Politica | Interview

„Trumpisierung der europäischen Politik“

Der Alte und die Neue als Co-Vorsitzende der Grünen: Felix von Wohlgemuth und Elide Mussner über mangelnde Sicherheit, Zukunftsängste und das Image ihrer Partei.
Felix von Wohlgemuth, Elide Mussner
Foto: Grüne
  • Es war nicht leicht, einen Termin mit Felix von Wohlgemuth (43) und Elide Mussner (39) zu finden. Der ehemalige und die neue Co-Vorsitzende der Grünen haben einen vollen Terminkalender, Zeit für ein Gespräch mit SALTO finden sie nur an einem Freitag in der Mittagspause. Wir treffen uns online. Der Anwalt für Arbeitsrecht sitzt für Pro Eppan im Gemeinderat, die ehemalige Assistentin des Ausnahmehoteliers Michil Costa ist in ihrer Heimatgemeinde Abtei Referentin für Tourismus und nachhaltige Mobilität. 

    SALTO: Frau Mussner, im Gespräch mit der ff kritisiert der scheidende Co-Vorsitzende der Grünen, Felix von Wohlgemuth, die eigene Partei. Migration, Lebenskosten und Sicherheit seien den Rechten überlassen worden. Wie stehen Sie zu der Kritik?

    Elide Mussner: Wenn man sich verändern und weiterentwickeln will, braucht es auch Selbstkritik. Dass wir Grüne mit einem Stempel zu kämpfen haben, ist eine Tatsache. Das sehe ich nicht als Manko unserer Partei, sondern eher als eine Entwicklung, die im Laufe der Zeit stattgefunden hat. Wir werden von außen meist mit Umweltschutz in Verbindung gebracht, unsere Sichtweise auf andere Themen wird von der Öffentlichkeit nicht so stark wahrgenommen. Dazu tragen auch die Medien bei, die bei Themen wie Migration oder Sicherheit eher rechte Parteien befragen. Für uns ist es deshalb sehr schwer, aus dieser Dynamik herauszukommen.

    „Man trifft immer mehr auf Leute, die den Klimawandel für eine Erfindung der woken Linken halten.“ 

    Herrr von Wohlgemuth, hätten Sie als Co-Vorsitzender genau diese Themen nicht auch selbst zur Priorität machen können?

    Felix von Wohlgemuth: Meine Kritik ist durchaus auch als Selbstkritik zu verstehen. Wir begannen die Planung unserer Kampagne für die Landtagswahl bereits ein Jahr vor dem Wahltermin. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass sechs Monate vor der Landtagswahl ganz andere Themen zentral wurden. Dann kurz vor dem Wahltermin umzusteuern, ist nicht einfach, vor allem, wenn man wenig Ressourcen zur Verfügung hat. Man muss aber dazu sagen, dass wir ja nicht auf unwichtige Themen gesetzt haben – Klima, Landschaftsschutz, Natur und Nachhaltigkeit sind nicht unwichtig.

  • Elide Mussner und Luca Bertolini: Am 27. Jänner hat die Landesversammlung der Grünen einstimmig die beiden neuen Co-Vorsitzenden bestimmt. Foto: Grüne

    Was ist mit dem Thema Sicherheit?

    Felix von Wohlgemuth: Wir haben zum Thema Sicherheit ein eigenes Konzept ausgearbeitet, wir werden von den Medien in der Regel nur nicht danach gefragt. Den nächsten Wahlkampf könnten wir deshalb auf Soziales, Sicherheit und Migration aufbauen, denn zu jedem ökologischen Thema werden wir als Grüne offensiv angefragt. Darüber hinaus stehen wir vor der Herausforderung, sicherheitsrelevante Themen in sozialen Medien zu kommunizieren und runterzubrechen. Denn unsere Konzepte sind meistens mehrere Seiten lang, die ich nicht auf Instagram posten kann. Jürgen Wirth Anderlan und Sven Knoll (Landtagsabgeordneter der Süd-Tiroler Freiheit, Anmerkung d. R.) fällt es leicht, ihre Botschaften zu kommunizieren. Sie nutzen Parolen wie Remigration und fordern die Abschiebung ausländischer Menschen.

