Cultura | Salto Afternoon

Von Keynes zu Kelton

Perspektiven der Wirtschaft: Wir erleben 2021 als unsichere Zeit voller Fragezeichen. Aber gibt es auch Antworten? Ein "Kulturelemente"-Gastbeitrag.
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Foto: Hannes Egger

Welche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle zeichnen sich am Horizont ab? Maßgebliche Ökonomen kehren zu einer Analyse des vormals international verbindlichen Bretton-Woods-Systems (1) zurück, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Einer dieser Ökonomen ist der Wirtschaftsmathematiker und Politiker Yanis Varoufakis. In seinem 2011 erschienenen Werk Der Globale Minotaurus legt er minutiös dar, wie ein Großteil der Gewinne an den weltweit erzielten Exportüberschüssen der Industrie – seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems in den 1970er Jahren – in die USA zurückfließt. Diese Praxis habe zu einer enormen Verschuldung der USA geführt, jedoch die Exporte vieler anderer Staaten garantiert, welche dafür die Defizite der Vereinigten Staaten finanzierten. Darum bezeichnet er die USA als „globalen Minotaurus“, dem wir alle opfern, um weiter machen zu können wie bisher.  

Angetrieben durch das doppelte Defizit Amerikas (2) spuckten die führenden Überschussökonomien der Welt Güter aus, und die Amerikaner verschlangen sie. Fast 70% der Gewinne, die diese Länder weltweit einstrichen, wurden dann in Form von Kapitalströmen zurück in die Vereinigten Staaten transferiert.
[Varoufakis: Der globale Minotaurus]  

Zum Bruch dieser Ordnung kam es durch die Weltwirtschaftskrise 2008, die Amerika und den Rest der Welt in unsichere Gewässer treiben ließ. Dem Ex-Finanzminister und Enfant terrible der EU-Politik zufolge liege ein zentrales Problem unserer aktuellen, persistierenden Wirtschaftskrise darin, dass der Kapitalismus, so wie Adam Smith ihn einst beschrieb, nichts mehr mit dem heute vorherrschenden Finanzkapitalismus zu tun habe. Die von F. A. Hayek idealisierte Selbstregulierung des Marktes sei nämlich nur gegeben, solange der Markt auf den Produktionsbedingungen in einem überschaubaren Rahmen beruhe, wohingegen wir heute einem globalen Wettkampf und enormen Finanzspekulationen ohne klare Spielregeln ausgesetzt seien. Hinzu kommt, dass es de facto keinen Wettbewerb mehr gibt, wenn einzelne Giganten wie Amazon praktisch konkurrenzlos den globalen Markt verkörpern. Immer wieder wird in den USA die Notwendigkeit einer Entflechtung der Mega-IT-Konzerne, namentlich der Big Five: Google (Alphabet), Amazon, Facebook, Apple und Microsoft [GAFAM] gefordert und ein Anti-Trust-Gesetz wie 1911 gegen die Standard Oil Company ins Spiel gebracht. De facto kündigte das US-Justizministerium im Oktober 2020 ein Kartellverfahren gegen den amerikanischen Suchmaschinenkonzern Alphabet an.
Trotz dieser wiederkehrenden Regulierungsversuche befinden wir uns offensichtlich in einer Zeit des ökonomischen Umbruchs. Als Kollateralschaden fallen Millionen Arbeitsplätze weg, die es schlichtweg nicht mehr braucht. Damit befasste sich auch der kürzlich verstorbene Kulturanthropologe David Graeber in Bullshit Jobs. Er analysierte darin das Phänomen neuer Arbeitsplätze, die keiner brauche und die es bloß gebe, um die bestehende, auf Arbeitsmoral aufbauende Ordnung aufrecht zu erhalten. These: Die Technologie könnte uns entlasten, stattdessen arbeiten wir alle mehr. Auch die Arbeitslosigkeit würde durch die Schaffung sinnloser Jobs bekämpft. Graeber betrachtete daher ein gesichertes Grundeinkommen als möglichen Ausweg aus dieser Arbeitsmarktaporie. Ein Ansatz, der sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Ein anderer Ansatz, vertreten etwa vom Wirtschaftshistoriker Hans-Heinrich Bass, setzt auf die Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze durch eine innovative, von kleinen und mittleren Unternehmen getragene Industriepolitik. Er plädiert für eine stärkere staatliche und supranationale politische Kontrolle des Welthandels. Mit anderen Worten, eine Regulierung der Weltfinanzmärkte durch die Staatengemeinschaft. Aber taugt der Staat auch als Unternehmer?  

