Verkaufte Heimat und Zweitland
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Sechzig Jahre Schweigen sind kein Zufall, sondern die Regel. Vor ein paar Monaten hatte Michael Koflers Spielfilm „Zweitland“, der sich mit den Bombenjahren der 1960er-Jahre in Südtirol auseinandersetzt, seine Premiere. Das sind sechs Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen. Die zeitliche Distanz wirkt auf den ersten Blick absurd. Tatsächlich enthüllt sie etwas über die Gegenwart. Geschichte verschwindet nicht, weil sie vergessen wird, sondern weil sie lange nicht erzählbar ist. Nun aber ist es soweit, dass die tragische Geschichte der Bombenjahre nicht nur in der SALTO Podcast-Serie „Bombenjahre – Die Geschichte der Südtirol-Attentate“ (2023/24, die Interviews stammen von Beginn der 2000er Jahre), sondern auch im Kino erzählt werden kann. Doch warum dauerte es so lange? Weil Erinnerung Machtverhältnisse berührt? Weil Bilder Fragen stellen, wo man lieber Antworten verwaltet? Und weil Film – anders als Archive oder Gedenkreden – Emotionen freilegt und Schuld sichtbar macht?
Sind 60 Jahre ein Naturgesetz?
Dieses Muster ist nicht neu. Der Fernsehzweiteiler „Verkaufte Heimat“ von Karin Brandauer (1990, Drehbuch Felix Mitterer) behandelte den Faschismus und die Optionszeit, die damals ebenfalls schon fast sechzig Jahre zurücklagen. Sechzig Jahre, bis aus politischem Kalkül erzählbare Geschichte wurde. Davor galt: Man wusste es, aber man sprach nicht darüber. Man erinnerte sich im Privaten, im Öffentlichen herrschte Schweigen. Keine Frage – es war ein Schweigen, das stabilisierend wirkte. Für Institutionen. Für Narrative. Für ein Selbstbild ohne Risse.
(Gute) Filme entstehen dort, wo (in Anlehnung an Ingeborg Bahmann) Wahrheit zumutbar wird. Erst wenn der große Teil der handelnden Akteure verschwunden ist, wenn Verantwortung diffus genug erscheint, erst wenn Konflikte musealisiert werden können, öffnet sich der Raum für Erzählungen. Dann darf man hinschauen. Dann darf man fühlen. Dann darf man sogar kritisch sein.
Gute Filme entstehen dort, wo Wahrheit zumutbar ist
Wenn wir nun die Regel der Verzögerung zum Naturgesetz machen, dann sind wir auch angehalten, in die Zukunft zu blicken. Welcher Film wird im Jahr 2085 über die Gegenwart Südtirols gedreht, die dann sechzig Jahre in der Vergangenheit liegen wird? Ist es ein Film über den schleichenden Ausverkauf der Heimat? Über Täler voller Luxusresorts und Zweitwohnsitze, die elf Monate im Jahr leer stehen? Über Dörfer, in denen es mehr Gästebetten als Einheimische gibt? Über junge Menschen, die dort arbeiten, wo sie nicht mehr wohnen können? Über sozialen Wohnbau, der auf dem Papier existiert, um den sich die Politik im Augenblick so sehr bemüht, der aber im Landschaftsbild keinen Platz mehr findet?
Die Epoche der "stillen Enteignung"
Vielleicht wird man unsere Zeit rückblickend als eine Epoche der „stillen Enteignung“ beschreiben: keine Bomben, keine Barrikaden, kein Ausnahmezustand – und gerade deshalb so schwer greifbar. Der Verlust kommt nicht mit Explosionen, sondern mit Baukränen. Nicht mit Sirenen, sondern mit Marketingbroschüren. Nicht mit Gewalt, sondern mit Rendite. Der Titel für den Südtirol-Film von 2085 braucht kein Pathos. Es reicht eine Feststellung - “Ausverkauft“.
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