Bevölkerung steht als einzige unter Observanz. Niemand fragt hingegen nach der Landwirtschafts-, Industrie- oder Handelsgesinnung der Südtiroler*innen, sondern es wird nur die Sensitivität der Einheimischen im touristischen Sektor gemessen. Dabei ist auch die Frage erlaubt: Warum wird nicht auch die „Touristikergesinnung“ gemessen, die Einstellung und das Verhältnis der im Tourismus Tätigen zu den im Lande Lebenden? Man könnte auch prüfen: Nehmen Tourismusorganisationen, Verbände, Hoteliers und andere die Haltung und Bedürfnisse der Einheimischen zur Kenntnis? Nehmen sie deren Sorgen ernst? Das ist eine Kernfrage, auch der heutigen Anhörung.