Cultura | Interview

Leben und lieben

Der langjährige Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando ist eine Galionsfigur. Vergangene Woche referierte er in Bozen. Im Mai kommt er wieder für eine Filmvorstellung.
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Foto: Manifesta

Salto.bz: Über viele Jahre haben Sie den 25. April in der Rolle des Bürgermeisters von Palermo begangen. Was macht Leoluca Orlando nun als Privatperson am 25. April?

Leoluca Orlando: Ich werde an Tina Anselmi erinnern. Ich werde an diese Frau – sie war die erste Frau, die in Italien Ministerin war – erinnern. Sie ist ein Symbol für den Kampf gegen Faschismus und für den Kampf für Demokratie. Ich werde nie vergessen, wie sie 1992 auch für La Rete kandidiert hat, wie sie sich engagierte, auf den Straßen, Plätzen und in Theatersälen, für den Kampf gegen politische Verstrickungen und gegen die Mafia. 

Sie begehen den 25. April auch in der Öffentlichkeit?

Ich werde, wie auch in all den vorhergehenden Jahren, bei den Veranstaltungen des ANPI, der Associazione Nazionale Partigiani d'Italia, dabei sein. Um zu erinnern, damit das folgende nicht vergessen wird: Der Widerstand damals war nicht nur gegen den Faschismus, er vor allem auch Grundstein für die Verfassung, die geboren wurde – antifaschistisch und demokratisch. Und für Freiheit und Recht.

Was sagen Sie dazu, dass es gegenwärtig eine politische Führung gibt, die eher ein Problem mit dem Antifaschismus hat, als mit dem Faschismus?

Wir haben im Moment viele Diskussionen dazu. Aber ich denke auch, dass Diskussion ein Weg ist, die Geschichte aufzuarbeiten. Man darf aber die Diskussion um den 25. April nicht dazu benutzen, um das Werk von einst politisch handelnden Personen in Misskredit zu bringen. Das ist eine Schande für die italienische Demokratie. Das ist Faschismus.
 


Sie haben am vergangenen Wochenende in Bozen über ihre Jahre als Bürgermeister von Palermo erzählt. Die Stadt zählt nach ihren Jahren als Bürgermeister zu den sichersten Städten Italiens. Ihr Verdienst!

Es gibt nicht viele weitere Städte in Europa, die in den vergangenen Jahrzehnten eine derartige Veränderung vollzogen haben. Ich habe das in 20 Jahren, sagen wir so, auf einen guten Punkt gebracht. Es gibt aber noch viel zu tun. Sicher, andere Städte haben, etwa nach dem Wegfall der Mauer, auch eine starke Veränderung erfahren. Aber in Palermo gab es eine, sagen wir, stille Veränderung und auch eine kulturelle Veränderung. Und damit meine ich nicht nur die Veränderung im historischen Zentrum. Wir waren eine Stadt, die im Kampf gegen die Mafia war, die immer noch im Kampf gegen die Mafia ist. Aber die Mafia regiert nicht mehr. Es gibt sie noch, wie es sie auch in Bozen oder New York gibt. Aber Palermo entwickelte sich zu einer Stadt, die begann, sich für Menschenrechte einzusetzen. Die Palermitaner und Palermitanerinnen haben das verstanden. Sie haben basta gesagt. Genug ist genug. 

Die Veränderung Palermos trägt klar Ihre Handschrift...

Um ein Beispiel zu nennen: Wir machen uns stark, um gegen grassierende Homophobie anzukämpfen und organisierten eine der ersten Gay Pride in Südeuropa. Wir wollen das Leben respektieren. Auf allen Ebenen.

Sie haben in Palermo und Heidelberg Rechtswissenschaft studiert. Wie hat Sie, als Mensch mit sizilianischer Herkunft, der Aufenthalt in Deutschland geprägt?

Ich bin Jurist, ich war der jüngste Professor für italienisches Recht an einer italienischen Universität. In Deutschland habe ich Jura studiert, hatte auch eine große Passion für die Philosophie und besuchte Vorlesungen bei Martin Heidegger oder Hans-Georg Gadamer. Diese, aber auch andere Erfahrungen, die ich in Deutschland gesammelt habe, ermöglichten eine Synthese, für ein Verständnis – im Widerspruch zum Sizilianischen –, der wissenschaftlichen, intellektuellen Welt, die ich in Deutschland kennengelernt habe.
 

 

Sie haben einmal in einem Buch, einen zweirädrigen sizilianischen Karren beschrieben, mit der Kultur als einem wichtigen Rad für die Gesellschaft. Das andere Rad ist die Gesetzgebung. Wie fährt sich dieser Karren?

Wir brauchen beide Räder! Und beide Räder müssen gleichzeitig gefahren werden. Ich möchte in diesem Zusammenhand die Internationale Charta von Palermo aus dem Jahr 2015 hervorheben, die das Recht auf Freizügigkeit als Menschenrecht beinhaltet, für eine Staatsbürgerschaft des Wohnorts, für die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung, das Recht auf Leben, auf Asyl, das Recht auf Schutz und das Recht auf Aufnahme. Das Recht auf politische Teilhabe und kulturellen Austausch. Das Recht auf Würde, Arbeit, Obdach und Gesundheit. Das Recht auf Zukunft.

In Palermo sind alle Menschen willkommen. Alle!

Ja, auch Migranten sind willkommen. Und wenn ich gefragt werde, wie viele Migranten in Palermo leben, sage ich: Keine. Denn wenn jemand in Palermo lebt, dann ist er Palermitaner. Da mache ich keinen Unterschied, wer nach Palermo kommt, oder wer in Palermo wohnt. Wir haben das auch in unserer Stadtordnung dementsprechend festgehalten.

Nachdem sie am vergangenen Wochenende in Bozen zu Gast waren, kommen sie Anfang Mai erneut für eine Filmvorführung. Man möchte fast annehmen, Sie wollten hier Bürgermeister werden...

Man kann nur dort als Bürgermeister kandidieren, wo man auch lebt. Und was es dazu braucht ist Liebe. Ich habe einen großen Respekt zu Bozen, aber ich kann nicht sagen, dass ich die Stadt liebe. Wenn ich aber in Bozen leben würde und die Stadt dann vielleicht auch lieben würde, könnte ich kandidieren. Aber die Zeit ist noch nicht gekommen.

Noch kurz zu einem weiteren Gedenktag, der bald ansteht: die Feier zum 1. Mai. Sie sind am 1. August 1947 geboren, genau drei Monate nach einer schrecklichen 1. Mai-Feier in der Nähe von Palermo, in Portella della Ginestra bei Piana degli Albanesi. Wie erinnert man an dieses Massaker?

Sie erinnern mit dieser Frage an die Tatsache der vielen verschiedenen Wahrheiten und der verschiedenen kriminellen Begebenheiten, die auch in Verbindung mit der italienischen Politik stehen. Ich denke Portella della Ginestra ist eines der großen Geheimnisse unserer Republik und solange wir die exakte Wahrheit dazu nicht kennen, müssen wir das Recht haben, die Vorkommnisse aufzuarbeiten.