Kapitale Aufwertung des Staates  

Mit ihrer Analyse der unternehmerischen Rolle des Staates erlangte Mariana Mazzucato, Professorin für Economics of Innovation and Public Value am University College London, schlagartig internationale Bekanntheit. Ihr vielbeachtetes Werk The Entrepreneurial State: debunking public vs. private sector myths [Das Kapital des Staates] ist eine Abrechnung mit dem allseits verbreiteten neoliberalen Mythos, dass der Staat als Unternehmer nichts tauge. Die Ökonomin widerspricht der landläufigen Meinung, dass der Staat sich besser nicht allzu viel in die Wirtschaft einmischen solle (als „Nachtwächterstaat“ von F. Lassalle ironisch verewigt).
Akribisch weist Mazzucato nach, dass einige der bedeutendsten Innovationen unserer Zeit vom Staat im öffentlichen Interesse entwickelt und daher mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Vor allem zu militärischen Zwecken, aber auch im Gesundheitswesen ließen sich bahnbrechende Ergebnisse erzielen, deren Produkte erst viel später von der Privatwirtschaft übernommen wurden, welche nun Milliardengewinne damit erzielt. Beispiele: Raumfahrt und Satelliten, Mobiltelefonie, Internet und GPS. „Makers and Takers“ [Schöpfer und Abschöpfer] nennt Mazzucato das Verhältnis zwischen staatlichen Innovationen und IT-Giganten wie Apple, in dessen iPhone, so die Professorin für Werttheorie, nicht eine einzige Technologie stecke, die nicht staatlich finanziert wurde.  
Vom Staat entwickelt, werden Innovationen und damit auch die Gewinne am Ende privatisiert, während die Öffentliche Hand das Wagniskapital, mithin das Risiko trägt und die privatwirtschaftlich verheerend langen Forschungszeiten in Kauf nimmt. Die Verluste „systemrelevanter“ Konzerne oder auch Banken werden hingegen re-sozialisiert, also rückverstaatlicht. Diese einseitige Ausrichtung, warnt Mazzucato, würde die Staaten langsam ausbluten und die staatliche Innovationskraft, etwa zur Meisterung der Klimakrise, langfristig hemmen. Eine Abwärtsspirale. Varoufakis nennt dies provokativ den „realexistierenden Sozialismus für die Oberschicht“.  

Kritik der schwäbischen Hausfrau  

Hier schließt Volkswirtschaftler Heiner Flassbeck an, der den Keynesianischen Grundsatz vertritt, dass ein Staat sich in einer Krise verschulden müsse. „Der Arbeitsmarkt ist kein Kartoffelmarkt“, wird Flassbeck in seinen Vorträgen nicht müde zu betonen. Wird der Unterschied zwischen Einzelwirtschaft und Gesamtwirtschaft verdrängt, dann lässt sich die Regel „Gibt es viele Kartoffeln, so fallen die Preise“ auch auf den Arbeitsmarkt anwenden: „Gibt es viele Arbeitskräfte, dann sinken die Löhne“. So fordert die EU immer wieder von Mitgliedsstaaten, die in einer Krise stecken, Reformen als Bedingung für die Gewährung zusätzlicher Kredite: vor allem den Abbau der Staatsschulden und eine Senkung der Löhne. Der Unterschied zum Kartoffelmarkt: Sinken die Löhne, dann sinkt auch die Kaufkraft der Arbeitnehmer, und die Wirtschaft schrumpft weiter. Ziel verfehlt. Wenn hier der Staat, so Flassbeck, in einer Krise nicht regulierend in den Markt eingreift und sich verschuldet, sondern stattdessen in eine Krise noch hineingespart wird, kommt es zu einer Abwärtsspirale; die Arbeitslosigkeit wird steigen und nicht sinken. Darum bezeichnet Flassbeck die Agenda der Sparsamen Fünf (3) als „Logik der Schwäbischen Hausfrau“ mit ebenso wenig Weitblick.  Auch die österreichischen Ökonomen Nikolaus Kowall und Philipp Heimberger argumentieren, dass die weit verbreiteten Allgemeinplätze über reformunwillige, spendable Mittelmeerstaaten inklusive Frankreichs keineswegs zuträfen, sondern vielmehr der Stabilitätspakt aufgeschnürt werden müsse.  

Diesseits von Gut und Böse

Einen neuen Zugang zur spätkapitalistischen Weltordnung beschreitet der tschechische Ökonom Tomáš Sedláek, der in Die Ökonomie von Gut und Böse moralische Kategorien in die Ökonomie-Theorie einfließen lässt. Wirtschaftliche Entscheidungen seien letztlich auch moralische Entscheidungen. (4) Parallel dazu positioniert sich Sedláek als Gegner großzügiger Staatsverschuldung auf Kosten zukünftiger Generationen.  
Wesentlich entspannter ist der Zugang der Schumpeterianerin Carlota Pérez, die eine Erlösung zukünftiger Generationen von ihrer Schuldenlast im techno-ökonomischen Paradigmenwechsel, mithin dem technologischen Fortschritt errechnet hat. Wie einige andere Wissenschaftler*innen geht sie davon aus, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben und die Effekte der technologischen Entwicklung auf unsere Wirtschaft uns eine neue Welt eröffnen werden.  

