„Wie reagiert die Gesellschaft?“
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Der Rücktritt von Carlo Vettori als Gemeinderatspräsident der Stadt Bozen hat eine Debatte über häusliche Gewalt neu entfacht – und darüber, wie Politik und Gesellschaft damit umgehen. Vettori wird von seiner Ehefrau der Gewalt beschuldigt; gegen ihn gilt, laut Zeitungsberichten, ein gerichtliches Annäherungsverbot. Bis zum Abschluss der Ermittlungen und einer möglichen gerichtlichen Entscheidung gilt für Carlo Vettori die Unschuldsvermutung.
Über die gesellschaftlichen Dimensionen solcher Fälle und die Verantwortung des Umfelds spricht Christine Clignon, Präsidentin der Sozialgenossenschaft GEA, die in Bozen das Gewaltschutzzentrum und das Frauenhaus führt.
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SALTO: Wie beurteilen Sie die jüngsten Vorkommnisse um Carlo Vettori?
Christine Clingnon: Meiner Sichtweise nach ist dieser Fall ein gutes Beispiel dafür, dass häusliche Gewalt quer durch alle Gesellschaftsschichten geht – unabhängig von Bildungsgrad, Beruf oder Sprachzugehörigkeit. Das ist etwas, das wir in den Frauenhausdiensten immer wieder beobachten. Im vergangenen Jahr haben sich an GEA 346 Frauen gewandt. Und man sieht immer wieder deutlich: Sie kommen aus allen Schichten. Für uns ist das keine Überraschung. Interessantes Detail: Von diesen 346 Frauen hatten rund 80 Prozent minderjährige Kinder. Diese Kinder erleben die häusliche Gewalt direkt oder indirekt mit – die Auswirkungen sind dieselben, sowohl emotional als auch physisch.
Ist das Bewusstsein für häusliche Gewalt heute stärker als früher?
Wir beobachten, dass Frauen zunehmend wissen, dass es Möglichkeiten gibt, aus einer Gewaltsituation auszusteigen, also dass Gewalt keine Normalität ist. In den letzten zehn Jahren sind die Zugänge zum Gewaltschutzzentrum um 60 Prozent gestiegen. Das liegt nicht daran, dass es mehr Gewalt gibt, sondern daran, dass das Bewusstsein über Hilfsangebote gewachsen ist. So wünsche ich mir auch für die betroffene Frau, ihre Kinder, aber generell für alle Frauen in Gewaltsituationen, ein Netzwerk aus gut ausgebildeten Fachkräften: Ordnungskräften, Sanität, Sozialdiensten, Justiz. Aber ebenso wichtig ist das familiäre und freundschaftliche Umfeld. Denn die Reaktionen aus dem Umfeld, wenn eine Frau beschließt, aus einer Gewaltsituation auszusteigen, sind entscheidend.
„Ich appelliere, nicht zur weiteren Viktimisierung der Frau beizutragen, sondern ihre Worte ernst zu nehmen.“
Wie ordnen Sie bis dato die Reaktion der Politik ein?
Ich möchte eine Frage zum Statement von Vettori aufwerfen: In der öffentlichen Stellungnahme, in der er seinen Rücktritt verkündet, spricht Vettori von Solidaritätsbekundungen seitens des Parteikollegiums und des Bürgermeisters – das sollte uns zu denken geben. Wir wissen nie, was in den eigenen vier Wänden geschieht, aber ein Annäherungsverbot wird nicht ohne Grund erteilt.
Welche Reaktion halten Sie für angemessen?
Ich appelliere, nicht zur weiteren Viktimisierung der Frau beizutragen, sondern ihre Worte ernst zu nehmen. Die Geschichten, die wir von Frauen hören, zeigen deutlich, dass häusliche Gewalt zur Isolation führt. Die Gesellschaft trägt häufig dazu bei, diese Isolation zu verstärken. Das hat mehrere Gründe: Es ist leichter, wegzuschauen, als hinzusehen; leichter, der Manipulation eines gewalttätigen Mannes zu glauben, als die Angst einer Frau ernst zu nehmen. Zudem ist häusliche Gewalt immer noch ein Tabuthema. Und noch immer herrscht das Vorurteil, Frauen würden Anzeigen erstatten, um sich Vorteile zu verschaffen. Hier muss aber deutlich klargestellt werden: Wenn eine Frau Gewalt gegen sich anzeigt, dann macht sie das, weil sie Schutz und Sicherheit sucht, Sie nimmt dabei in Kauf, alles noch einmal durchleben zu müssen: Befragungen, Misstrauen, Vorurteile – vor Gericht und im gesellschaftlichen Umfeld. In Fachkreisen spricht man auch von ‚sekundärer Viktimisierung‘. Deshalb muss die Gesellschaft lernen, nicht zu urteilen, sondern zuzuhören.
