Società | gemachtes Problem

Zeitkapsel Obdachlosigkeit(spolitik)

Weder hilft ein (veraltetes) Hilfsangebot für ganz verschiedene Lebenssituationen noch die (mühsam der Politik abgerungene) Erweiterung von Übernachtungskapazitäten.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Pixabay

Das Problem „Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit“[i] ist nicht vorrangig im Versagen der Person zu sehen, sondern in einem Lebensereignis (Verlust von Wohnraumohne rechtzeitig verfügbare und leistbare Alternative siehe Film „Sterne über uns“),  das manche Menschen selbständig lösen können und wofür manche Menschen auf Grund ihrer persönlichen und sozialen Situation / Ressourcen Hilfe und Unterstützung brauchen. Niemand wird als Clochard geboren oder wird es beim ersten nicht selbständig bewältigten Wohnungsverlust. Die mediale Berichterstattung über Menschen, welche auf der Straße leben bzw. übernachten müssen wurzelt aber in einem ganz anderen Problem: der Ausgrenzung aus der Gesellschaft: einerseits aus dem System der Hilfe für Menschen auf der Flucht „fuori quota“ und andererseits aus dem Wohnungsmarkt „nur für Einheimische“[ii]. (siehe auch salto Artikel von Alessio Giardano). Hier versagt Südtirol bzw. die Stadt Bozen, welche sich im Zuge eines FIA Projekts als „Città Inclusiva e Aperta“ bezeichnet.

Somit hat die Situation warum Menschen auf der Straße leben (müssen) unterschiedliche Gründe: Suchtprobleme oder psychische bzw. chronische Krankheit, finanzielle Probleme, Ausfall einer Dienstwohnung, einschneidende Lebensereignisse oder Diskriminierung (siehe oben)[iii]. Trotzdem wird auf all diese unterschiedlichen Lebenssituationen mit einer Lösung geantwortet: Essen und ein (geheiztes) Dach über dem Kopf (bei einigen nur für die Nacht). Diese Antwort auf eine soziale Notlage bestimmter Kategorien (Obdachlose, Arme, Waisen, Irre, unverheiratete Mädchen, …) stammt aus dem 14./15. Jahrhundert. Leider ist dies in Italien noch immer der Fall, so fordert Chiara Saraceno, Soziologin an der Universität Turin einen nicht an Kategorien gebundenen Sozialstaat, sondern zu einem Wohlfahrtsstaat überzugehen, bei dem die Person und ihr Lebensweg im Mittelpunkt steht und ein „Assistenzialismo“ (der permanenten Abhängigkeit von den Sozialleistungen) vermieden wird. Auch Sonia Santi hat (in Turi/Pramstrahler 2005:43) die Förderung der Selbständigkeit der Personen durch die Überwindung der Sichtweise des reinen „Assistenzialismus“ und der Passivität der Empfänger gefordert.

Dieser Weg wurde in Europa Ende des 19. Jahrhundert durch das Case Work von Mary Richmond eingeführt. Darunter versteht man die individuelle Anamnese mit anschließenden Prozessen sozialen Lernen zur Selbsthilfe. Mit der detaillierten Erfassung der Vorgeschichte (Anamnese) und der verschiedenen Faktoren, welche zur Situation geführt haben, aber auch der Potentiale bisheriger Bewältigung und möglicher Ressourcen im persönlichen wie formalen Netzwerk, wird erst die Grundlage zu Verständnis und zu bedarfsgerechter Hilfe gelegt. In meinen Jahren (2010 – 2013) als Leiter eines Obdachlosenheims habe ich allerdings festgestellt, dass dies in Südtirol nicht oder nur in seltenen Fällen durchgeführt wurde und somit auch der Politik valide Informationen als Grundlage für die Ausgestaltung des Hilfesystems fehlen (siehe auch salto Artikel von Michael Denzer).

