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Auf Verschwörungs-Kur

Im Kurhaus von Meran und in touristischen Veranstaltungskalendern tritt ein Star der deutschsprachigen Verschwörungszene auf, der auch den Holocaust verharmlost.
Kurhaus&Passer
Foto: Hannes Prousch

“Ich komme nach Südtirol und spreche am 6. September 2023 um 19:30 Uhr in Meran. Ich freu mich!” So kündigt Daniele Ganser Ende Juni seinen Auftritt auf Facebook an. Weit über 3.000 Usern gefällt der Post, der mit einem Foto der Seceda geschmückt ist. Mehr als 400 Mal wird die Ankündigung geteilt, in den Kommentaren darunter kommen Vorfreude und Dank zum Ausdruck. Wer den Namen noch nie gehört hat, möchte meinen, Daniele Ganser ist ein Star. Das ist er tatsächlich. Und zwar ein Star der deutschsprachigen Verschwörungsszene. Seit Monaten tourt er durch Deutschland, Österreich, die Schweiz – und macht Anfang September in Südtirol Halt. Sprechen will er über die Frage: “Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?” So der Titel des Vortrags, der mit dem Meraner Kurhaus in einem der prestigereichsten Veranstaltungsorte des Landes geplant ist – und von den offiziellen Südtiroler Tourismus-Vermarktern beworben wird. Dabei ist der Schweizer Historiker und selbsternannte Friedensforscher ein nicht minder dubioser Gast als die Burschenschafter, die sich im September in Algund versammeln (wollten).

 

Isoliert erfolgreich durch die Pandemie 

 

“Brandgefährlich”. “Ohne Berührungsängste mit dem rechten Rand”. “Ikone der Verschwörungstheoretiker”. “Star der Andersdenkenden”. “Pseudowissenchaftliche Verführung”. “Halbwahr – wenn überhaupt”. Diese Ergebnisse liefert das Internet, wenn man nach Daniele Ganser und seinen Thesen sucht. Der gebürtige Schweizer ist ein promovierter Historiker und ehemaliger Universitätslehrender, von dem sich die wissenschaftliche Gemeinschaft und akademische Einrichtungen seit Jahren distanzieren. Das Schweizer Onlinemedium bajour schreibt über Ganser: “Von der ETH Zürich fliegt er 2006, nachdem er einen Artikel veröffentlicht, in dem er die These aufstellt, der Terroranschlag vom 11. September 2001 könnte eine von der US-Regierung geplante Operation gewesen sein. Die Uni Basel lehnt sein Vorhaben zur Habilitierung 2008 ab, weil es keinen wissenschaftlichen Standards genüge – und lädt ihn bald nicht mehr als Dozenten ein. Selbst sein Doktorvater wendet sich irgendwann ab.” Doch der 51-Jährige hat sich eine eigene Community aufgebaut – und ein Business-Modell, dank dem er inzwischen zu einem der “einflussreichsten und reichweitenstärksten Verschwörungsideologen im deutschsprachigen Raum” geworden ist, wie die Initiative “Halle gegen Rechts” aufzeigt.

Neben 9/11 sieht der Schweizer auch hinter der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg verschwörerische Kräfte am Werk. Antiamerikanismus und Kritik an den etablierten Medien ziehen sich durch alle seine Erzählungen. Dabei macht er laut Experten von “antisemitischen Sprachbildern” Gebrauch, verbreitet “Positionen der russischen Staatspropaganda” – das Massaker von Butscha bezeichnet er als vermutliche “Fehlinformation” – und relativiert den Holocaust.

 

Ungeimpfte als Armee von Opfern

 

In einem niederländischen Verschwörungsvideo zur Corona-Pandemie wird Ganser danach gefragt, ob es jemals eine mit der in Geimpfte und Nicht-Geimpfte vergleichbare Unterteilung gegeben habe. Seine Antwort: “(…) im Dritten Reich Juden und Nazis, da haben die Nazis gesagt, die Juden, das sind Tiere und haben sie vergast. (…) Das heißt, es gab immer lokal in einzelnen Ländern (…) Wahnsinn. Aber jetzt ist weltweit Wahnsinn. Also das ist neu, dass eigentlich jetzt in der ganzen Welt diese Spaltung zwischen geimpft und ungeimpft ist und dass die zwei Gruppen wie zwei Armeen gegeneinander ziehen.”