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Was bedeutet „Viktimisierung“
Der Begriff Viktimisierung wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich verwendet. Laut Kriminologie Lexikonder Uni Bockum bezeichnet er den Prozess des „zum Opfer werden“ beziehungsweise „zum Opfer gemacht werden“. Zentral dabei sind die direkten Ursachen und Folgen für das Opfer sowie die indirekten Folgen, die sich für das Opfer in seinem gesellschaftlichen Umfeld ergeben. In der Viktimologie, einem Teilgebiet der Kriminologie, unterscheidet man drei Formen:
- Primäre Viktimisierung: Das eigentliche Opferwerden durch die Tat und die körperlichen, psychischen oder materiellen Schäden, die direkt durch das Delikt entstehen.
Beispiel: Eine Frau wird geschlagen, bedroht oder bestohlen. - Sekundäre Viktimisierung: Wenn das Opfer durch Reaktionen von Polizei, Justiz, mediale Berichterstattung oder dem eigenen Umfeld erneut verletzt oder beschämt wird, etwa durch Zweifel, Vorwürfe oder mangelndes Einfühlungsvermögen.
- Tertiäre Viktimisierung: Wenn sich eine Person durch anhaltende Stigmatisierung oder wiederholte Gewalterfahrungen dauerhaft mit der Opferrolle identifiziert. Diese Fixierung kann die psychische Belastung verstärken und das Risiko neuer Viktimisierungen erhöhen.
- Primäre Viktimisierung: Das eigentliche Opferwerden durch die Tat und die körperlichen, psychischen oder materiellen Schäden, die direkt durch das Delikt entstehen.
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Bieten die jüngsten Ereignisse Möglichkeiten für die öffentliche Sensibilisierung für häusliche Gewalt?
Ob dieser aktuelle Fall zu einem stärkeren Bewusstsein oder zu Veränderungen führt, hängt ganz davon ab, wie damit umgegangen wird. Carlo Vettori plädiert in seinem Statement darauf, keinen Finger gegen seine Frau gerührt zu haben. Wenn es aber bereits eine richterliche Anordnung gibt, dann liegt wahrscheinlich etwas vor. Die Frage ist: Wie reagiert die Gesellschaft? Verurteilt sie gewalttätiges Verhalten oder macht sie der anderen Seite Solidaritätsbekundungen und hofft, dass die Sache bald vergessen ist, ohne Spuren zu hinterlassen? Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Gewaltepisoden gegen Frauen oft nicht ausreichend verurteilt werden. Ich wünsche mir, dass diese Episode aufgrund des Bekanntheitsgrades des Mannes einen Paradigmenwechsel mit sich bringt. Zum Schluss möchte ich es noch einmal ganz klar sagen: Gewalttätigen Männern darf kein Raum gegeben werden. Es gibt keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung für Gewalt.
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"Wir wissen nie, was in den…
"Wir wissen nie, was in den eigenen vier Wänden geschieht, aber ein Annäherungsverbot wird nicht ohne Grund erteilt."
"Wenn es aber bereits eine richterliche Anordnung gibt, dann liegt wahrscheinlich etwas vor."
Gilt die Unschuldsvermutung oder gilt sie nicht?
„Ich appelliere, nicht zur weiteren Viktimisierung der Frau beizutragen, sondern ihre Worte ernst zu nehmen.“
Und was ist mit den Worten von Vettori? Die kann man natürlich einfach ignorieren, schließlich hat es noch nie einen Fall gegeben, in dem eine Frau fälschlicherweise einen Mann der häuslichen Gewalt beschuldigt hat.
Christine Clignon ist nicht ernst zu nehmen, da sie vollkommen voreingenommen ist.
In risposta a "Wir wissen nie, was in den… di friedl
Sie müssen schon alles lesen…
Sie müssen schon alles lesen - was sagt Frau Ciglon bereits einleitend klar und deutlich:
“Bis zum Abschluss der Ermittlungen und einer möglichen gerichtlichen Entscheidung gilt für Carlo Vettori die Unschuldsvermutung”.
Ihr Vorwurf läuft ins Leere.
In risposta a Sie müssen schon alles lesen… di Peter Gasser
Frau Christine Clignon möge…
Frau Christine Clignon möge mir den morgendlichen Vertipper beim Schreiben Ihres Namens nachsehen - ich hätte Korrekturlesen sollen.
