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Mit kindlicher Freude

Charlie Chaplins Langfilm-Debüt ist über 100 Jahre alt, die Musik dazu 50. „The Kid“ ließ den Tramp zeitlebens nicht los, heute vertont das Haydn-Orchester den Film live. Unter der Leitung von Timothy Brock wird der Soundtrack re-arrangiert entstaubt.
The Kid, Filmkonzert Haydn Orchester, Leitung Timothy Redmond
Foto: Stiftung Haydn
  • Nicht allen ist bekannt, dass sich Chaplin in seinem Ausharren und Bestehen in Zeiten des medialen Wandels auch um seine eigene Filmmusik kümmerte. Mit über 80 Jahren hat Charlie Chaplin 1971 – mit Hilfe des britischen Komponisten Eric Rogers bei der Bearbeitung – neue sonore Begleiterscheinungen, unter anderem zum Stummfilm „The Kid“ (1921) komponiert. Der Film beginnt mit einer Textkarte, die „mit einem Lächeln und vielleicht einer Träne“ nicht zu viel verspricht.
    Es ist auch nicht das erste Mal, dass Timothy Brock im Auftrag der Chaplin-Stiftung eine Filmmusik Chaplins in die Gegenwart wuchtet. Der Amerikaner und Dirigent des Abends hat aus dem Mix an Klavier, Streichern und Tingeltangel-Einflüssen 2016 ein volles Orchesterstück gemacht. Brock eröffnet die Vorführung mit einem doppelten Kreis des ausgestreckten Zeigefingers in Richtung Publikum. Die Botschaft ist am Dienstagabend im voll besetzten Konzerthaus Bozen klar: Film ab.

  • Gesetz & Ordnung: Auf Jackie Coogan geht die California Child Actor's Bill zurück. Nachdem der frühere Kinderstar mit seiner Volljährigkeit die Eltern wegen des verschwenderischen Umgangs mit seinem Geld verklagte, mussten künftig vom Arbeitgeber 15 Prozent des Gehalts an eine Stiftung, statt an die Erziehungsberechtigten ausgezahlt werden. Foto: Stiftung Haydn

    Vielleicht wäre dem „Tramp“ selbst, Chaplins wohl bekanntester Rolle als Landstreicher, auch etwas weniger Orchester lieber gewesen, man beginnt jedenfalls gefühlvoll mit der Einführung der Figuren von Edna Purviance (als Mutter), Jackie Coogan (als Kind) und weiteren zu Streichern. Bescheiden wird der Name des Drehbuchautors, Regisseurs, Produzenten und späteren Komponisten sowie des wohl an den Kinokassen zugkräftigsten Schauspielers ganz zuletzt gesetzt.

    Die Geschichte ist einfach, aber herzlich, erzählt von einem ausgesetzten Kind und der verzweifelten, alleinerziehenden Mutter, die ihre Entscheidung schließlich bereut. Chaplins warmherziger Vagabund erliegt dabei weniger dem Charme des von ihm John getauften Jungen und viel mehr der handgeschriebenen Notiz, die aus der Decke fällt, in die das Baby gewickelt ist: „Bitte lieben und kümmern Sie sich um dieses verwaiste Kind.“ Fünf Jahre vergehen, statt eines Babys sehen wir ein Kind. Filmhistorisch gesehen geht in der Rolle des kleinen John hier mit Jackie Coogan einer der ersten Kinderstars am Hollywoodhimmel auf, den man später etwa auch als Onkel Fester in der Addams Family zu sehen bekommen hat.

    Aus heutiger Sicht und mit dem Ruf von Kinderschauspielern ist das vielleicht schwer vorstellbar, aber wenn es im Film einem gelingt, Charlie Chaplin die Show zu stehlen, dann ist es der junge Jackie Coogan. In den humoriger gewordenen und auch in seiner Streicherbegleitung variablen Film mischen sich rasche, ungestüme Melodien für die gemeinschaftlichen Gaunereien von Ersatzvater und Jungen. Zu den Schnitten des Films muss das Orchester agil sein, den richtigen Moment zum Ton- oder Tempowechsel genau treffen. Das gelingt. Mit einem „tumben“ Straßenschläger und Büttel, zeigen die Widersacher unseres Duos sich inkompetent und zu langsam für den charmant an Schlägen und Hindernissen vorbei taumelnden Chaplin.