Der Fachplan Soziale Eingliederung – Obdachlose (2005) formuliert: „Die Hilfeleistungen, die den obdachlosen Menschen angeboten werden, müssen auf die Wiedererlangung ihrer Fähigkeit zielen, eigene Entscheidungen zu treffen und die Hilfe nicht nur im herkömmlichen Sinn als Bereitstellung von Nahrung, Kleidung oder Geld zu sehen, sondern auch von Elementen, die zur Bewusstseinsfindung und Gestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit beitragen“. Ähnliches findet sich in den verschiedenen Sozialplänen bzw. Leitlinien des Landes und der Stadt Meran.

Diese Wiedererlangung von Fähigkeiten bzw. die Änderung von (nicht zielführendem) Verhalten ist nur durch Verständnis und Beziehung möglich. Beziehung statt Zwang und Disziplin (Pestalozzi Anf. 19 Jhdt.,) bzw. den Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen der Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer Provokation im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ begegnen. (Lebensweltorientierung Hans Thiersch Ende der 1970er Jahre)

Trotzdem wird auf all die unterschiedlichen Ursachen und Lebenssituationen von Menschen, die auf der Straße leben mit einer Lösung geantwortet: Essen und ein (geheiztes) Dach über dem Kopf (bei einigen nur für die Nacht). Erstaunlich (und auch Verschwendung von Steuergeld) da der Großteil der Betroffenen sich selbst mit Essen versorgen kann und in der Nacht keine Aufsicht (in einer Wohnung) benötigt. Die Konventionen der Gemeinden mit den sozialen Trägerorganisationen sprechen aber noch immer von der Führung eines Hauses und verschiedenen Versorgungsleistungen (Mensa, Wäschedienst, Ausgabe von Hygieneartikel, ….) aber nicht von der Führung eines Dienstes für Menschen in bestimmten Notlagen und der Überprüfung der sog. individuellen Projekte mit dem Ziel der (Wiedererlangung von) „Wohnfähigkeit" verbessern bzw. erreichen. Das zentrale Ziel ist der Weg zurück in die Eigenverantwortung. Somit versagt das momentane System fast gänzlich bei der „primäre wohnungs- bzw. sozialpolitische Zielsetzung einer Vermittlung in „normale“ Mietwohnverhältnisse.[iv]

Diese Zielsetzung liegt auch dem Stufenmodell zu Grunde, welches nach dem zweiten Weltkrieg wurde in den meisten deutschsprachigen Ländern eingeführt wurde

    • Wohnberatung, Delogierungsprävention (fehlt in Italien bzw. Südtirol gänzlich), aufsuchendes Streetwork (stationär: Vinzibus bzw. Camper Voluntarius)
    • Notschlafstellen / centri di emergenza (Bozen, Meran, Brixen)
    • Übergangswohnheime z.B. Haus Arché (Meran), La Casa dell'Ospitalità bzw. Haus Margret (Bozen)
    • Trainingswohnungen z.B. Casa Conte Forni bzw. Haus Freinadametz (Bozen), Euroresidenz (Bezirksgemeinschaft Salten – Schlern), domus (Meran), Haus Jonas (Bruneck)

Solange aber der private wie soziale Wohnungsmarkt nicht offen für diese Menschen ist bzw. Vermieter*innen mit Sorgen und Problemen allein gelassen werden, bleibt die Türe am Ende der Stufen verschlossen und die Häuser „verstopfen“, d.h. haben keinen Platz für neue Menschen in Notlagen und sie werden auf der Straße sichtbar (und führen phasenweise zu politischen Handlungsbedarf). Ein weiteres Problem sind die oft restriktiven Aufnahmebedingungen bzw. Hausregeln (wegen der Schlafsäle bzw. Mehrbettzimmern für sehr unterschiedliche Menschen).