In risposta a Sie müssen schon alles lesen… di Peter Gasser
Habe ich schon gelesen, aber…
Habe ich schon gelesen, aber man kann nicht sagen, es gilt die Unschuldsvermutung, und dann im gesamten Interview Vettori als schuldig darstellen. Das ist das gleiche als wenn jemand sagt er ist kein Xenophob aber im ganzen Interview seinen Hass auf Fremde zeigt.
In risposta a Habe ich schon gelesen, aber… di friedl
Zitat: “... dann im gesamten…
Zitat: “... dann im gesamten Interview Vettori als schuldig darstellen”:
können Sie für diese Behauptung ein Beispiel zitieren?
(zu Ihrem früheren Kommentar dazu: die Bedeutung des Wörtchens “wahrscheinlich” nicht vergessen)
In risposta a Zitat: “... dann im gesamten… di Peter Gasser
Der Teil des Texts der…
Der Teil des Texts der Unschuldsvermutung wurde vom Autor geschrieben, nicht Frau Clignon!
"Meiner Sichtweise nach ist dieser Fall ein gutes Beispiel dafür, dass häusliche Gewalt quer durch alle Gesellschaftsschichten geht" - Kein Konjunktiv, es wird also als gegeben angenommen, dass das Beispiel wahr ist.
"So wünsche ich mir auch für die betroffene Frau [...] aber generell für alle Frauen in Gewaltsituationen" - Kein "mutmaßlich", es wird als gegeben dargestellt, dass die Frau in einer Gewaltsituation war.
"Wir wissen nie, was in den eigenen vier Wänden geschieht, aber ein Annäherungsverbot wird nicht ohne Grund erteilt." - Eine Andeutung, dass Vettori schuldig ist, obwohl es sich um eine Aussage gegen Aussage handelt.
"Wenn eine Frau Gewalt gegen sich anzeigt, dann macht sie das, weil sie Schutz und Sicherheit sucht" - Es ist also unmöglich, dass eine Frau wegen anderer Gründe Gewalt gegen sich anzeigt.
"Ich wünsche mir, dass diese Episode aufgrund des Bekanntheitsgrades des Mannes einen Paradigmenwechsel mit sich bringt." - Kein "mutmaßlich", wodurch die Episode wie von der Frau beschrieben als war angenommen wird.
In risposta a Sie müssen schon alles lesen… di Peter Gasser
Zudem wurde es vom Autor…
Zudem wurde es vom Autor geschrieben, nicht Frau Clignon!!! Um Sie zu zitieren: "Sie müssen schon alles lesen"
In risposta a "Wir wissen nie, was in den… di friedl
Wen würden Sie denn ernst…
Wen würden Sie denn ernst nehmen? Die Frau des möglichen Täters, oder den möglichen Täter selbst?
Und Frau Clignon vorverurteilt hier niemanden, sie stellt nur fest, dass ein Annäherungsverbot wahrscheinlich nicht ganz grundlos von einem Richter ausgesprochen wird.
In risposta a Wen würden Sie denn ernst… di Manfred Gasser
Beide sollen gleichermaßen…
Beide sollen gleichermaßen ernst genommen werden. Welche Informationen hat Frau Clignon, die dieses "wahrscheinlich" rechtfertigen? Für Richter genügt oft schon die Aussage der Frau, um ein Annäherungsverbot auszusprechen.
Also wenn es um häusliche…
Also wenn es um häusliche Gewalt geht, sollte man einen Fußballspieler interviewen?
Ach nein. Sie haben recht. Besser eineN Professor der über 65 sein sollte.
Frau Clignon ist eine…
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- SALTO Community Management
In risposta a Frau Clignon ist eine… di friedl
Frau Clignon, sagt wie es…
Frau Clignon, sagt wie es ist! Ob es einem anonymen friedl nun passt oder nicht!
Solidarität mit Vettori ausdrücken bedeutet, flächendeckende geschlechtsspezifische Präventionsarbeit und Männerberatungsangebote von Politik einfordern.
Aber:
Männerpolitik wie wir sie von PostfaschistInnen und rechten Konservativen kennen,
müsste dazu halt, als erstes, ihre Auffassungen und ihre Praktiken patriarchal geprägter Männlichkeit reflektieren wollen. Soll heißen: Reflektieren inwieweit „das Männliche“ als das selbstverständliche, normierende und dominierende Prinzip gilt.
Ich frage mich, warum es so…
Ich frage mich, warum es so viele Solidaritätsbekundungen für Herrn Vettori gibt, womit die Solidaritätsspender indirekt zum Ausdruck bringen, dass sie den Anschuldigungen nicht glauben, während niemand sich die Mühe macht, seiner Frau Solidarität auszusprechen., was zumindest ich hier machen will.