Politologe Dimitrios Kisoudis erkennt hingegen in der Auflösung des Bretton-Woods-Systems 1973 den Beginn vom Ende des sogenannten freien Westens. In Goldgrund Eurasien erspäht er das Heraufziehen einer neuen politisch-autoritären Ordnung. Er plädiert in ordoliberaler Tradition für ein auf Ordnungsaufgaben beschränktes Staatswesen und kritisiert bereits fünf Jahre vor dem europaweiten Lockdown den modernen Sozialstaat als „totalen Staat“, der die Freiheit der Bürger in Zukunft massiv beschränken wird. Nur seine Feinde, meint der Autor, würden den Westen noch als liberal bezeichnen. Die Westler selbst sprächen lieber von ihren Werten und meinten damit Rechte, welche die Bürger aber nicht mehr als Freiheitsrechte vom Staat einfordern dürften, sondern als Anspruchsrechte von ihren Mitbürgern, worüber wiederum der Staat wache. Vertragsfreiheit gelte in der westlichen Privatwirtschaft also nur noch eingeschränkt. Kisoudis sieht hier ein neues Spannungsfeld zwischen einem „autoritären Liberalismus“ im Osten und einem „postmodernen Geldsozialismus“ im Westen.  

Kapital und Ideologie  

Wer im Westen einen „Geldsozialismus“ heraufziehen sieht, ist dem renommierten Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty (5) zufolge wohl auf dem Holzweg. Piketty argumentiert ganz im Gegenteil, dass mit dem Ende von Bretton-Woods der zügellose Kapitalismus wieder zu steigender Ungleichheit führte. Während bis in die 1970er Jahre hinein das Wirtschaftswachstum die Kapitalrenditen überstieg, wodurch die Ungleichheit verringert werden konnte, führte die folgende Deregulierung zu einer Umkehr dieses Prozesses und damit wieder zu starker Vermögenskonzentration, zu einer stagnierenden Wirtschaft und letztlich zu einer Bedrohung der Demokratie. Wir steuern heute Piketty zufolge in Richtung einer Ersatz-Religion des Eigentums, flankiert von einer aus Wohlstandsbürger*innen bestehenden akademischen („brahmanischen“) Linken anstelle des einstigen Proletariats. Das von niemandem mehr repräsentierte Proletariat ist aber immer noch da und äußert sich zunehmend in spontanen, auch gewaltbereiten Protestformen bis hin zu terroristischen Aktionen.  Mit seiner These, dass die Wirtschaft in Europa und Nordamerika ihr größtes Wachstum verzeichnete, als der Anteil der obersten 10% am gesamten Reichtum am kleinsten war, eröffnet Piketty einen neuen wirtschaftspolitischen Diskurs rund um die Forderung nach Umverteilung. In seinem Maßnahmenkatalog als Vorschlag zur Lösung der wieder zunehmenden globalen Ungleichheit fordert er unter anderem die Ausstattung aller Bürger*innen mit einem Grundvermögen, kurz gesagt, ein einmaliges Grundeinkommen, dessen Höhe es ihnen erlaubt, ihre Lebensentwürfe zu beginnen. 

 

Unter „Kapital und Ideologie“ ließe sich wohl auch die modernste ökonomische Denkrichtung aus den USA subsummieren, die als Modern Monetary Theory vom linken Flügel der Demokraten, etwa B. Sanders oder A. Ocasio-Cortez, in das Blickfeld der Öffentlichkeit lanciert wird. Einige der bekanntesten Vertreter*innen der MMT, etwa Warren Mosler oder Stephanie Kelton, fordern unter anderem, dass ein souveräner Staat mit eigener Währung sich notfalls verschulden müsse, um Vollbeschäftigung zu garantieren. Stattdessen nehme die aktuelle Wirtschaftspolitik durch die Zinspolitik der Zentralbanken in Kauf, in Zeiten zu hoher Inflationsraten Arbeitslosigkeit zu schaffen. Dabei könne der Staat jederzeit Arbeitslosigkeit beseitigen, indem er als letztverantwortlicher Arbeitgeber [Employer of Last Resort] fungiere. Der Staat ist für die MMT-Vertreter*innen zentral als schöpfende Instanz der Währung. Er sei somit geeignet als Garant für Vollbeschäftigung und könne jede Krise beseitigen, solange seine Geldschöpfung nicht die tatsächlich vorhandenen Ressourcen übersteigt. Solange der Staat in seiner eigenen Währung verschuldet sei, wäre all dies kein Problem. Auch namhafte europäische Ökonomen wie Andrea Terzi oder Alain Parguez tragen zur Weiterentwicklung dieser Theorie bei, jedoch hebelt die gemeinsame Währung und die geringe Größe einiger europäischer Staaten die monetäre und fiskalpolitische Souveränität der einzelnen Staaten aus. Dies wird Populist*innen und EU-Skeptiker*innen, die in der Covid-Krise erst einmal sang- und klanglos untergetaucht sind, bald wieder auf den Plan rufen. Zu verlockend scheint die MMT – vor allem in Italien, wo eine Politik der Abwertung der Lira in den 1980er Jahren sehr erfolgreich betrieben wurde –, um nicht den EU-Austritt eines Krisenstaates zu fordern. Spätestens in der nächsten Wirtschaftskrise, die Varoufakis zufolge nicht die nächste, sondern immer noch dieselbe sein wird. 

Mit freundlicher Genehmigung von: Kulturelemente