Auf Grund dieser Erfahrungen wurde vor über 40 Jahren das Konzept von „Housing First“ (z.B. neunerhaus mit  neuner immo, (Leitung Südtirolerin Daniela Unterholzner) entwickelt, welche eine Einzelwohnung mit einem regulären, unbefristeten Mietverhältnis an den Anfang der Hilfe stellt (ohne Vorbedingungen wie Abstinenz, verpflichtende Hilfevereinbarung, Einhaltung von Hausregeln, welche über jene des normalen Wohnungsmarktes hinausgehen usw.) und dadurch die Grundlage für eine schnelle Resozialisierung und Verbesserung der Lebensbewältigung stellt. Die eigene Wohnung als „Zufluchtsstätte“ innerhalb welcher Probleme gelöst, Ängste ausgesprochen, Intimität gelebt und Hoffnungen realisiert werden können. Die freiwillige ambulante Hilfe / Betreuung / Begleitung wird partizipativ entsprechend der individuellen Bedürfnisse entwickelt und inkludiert ggf. auch Vermieter*in. (Somit müsste auch jedem in Politik, Verwaltung und privaten Initiativen klar sein, dass ein Housing First Konzept weder mittels PNRR Geldern für Investitionen noch durch die private Schenkung von Häusern finanziert bzw. umgesetzt werden kann).

Dies bedeutet einen radikalen Paradigmenwechsel weg von der (entmündigenden) Versorgung („Assistenzialismo“) bestimmter Kategorien von Menschen (unter Missachtung / Ausblendung ihrer individuellen Probleme aber auch Ressourcen, Bewältigungsfähigkeiten und Lebensformen) und in Strukturen (mit

  • stigmatisierenden Adressen
  • Zielgruppen / Wartelisten / Aufnahmehürden …
  • restriktiven, normierenden Hausregeln
  • herausfordernden Zwang zum Zusammenleben
  • zeitliche Limitierung und / oder Ausgrenzung
  • normative pädagogische Erwartungen

Housing First ist extrem erfolgreich und dies bei geringeren Kosten als die bisherigen Konzepte. 98 Prozent der insgesamt 131 durch neunerhaus betreuten Menschen wohnen stabil in ihrer eigenen Wohnung (Zeitraum 2012 – 2015). Studien belegen, dass die Zahl der obdachlosen Menschen um 30% sinkt (in Finnland gibt es gar keine mehr auf der Straße), 77% haben nach 2 Jahren noch immer ihre Wohnung, selbst bei Doppeldiagnosen und ohne Betreuungsverpflichtung. Der Gesundheitszustand verbessert sich, der Alkoholkonsum und die Kriminalitätsrate sinken (und somit auch die Kosten für die Allgemeinheit), die Bereitschaft für Therapieangebote steigt. Auch erste Pilotprojekte in Italien und Südtirol zeigen ähnliche Ergebnisse und Erfolge und räumen auch mit der Mär auf, dass „Nicht jeder Obdachlose untergebracht werden (will)“.  In letzten Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum auch noch Synergie Modelle wie z.B. der Verein Wohnen oder „Wohnen gegen Hilfe“ (VinziRast mittendrin, Wohnbuddy, Condrobs …) oft im Rahmen von Co-Housing Modelle mit Clusterwohnungen, welchen zwei Zielgruppen von Wohnungspolitik eine Lösung bietet (Junge Menschen bzw. Studierende sowie Flüchtlinge bzw. obdachlose Menschen) etabliert. Weiters hochwertige Containersiedlungen wie z.B. in Hamburg oder Wiesbaden.

Somit besteht der Handlungsbedarf der Politik nicht bei der weiteren Bereitstellung von Unterkünften mit teurer Verwaltungs“betreuung“ sondern in der sozialen Wohnbaupolitik Grundlagen zu schaffen für

  • Delogierungsprävention (Infoweitergabe, Aufgabenteilung)
  • Schnelle Vermittlung in Housing First Projekte durch hohe Punkteanzahl für akute Wohnungslosigkeit (in einer Übergangszeit unabhängig von der Unterbringung in Obdachloseneinrichtungen)
  • Clusterwohnungen mit variablen Grundrissen für gemischte Mehrfachnutzungen (und Vermeidung von Ghetto / Stigma / Vandalismus)
  • Klare Regelungen und Zuständigkeiten zwischen WOBI, Sozialsprengel und ambulanter Housing First Unterstützung
  •  Umwandlung nicht mehr genutzter touristischer Kubatur für Sozialwohnungen

 
[i]  Die FEANTSA, der europäische Dachverband der Wohnungslosenhilfe (u.a. sind der italienische Verband fio.PSD und die österreichische Caritas Mitglied) unterscheidet vier verschiedene Bereiche in den ETHOS Kategorien - Europäische Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung:

Obdachlosigkeit:

  • Menschen, die auf der Straße leben aber auch Menschen in niederschwelligen Einrichtungen (z.B. Notunterkünften) übernachten.