    Was fordern denn die Grünen?

    Felix von Wohlgemuth: Es ist natürlich eine Stärkung der Polizeipräsenz notwendig. Es braucht aber auch eine Stärkung der Zivilgesellschaft, damit Leute bei Vorfällen aktiv werden und die Ordnungskräfte kontaktieren. Zudem muss das Justizsystem dringend mit mehr Beamten ausgestattet werden, Gerichte sind unterbesetzt, wir haben ab März nur noch vier Staatsanwälte. Ein moderner Strafvollzug braucht nicht zuletzt auch ausreichend Platz in den Gefängnissen und es muss die Resozialisierung der Straftäter angestrebt werden. Für die Gewährleistung von Sicherheit kann nicht nur an einer Stelle gedreht werden, sondern es braucht ein vielschichtiges Konzept.

    „Auch in Südtirol haben die Rechten beinahe schon Brainwashing betrieben, gerade bei der Jugend.“

    Elide Mussner: Die Hotspots liegen vor allem in den Städten, nicht ganz Südtirol hat ein Sicherheitsproblem. Man muss differenzieren und keine Angstmacherei betreiben, die vor allem die Rechten sehr gut kennen. Einfache Lösungen für komplexe Probleme werden nicht funktionieren. Man hört es zwar nicht gerne, aber das Sicherheitsproblem beinhaltet auch eine soziale Komponente, die man ernst nehmen muss. Das Gefühl der Unsicherheit kommt nicht von heute auf morgen, es staut sich auf und spitzt sich weiter zu. Wenn es Krisen gibt und die Lebenshaltungskosten steigen, geraten Menschen in Notsituationen und in Notsituationen sucht man nach Notlösungen, die nicht immer gut sind.

  • Marlene Pernstich und Felix von Wohlgemuth: Sie waren von Dezember 2019 bis Jänner 2024 die Co-Vorsitzenden der Grünen. Foto: Grüne

    Provokant gefragt: Wären in den letzten Jahrzehnten mehr linke Politikerinnen und Politiker gewählt worden, wären dann heute die Probleme nicht so groß?

    Felix von Wohlgemuth: Davon ist auszugehen. In Bozen erleben wir ein klassisches Phänomen. Wir sehen einen massiven Anstieg von Drogenkonsum, der quer durch alle Schichten geht – mit der Folge der Beschaffungskriminalität. Diese hatten wir glücklicherweise in den letzten 30 Jahren nicht mehr, sie war in den 80er Jahren sehr präsent und ist nun wieder da. Wenn Sozialarbeit und Drogenprävention von den Rechten eingespart werden, dann verschärft sich das Problem. Die AfD und Lega interessieren sich nicht für die unteren 40 Prozent der Bevölkerung, sie machen Politik für die oberen 20 Prozent. Absurderweise werden aber genau diese Parteien von ärmeren Bevölkerungsschichten gewählt, gemäß Brecht: Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Genau das passiert.

    Bei der Landesversammlung der Grünen in Bozen wurde betont, das eigene Städteimage ablegen zu wollen. Wie soll das gelingen?

    Elide Mussner: Darauf wurde bereits unter dem Vorsitz von Felix und Marlene (Marlene Pernstich, ehemalige Co-Vorsitzende, Anmerkung d. R.) hingearbeitet. Heute haben wir in Südtirol ein Netzwerk aus Ortsgruppen in vielen Gemeinden, auf das wir aufbauen wollen. Unser Land hat an und für sich eine bozenzentrierte Politik, das zieht sich durch alle Parteien durch.

    Inwiefern?

    Elide Mussner: Oft hört man von den kleinen Gemeinden in den Tälern, dass in der Hauptstadt alles entschieden wird und keiner weiß, was bei uns los ist. Gerade bei der Mobilität gibt es große Unterschiede zwischen Stadt und Land. Bei uns in den Tälern kann man noch lange nicht von einer alternativen Mobilität sprechen, während es in den großen Ballungszentren schon Fortschritte gegeben hat. Auch die Wohnungsnot auf dem Land ist eine andere wie die Wohnungsnot in einer Stadt. Genauso ist das bereits angesprochene Thema Sicherheit in kleineren Gemeinden anders anzugehen als in Städten. Für uns heißt das, dass wir auf dem Territorium mehr präsent sein müssen und dafür wollen wir uns die Zeit nehmen. Der ländliche Raum muss viel mehr in den politischen Diskurs eingebunden werden!