Was er erzählt, sind nicht harmlose, spinnerte Geschichten, sondern Bausteine einer gefährlichen, extrem rechten Ideologie, welche Reichsbürger, Neonazis, Querdenker motiviert und Menschen aus einem rationalen, demokratischen Diskurs herauszieht, hinein in eine Parallellwelt aus dunklen Verschwörungen. (“Halle gegen Rechts” über Daniele Ganser)

Die Psychologin Pia Lamberty forscht zu Verschwörungsglauben und ordnet die Worte Gansers im Bayerischen Rundfunk als Versuch ein, Verbrechen zu instrumentalisieren, um Ungeimpfte als Opfer darzustellen: “Die Aussagen von Ganser sind geschichtsrevisionistisch und den Holocaust verharmlosend, und das ist eine Form des Antisemitismus. Es ist hochproblematisch, wenn auf die Frage nach einer gesellschaftlichen Spaltung sofort die Schoah kommt – weil es damals nicht um eine Spaltung ging, bei der zwei Seiten einander gegenüberstanden, sondern um einen brutalen Vernichtungs-Antisemitismus, der auch Staatsdoktrin war und zum industriellen Massenmord an Menschen führte. Auch indem Ganser sagt, die Schoah sei lokal gewesen, verharmlost er sie. Die Logik seiner Aussagen lautet, wenn man es zu Ende denkt: Die Ungeimpften sind die neuen Juden. Solche Aussagen waren auch bei vielen ‘Querdenker’-Veranstaltungen zu hören.”

 

Trigger als Geschäftsmodell

 

Daniele Ganser “ist gebildet genug, um zu wissen, dass der Holocaust nichts mit einer ‘Spaltung der Gesellschaft’ zu tun hat, sondern mit dem rassistischem Furor einer totalitären Diktatur”, schreibt der österreichische Ethnologe und Journalist Christian Kreil im Standard-Blog “Stiftung Gurutest” Ende 2022: “Ganser ist auch intelligent genug, um zu wissen, dass das Schicksal Ungeimpfter nicht mit Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen ist. Aber Ganser ist auch gerissen genug, um zu wissen, wie er seine Szenefans bei Laune halten kann. Diese Menschen sind sehr dünnhäutig, wenn sie ihr angebliches Leid als Ungeimpfte beklagen, beweisen aber einen recht starken Magen, wenn sie sich en passant mit den Opfern eines geplanten, millionenfachen und industriellen Mordes vergleichen. Das geraunte ‘Wir sind die neuen Juden’ der Impfgegner, die ‘Judenstern’-Aufnäher, in denen das Wort Jude mit dem Wort ‘Ungeimpft’ ersetzt ist, verursacht bei den Sausen dieses Soziotops seit fast zwei Jahren Brechreiz. Ganser triggert diese Leute ganz bewusst. Das ist Teil des Geschäftsmodell eines Verschwörungsplauderers.” Und dieses führt den 50-Jährigen nun auch nach Südtirol.

Daniele Ganser Meran 2023
“Lässt sich als Welterklärer abfeiern”: “Bei seinen Vorträgen füllt er trotz hoher Eintrittsgebühren große Säle, um sich mit Headset vor großer Leinwand wie ein smarter Marketingexperte eines Weltkonzerns von seiner andächtig lauschenden Anhängerschaft als Welterklärer abfeiern zu lassen”. Das sagt Klaus Gestwa, Professor und Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen, über Daniele Ganser. (Bild: Screenshot/menschheitsfamilie.at)

 

Für Mittwoch, den 6. September 2023, hat sich der umstrittene Historiker nirgendwo geringeres als im prestigeträchtigen Kurhaus von Meran eingebucht. Ab 19.30 Uhr will er in dem gut 1.000 Personen fassenden Kursaal zur Frage referieren, die den Titel seiner Vortragsreihe trägt, mit der er aktuell im deutschsprachigen Raum unterwegs ist: “Warum ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen?” Dass Ganser “jegliche fachliche Expertise (fehlt), um über dieses Thema öffentlich zu sprechen”, wie der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Basel Frithjof Benjamin Schenk zu Schweizer Medien sagt – Ganser habe nie zu Osteuropa geforscht oder publiziert, spreche weder Russisch noch Ukrainisch und kenne die Region nur aus den Medien und der Sekundärliteratur –, scheint die Fangemeinde nicht zu stören. Ebensowenig die Nähe zur Neonaziszene und zu Rechtsextremisten, die er nicht scheut.