Wohnungslosigkeit:

  • Menschen, die in Übergangseinrichtungen wohnen
  • Frauen und Kinder, die in Frauenhäusern wohnen
  • ImmigrantInnen und AsylwerberInnen, die in Auffangstellen mit befristeter Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis leben
  • Menschen, die aus Institutionen (Gefängnissen, Spitälern, Heilanstalten) entlassen werden und zum Zeitpunkt der Entlassung kein Wohnplatz zur Verfügung steht
  • Menschen, die in Dauereinrichtungen wohnen bzw. in ambulanter Wohnbetreuung befinden

Ungesichertes Wohnen:

  • Menschen, die temporäre Unterkunft bei Freunden, Bekannten oder Verwandten finden, ohne einen Hauptwohnsitz zu haben oder ohne Rechtstitel (also ein vertragliches Mietverhältnis), und die vom guten Willen anderer Menschen abhängig sind
  • Menschen, die von Delogierung bedroht sind
  • Menschen, die in ihren Wohnungen von Gewalt bedroht sind

Ungenügendes Wohnen:

  • Menschen die in Wohnwägen, Zelte, Garagen, Keller, Dachböden, Abbruchhäuser etc. leben
  • Menschen die in überfüllten bzw. hygienisch ungenügenden Räumen wohnen

[ii] Diese Wohnungsinserate sind gesetzeswidrig und wären einfach zu beenden, in denen nur Medien, welche keine gesetzeswidrigen Inserate veröffentlichen eine Medienförderung ausgezahlt wird.

[iii] Die Ursachen liegen auf verschiedenen Ebenen:
  • Strukturell: Migration, keine leistbaren Wohnungen am Wohnungsmarkt bzw. Diskriminierung, prekärer Arbeitsmarkt, demografische Entwicklungen, fehlende ambulante bzw. stationäre Dienste bzw. Zugangsbarrieren zu diesen)
  • Organisatorisch: Befristung der Flüchtlingshilfe, fehlendes Entlassungsmanagement, Hausregeln / Hausverbot, Delogierung, …)

Individuell: Rückstände bei Miete bzw. Betriebskosten, Scheidung, Arbeitslosigkeit, chronische Erkrankung bzw. Sucht, mangelnde Sauberkeit, Verstoß gegen Hausregeln, Umgang mit den Nachbarn, nicht rechtzeitig Hilfe bzw. Unterstützung suchen

[iv] Unterstützungsansätze, die lediglich auf die Bereitstellung von Möglichkeiten zielen, haben sich als unzureichend erwiesen. Gerade dadurch, dass sie "anders" sind, sind diese Menschen oftmals nicht fähig, die ihnen gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Die Hilfeleistungen, die den obdachlosen Menschen angeboten werden, müssen auf die Wiedererlangung ihrer Fähigkeit zielen, eigene Entscheidungen zu treffen und die Hilfe nicht nur im herkömmlichen Sinn als Bereitstellung von Nahrung, Kleidung oder Geld zu sehen, sondern auch von Elementen, die zur Bewusstseinsfindung und Gestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit beitragen. Grundlegendes Konzept der Leitlinien ist die Überwindung der Fürsorgelogik und die Hinwendung zu einer aktiven Förderung der Ressourcen der Obdachlosen und zu einer Wiedererlangung ihrer Fähigkeiten und ihrer Autonomie (siehe auch „Leitlinien für die Errichtung und Führung von Einrichtungen für die Aufnahme von Obdachlosen“ - herausgegeben vom Amtes für Familie, Frau und Jugend im März 2003) „Selbstgestaltung und Selbstbestimmung ist das Um- und Auf, der Ausgangspunkt und der Endpunkt im Sozialwesen.“ (Saurer 2001:42).