    Wie stehen Sie dem Rechtsruck in ganz Europa gegenüber, der sich auch bei den EU-Wahlen im Juni abzeichnet?

    Elide Mussner: Vor nicht einmal 100 Jahren gab es in Europa schlimme Diktaturen und den Zweiten Weltkrieg. Wenn wir jetzt wieder nach rechts rücken, dann frage ich mich, was da falsch gelaufen ist und, ob die Geschichte ausreichend aufgearbeitet wurde. Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass in diesem aktuell großen und globalen Wandel – wir können das leugnen oder nicht – Unsicherheit herrscht. Die Welt ist nicht nur, aber auch wegen des Klimawandels gerade sozial und ökonomisch sehr in Veränderung. Das macht vielen Menschen Angst, man hat Schwierigkeiten sich die neue Zukunft vorzustellen und sucht Halt. Ganz oft landet man dann bei radikalen Visionen, weil die einfacher zu verstehen und schnell aufgreifbar sind. Die erste Reaktion auf die Komplexität dieses Moments ist, sich einzuschließen, Grenzen anstatt einen Dialog aufzubauen. Das ist beunruhigend, aber man darf sich nicht einschüchtern lassen, man muss gegensteuern und den Dialog suchen.

    „Die Bevölkerung braucht Menschen, die sie unterstützt und positiv stimmt.“ 

    Felix von Wohlgemuth: Ich sehe das auch so. Blicken wir in die Vergangenheit, können wir ein Spiel der Kräfte hin zu mehr linken oder rechten Parteien beobachten. Es würde mir nicht gefallen, aber es würde mir zumindest keine Sorgen bereiten, wenn die CDU in Deutschland oder die SVP in Südtirol wieder mehr Stimmen erhalten. Das ist nicht mein Problem, denn das sind Parteien, die auf demokratischen Grundlagen stehen. Was mir Angst macht, ist die Trumpisierung der europäischen Politik. Es wird nicht mehr mit Argumenten gearbeitet, sondern mit absurdesten Verschwörungstheorien. Man trifft immer mehr auf Leute, die den Klimawandel für eine Erfindung der woken Linken halten, um das Diesel-Auto zu verbieten. Migration wird zu einem Bevölkerungsaustausch, um günstige Arbeitskräfte besser unterjochen zu können. Solche Theorien finden immer mehr Zuspruch in der Mitte der Gesellschaft. Die Menschen werden erst merken, was sie verloren haben, wenn es zu spät ist. Als Grüne wollen wir das nicht klang- und sanglos hinnehmen.

    Elide Mussner: Es ist nun umso wichtiger, der Angstschürerei positive Botschaften entgegenzusetzen. Wir müssen wirklich aufzeigen, dass die Zukunft besser werden kann. Es geht nicht darum, Verzicht zu predigen, sondern in dieser sozialen Transformation alle mitzunehmen. Sie bietet viele und große Chancen. Wenn wir ständig nur zurückschauen, Angst schüren und konservative Politik betreiben, dann bleiben wir auf der Strecke. Dadurch ensteht negative Energie, die der Bevölkerung nicht gut tut. Die Bevölkerung braucht Menschen, die sie unterstützt und positiv stimmt. Wir haben Lösungen, die für alle einen Vorteil haben, wenn man an dieser Transformation arbeitet. In diesem Sinne haben auch die sozialen Medien eine große Verantwortung, weil sich dort geschlossene Gruppen bilden, die leicht radikalisiert werden können. Auch in Südtirol haben die Rechten sehr auf die sozialen Medien gesetzt und beinahe schon Brainwashing betrieben, gerade bei der Jugend. Das ist sicherlich ein Phänomen, das politisch unterschätzt wurde. Denn dadurch kann keine kritische Meinung mehr gebildet werden.