 

Fix im Kalender

 

Als Organisator des Abends in Meran schien bis vor wenigen Tagen Bruno Mandolesi im Veranstaltungskalender des Kurhauses auf. Der Brunecker ist Mitgründer des impfkritischen (und inzwischen aufgelösten) Vereins “Primum non nocere” und unterstützte vor einigen Jahren das Volksbegehren “Impffreiheit statt Impfzwang”, für das Unterstützer rund um den Erstunterzeichner und damaligen Landtagsabgeordneten Andreas Pöder mehr als 15.000 Unterschriften sammelten. 2020 organisierte Mandolesi ein Gespräch mit Ganser – “Unruhige und spannende Zeiten”, so der Titel –, das noch auf dessen Youtube-Kanal zu sehen ist. Ursprünglich war für Juli 2020 eine Veranstaltung in Bruneck geplant gewesen (Thema: “Kann man den Medien noch trauen?”), aber aufgrund der Corona-Bestimmungen habe man sie abgeblasen, meinte Mandolesi damals. Inzwischen ist sein Name aus dem Kurhaus-Kalender verschwunden, nun steht dort die Agentur, die Gansers Tournee organisiert. Die Tickets gibt es nur online, 29 Euro kostet der Eintritt für den zweieinhalbstündigen Vortrag. Für die Saalmiete dürften die Veranstalter an die zweieinhalbtausend Euro bezahlt haben – bei entsprechendem Andrang könnte Ganser an dem Abend etwa zehn Mal so viel einnehmen.

Veranstaltungskalender Kurhaus Meran
Am 19. Juli wurde der Veranstaltungskalender ausgetauscht: zuerst (Screenshot oben) schien Bruno Mandolesi  als Organisator auf, inzwischen (Screenshot unten) die Agentur, die Daniele Gansers aktuelle Tournee managt. (Bilder: Screenshots)

 

Das Kurhaus befindet sich im Eigentum der Stadt Meran und wird vom Meraner Stadttheater- und Kurhausverein geführt. Vereinsmitglieder sind die Stadtgemeinde Meran, das Land Südtirol und die Kurverwaltung Meran. Laut Vereinsstatut können die Räumlichkeiten des Kurhauses von Dritten “für kulturelle, touristische, soziale und wirtschaftliche Veranstaltungen benutzt werden”. Über die Genehmigung der Nutzung entscheidet der Vereinsvorsitzende – aktuelle Präsidentin ist Jutta Telser.
Zusätzlich zu Gansers Ankündigung seines Südtirol-Auftritts in sozialen Netzwerken – auf Facebook hat sie unter anderem der Enzian-Landtagsabgeordnte Josef Unterholzner geteilt, der Grüne Bozner Gemeinderat Norbert Lantschner hat ein “Gefällt mir” gesetzt –, wird dem Schweizer prominente Promotion zuteil. Denn der Vortrag wird auch auf den Webseiten merano-suedtirol.it und suedtirol.info angekündigt. Beide Seiten werden von der Kurverwaltung Meran und IDM Südtirol – zwei öffentlich finanzierte Tourismus-Marketing-Betriebe – betrieben und bespielt und bieten Feriengästen Informationen und Empfehlungen zu Unterkünften, Ausflügen und Veranstaltungen.

Ganser Webseiten IDM
Unter der Dachmarke Südtirol: Kurverwaltung Meran und IDM empfehlen in diversen Veranstaltungskalendern (oben: merano-suedtirol.it unten: suedtirol.info) den Vortrag von Daniele Ganser – als “Friedensforscher” bezeichnet er sich übrigens nur selbst. (Bilder: Screenshots)

 

Im Februar hatte ein Vortrag Gansers zeitweilig auf dem Portal stuttgart-tourist.de gestanden. Die Stuttgart-Marketing GmbH entschuldigte sich dafür, entfernte ihn – und distanzierte sich ausdrücklich von “einer derartigen Veranstaltung”. Wie es auch zahlreiche Stadtverwaltungen getan haben. Darunter Innsbruck.

 

Keine Bühne als Ritterschlag

 

Impfgegner, Corona-Leugner, so genannte Querdenker, Verschwörungstheoretiker – so beschreiben zwei Wissenschaftlerinnen der Universität Innsbruck das Publikum bei Gansers Referaten. Die beiden Slawistinnen haben Ende Jänner Gansers Auftritt in Seefeld besucht. Dorthin musste er ausweichen, nachdem der Innsbrucker Bürgermeister die ursprünglich geplanten Veranstaltungsräumlichkeiten, die mehrheitlich der Stadt Innsbruck gehören, nicht mehr zur Verfügung stellte. Auch anderswo wurden Ganser Locations, die sich in öffentlicher Hand befinden, unter- bzw. abgesagt, etwa in Dortmund, Nürnberg oder Steyr. Die dortige Kulturstadträtin meinte: “Ganser verbreitet Verschwörungstheorien, relativiert die russische Aggression und scheut auch vor geschmacklosen Vergleichen rund um den Holocaust nicht zurück. So jemandem geben wir keine Bühne.” 