    Besonders merkt man die Qualität der Vertonung durch das Euregio Orchester bei kleinen Nebenrollen und Szenen, die aus dem Konzept fallen: Etwa jene des Kindsvaters (Carl Miller), die in der von Chaplin in den 70ern selbst um 15 Minuten gekürzten Fassung nochmals kleiner ausfällt. Eindrucksvoll kitschig sehen wir ihn ein Foto seiner ehemaligen Partnerin anschmachten. Da Chaplins Musik mit dem neuen Schnitt zu den Bildern kam, war hier die dramaturgische Entscheidung für den Abend schon getroffen. Trotz persönlicher Vorliebe für die längere Fassung des Films macht die Musik die gestrichenen Minuten aber auf jeden Fall wett. Eine späte Traumsequenz, die ins Unerwartete und fast schon ins Biblische abschweift, kündigt dort das Vibrafon an, das uns rasch auf einen wechselnden Ton der Geschichte einstimmt.

  • Timothy Brock: Seit 1998, beginnend mit „Modern Times“, hat der Dirigent bereits 17 Stummfilme Chaplins in Kurz- wie auch in Langform musikalisch bearbeitet. Foto: Stiftung Haydn
  • Müsste man sich zwischen diesem Live-Ton und den fehlenden Bildern entscheiden, persönlich würde ich immer der ersteren Hälfte den Vortritt geben. Zu viel Spaß macht es, wenn etwa Professor Guido, Impresario am Theater, an welchem die Mutter nach dem Zeitsprung Erfolg findet, ins Bild gewatschelt kommt und eine Trompete mit Schalldämpfer den perfekten Ton dafür findet. Mit dem Abgang, wenige Sekunden später, kommt der Schalldämpfer wieder weg. Von diesen kleinen, gezielten Einsätzen einzelner Instrumentenstimmen gibt es in der knappen Stunde noch einige. Hier soll lediglich noch ein besonders schöner Moment genannt sein: der „Flug“ von zwei Engeln an Drahtseilen durch ein Glissando auf der Harfe markiert. Auch das dürfte zu den Pionierleistungen von „The Kid“ zählen. Lange vor den ersten Flugstunden von Superman und Kung-Fu Meistern aus Fernost lief das Fliegen hier schon wie am Schnürchen.

    Timothy Brock gelingt am Abend, der heute, 20.30 Uhr, noch einmal in Trient (Auditorium, Via Santa Croce 67) zu sehen sein wird, dass man sich in der Zeit zurückversetzt fühlt. Das Orchester agiert leichtfüßig und nimmt der tragischen Handlung um Armut und Einsamkeit noch etwas an Schärfe. Dass der Orchesterklang dabei um einiges voller ist als die Klavierbegleitungen und kleinen Ensembles, die dem Stummfilm-Klassiker sonst zur Seite gestellt werden, passt gut zum gestochen scharfen Aufhübschen der Bilder auf den 4k Standard. Leicht verklärt lässt man sich gerne mitnehmen in die „Roaring 20’s“. Gerade in einer Zeit mit mehreren dreistündigen Filmen im Kino – anlässlich der Oscar-Verleihungen am Sonntag – haben viele auch Lust auf eine Zeit, in der Filme bekömmlicher waren. Dabei haben Film und Musiker, wie auch der Dirigent das Herz am rechten Fleck und auch die Pointen funktionieren fast ausnahmslos bis heute. Was sind da schon 50 oder 100 Jahre?

    Und apropos Oscars: Als Charlie Chaplin 1972, nach 20 Jahren außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk erhielt, soll es mit einer zwölfminütigen Standing Ovation den längsten Applaus in der Geschichte der Academy-Awards gegeben haben. Ganz so lange wurde in Bozen nicht geklatscht, aber ausgiebig und von Herzen kam der Applaus allemal. Mit mehr als nur einem Lächeln und vielleicht auch mit einer einzelnen Träne freute man sich über ein Happy End.