Ich darf mich glücklich schätzen.
Meine Familie wohnt rund 200 Meter vom Montiggler Wald entfernt. Das ermöglicht es uns auch trotz der Ausgangssperre einmal am Tag – und wie es sich gehört meistens getrennt - einen einsamen Waldspaziergang zu machen. Auf Wegen, auf denen man selbst unter normalen Lebensumständen kaum jemandem begegnet.
Vergangenen Samstag wurden zwei Familiemitglieder im Montiggler Wald von den Carabinieri angehalten. Sie waren etwa eineinhalb Kilometer von unserem Haus entfernt. Nachdem sich die Beamten nach ihrem Wohnsitz erkundigten, verweisen die Carabinieri freundlich aber bestimmt auf die „neue ordinanza“, die besagt, „dass man sich nicht weiter als 200 Meter vom Wohnsitz entfernen darf“.
Nach diesem Vorfall und weil seit Tagen überall von diesen angeblichen Bestimmungen geredet wird, habe ich mir die Mühe gemacht die Gesetzeslage genauer anzuschauen.
Das überraschende Ergebnis: Diese Bestimmung gibt es nicht. Sie ist in ganz Südtirol völlig frei erfunden. Wenigsten zum bis heutigen Tag.
Jede Ermahnung, Strafandrohung oder gar Sanktion von Seiten der Ordnungshüter ist damit nicht nur hinfällig, sondern eindeutig rechtswidrig.
Diese Bestimmung, dass man sich nur 200 Meter von der eigenen Wohnung entfernen kann, ist in ganz Südtirol derzeit völlig frei erfunden.
Im Dekret von Ministerpräsident Giuseppe Conte heißt es wörtlich:
„L’attività motoria all’aperto è consentita solo se è svolta individualmente e in prossimità della propria abitazione.“
Diese Bestimmung hat auch Südtirol wortwörtlich übernommen. Im letzten Dekret des Landeshauptmannes steht:
„Es ist weiterhin erlaubt, einzeln körperliche Aktivität in der Nähe der eigenen Wohnung durchzuführen, mit der Auflage jedoch, dass der Abstand von mindestens drei (3) Meter zu jeder anderen Person eingehalten wird“.
Das ist die geltende, gesetzliche Regelung,
Damit aber stellt sich eine interessante Frage: Was versteht man unter „in der Nähe“?
Darüber wird man lange streiten können. 10 Meter, 1 Kilometer oder das Gemeindegebiet?
Tatsache aber ist, dass weder in der Verordnung der Regierung noch in der „Dringlichkeitsmaßnahme bei Gefahr im Verzug “ des Landeshauptmannes irgendetwas von 200 Metern steht.
Es kann nicht Aufgabe der Polizei sein, Gesetze so zu interpretieren, wie es den Ordnungshütern gefällt.
Dass es zu diesem 200-Meter-Märchen kommt, hat auch einen konkreten Hintergrund. Den Regionen und den Gemeinden ist er erlaubt, diese staatlichen Vorgaben auch strenger auszulegen. Das haben einige italienische Regionen auch getan: So haben die Präsidenten des Veneto, Friaul, der Marken und auch anderer Regionen in ihrem Dekret wörtlich diese 200 Meter Grenze festgeschrieben. Dort gilt sie. Aber nicht bei uns.
Dazu muss entweder das Land oder die Gemeinde eine schriftliche Verordnung erlassen, in der dieser 200-Meter-Radius steht. Diese Verordnung gibt es aber weder in Bozen, noch in Meran oder Eppan.
Welche Blüten diese Art der Notstandgesetzgebung aber treiben, wird jetzt deutlich. So haben siebzehn Gemeinden in den Abruzzen eine Vorordnung erlassen, in der es erlaubt ist, sich bis zu 400 Meter von seinem Wohnsitz zu entfernen. Dort gilt augenscheinlich eine andere Vorstellung von Nähe.
Oder: Am Montag hat der Leiferer Bürgermeister Christian Bianchi eine Verordnung erlassen, dass Hundebesitzer ihre Hunde bis zu 200 Meter Entfernung von ihrer Wohnung Gassi führen dürfen. Demnach darf man ohne Hund auch weiter weg gehen?
Als mündiger Bürger muss man sich darauf verlassen können, von den Regierenden nicht mit Märchen an der Nase herumgeführt zu werden.
Es geht hier nicht um Erbsenzählerei oder Formalitäten. Ich halte es für wichtig, dass man und frau sich in dieser schweren Zeit an die Vorgaben und Bestimmungen der Institutionen halten.
Nur sollten diese Vorgaben und Bestimmungen vor allem in einer Notsituation so gemacht werden, dass sie klar, deutlich und verständlich sind. Wir stehen mitten in drastischen Einschränkungen elementarster Bürgerrechte, die notwendig sind. Doch die Zuständigen sollten wenigstens formal den richtigen Weg dafür wählen. Es kann nicht Aufgabe der Polizei sein, Gesetze so zu interpretieren, wie es den Ordnungshütern gefällt.
Als mündiger Bürger muss man sich darauf verlassen können, von den Regierenden nicht mit Märchen an der Nase herumgeführt zu werden. Sondern dass Gesetze und Vorordnungen erlassen werden, die Schutz und Rechtssicherheit gleichzeitig gewähren.
Auch in Zeiten des Corona.