In Städten wie Basel, Klagenfurt oder der Region Stuttgart sah man keinen Anlass für eine Absage von Gansers Vorträgen. In Basel organisierten Historiker Ende April eine “Gegenveranstaltung” zu seinen Ukraine-Referaten. “Mitunter ist es schwer auszuhalten, dass bestimmte Zeitgenossen das Recht auf freie Meinungsäußerung bis an die Grenzen des Sagbaren ausloten”, meinte der Oberbürgermeister von Hannover im März bei einer Protestkundgebung gegen den Auftritt Gansers in seiner Stadt. In Hannover hatte man keine Rechtsgrundlage gesehen, um die Genehmigung zurückzuziehen. “Wir müssen das aushalten, dass solche Veranstaltungen nicht zu unterbinden sind – aber wir dürfen sie nicht unkommentiert stehen lassen”, so der zuständige Personalratschef. Für ihre Kritik an Ganser ernten Politiker, Professoren, Wissenschaftler und Journalisten teils heftigen Gegenwind aus Gansers Community.

“Kritik wird von Ganser und seinen Verteidiger*innen grundsätzlich als Versuch diffamiert, unbequeme Stimmen zum Schweigen zu bringen”, analysiert das Dokumentationsarchiv für den österreichischen Widerstand DÖW. “Der Ausschluss aus der seriösen akademischen Gemeinschaft, eigentlich Nachweis der Unhaltbarkeit seiner Arbeitsweise, wird zum Ritterschlag umgedreht und verleiht ihm – vor wissenschaftsskeptischem und verschwörungsaffinem Publikum – erst richtige Glaubwürdigkeit. Die Selbstdarstellung ‘als jemand, der die Fesseln des akademischen Betriebs abgeworfen hat, um weiterhin die Wahrheit sagen zu können’, ist ein zentrales Element seines Appeals – und Geschäftsmodells. Zu letzterem zählen für Vortragsveranstaltungen ungewöhnlich hohe Eintrittspreise (…), mit denen Honorare von mehreren tausend Euro pro Vortrag finanziert werden, und Online-Kurse, deren Teilnehmer*innen dreistellige Eurobeträge für das Ansehen von Videos bezahlen.”

 

Fragen stellen verfängt

 

Mit seinen auf Youtube und Facebook, in Büchern und Vorträgen verbreiteten Thesen kommt der Schweizer in “linken und weltanschaulich diffusen Kreisen” genauso an wie bei rechtsextremen Medienprojekten und -portalen, die er während seiner Vorträge immer wieder als “empfehlenswerte Alternative zu seriösen Medien” bewirbt, stellt das DÖW fest. Zahlreiche Soziologen, Historiker und Wissenschaftler haben sich intensiv mit den Unwahrheiten und Strategien Daniele Gansers beschäftigt, Faktenchecks (z.B. hier im Blog “Volksverpetzer”) seine Erzählungen wiederholt widerlegt. Warum verfängt er trotzdem, bringt tausende Menschen dazu, seiner Community beizutreten – die Mitgliedschaft kostet 365 Euro im Jahr, dafür darf man laut Gansers Webseite “mich ganz nah bei meiner Arbeit (…) begleiten” –, seine Bücher zu kaufen, zu seinen (häufig ausverkauften) Auftritten zu pilgern und dafür stolze Ticketpreise zu bezahlen? 

Mit seinen Erzählungen über die ‘große Angst und die große Angstmacherei’ holt Ganser viele Menschen ab. Denn es gibt einen starken sozialen Wandel, viele große Krisen, führen dazu, dass er sie damit erreicht”, erklärt der Soziologieprofessor Oliver Nachtwey dem Onlineportal SWI swissinfo.ch. Und bajour zitiert zwei Fachleute: “Der Historiker und ehemalige Kollege Gansers an der Universität Basel, Lucas Burkart, erklärt: ‘Ganser stellt keine Thesen im wissenschaftlichen Sinn auf, weil die müsste man belegen können. Er stellt Fragen, sucht willkürliche Hinweise und impliziert, irgendwas stecke im Hintergrund. Was genau, bleibt diffus. Dennoch ist es für sein Standing zentral, seinen Aussagen die ‘Aura der Wissenschaftlichkeit’ zu verleihen.’ Der Experte für Verschwörungsideologien Michael Butter nennt das die ‘Ich stelle ja nur Fragen’-Strategie – eine besonders geschickte Manipulation, weil sie die Zuschauer*innen glauben lässt, sie seien selbst zu einem Schluss gekommen. ‘Ganser ist entweder ein Getriebener oder ein brillanter Geschäftsmann’, sagt Butter.” 
Ob das eine oder das andere, die Diskussion über die Zurverfügungstellung öffentlicher Räume für zumindest zweifelhafte Gäste dürfte nach dem Rückzieher in Algund – die Deutsche Burschenschaft wurde aus dem Thalguterhaus wieder ausgeladen – nicht beendet sein.