Gesellschaft | Kleinkindbetreuung

Folgen des Kita-Gaps

AFI-Forscherin Aline Lupa erklärt, wie der so genannte "Kita-Gap" schon früh Bildungsungleichheiten unter Kindern hervorruft und wie sich der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen auf die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirkt.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Pexels - Tatiana Syrikova
  • Nirgends in Europa arbeiten so viele Frauen unfreiwillig in Teilzeit oder gar nicht gegen Entgelt wie in Italien. Ein Grund dafür ist der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen. Das Ergebnis ist nicht nur eine schlechtere wirtschaftliche Position der Frau, sondern auch der sogenannte Kita-Gap, der beschreibt, dass vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien weniger Betreuungsplätze beanspruchen.

  • Frau Lupa, die Geburtenrate sinkt seit Jahren und dennoch steigt die Nachfrage an Kinderbetreuungsplätzen. Wie kann es sein, dass dennoch ein Mangel an Betreuungsplätzen vorliegt?
    «Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist die Frauenerwerbsquote heute viel höher als früher. Frauen sind mehrheitlich nicht mehr nur Mütter und Hausfrauen. Kinder können also nicht mehr rund um die Uhr von den Eltern betreut werden. Zum anderen gibt es ein Problem in der Infrastruktur. Es fehlen Räumlichkeiten und das nötige Personal. Besonders in den Dörfern gibt es oft keinen Platz in der Nähe. Diese beiden Komponenten führen dazu, dass der Bedarf genauso schnell wächst, wie der Ausbau. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen geändert werden, indem zum Beispiel mehr in Fachkräfte investiert wird».

    Wie kommt es zu einem Mangel an Kitapersonal? Wieso wählen immer weniger Personen dieses Berufsbild?
    «Nachdem die Löhne in Kitas geringer sind, gibt es viele Abgänge zu Kindergärten, wo die Löhne höher ausfallen. Es ist positiv zu vermerken, dass diesem Trend bereits entgegengewirkt wird. Die Anhebung der Tariflöhne Anfang 2023 hat dem Beruf in der Kleinkindbetreuung wieder etwas mehr finanzielle Wertschätzung verliehen. Mithilfe von Geldern aus dem staatlichen Wiederaufbaufonds wurden in Südtirol zwischen 2010 und 2020 bereits tausend neue Betreuungsplätze geschaffen sowie ein konsistenter Ausbau in vielen Gemeinden sichergestellt».

    Der Mangel an Kinderbetreuungspersonal führt zu den sogenannten Kita-Gaps, was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
    «Der Begriff „Kita-Gap“ beschreibt die ungleiche Nutzung oder den ungleichen Zugang zur Kinderbetreuung. Eine Studie des Deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsschutz (BiB) hat eben gerade diese Gründe untersucht und festgestellt, dass es Unterschiede in der Nutzung nach familialen Merkmalen gibt. Das heißt, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien oder von Eltern, die keinen akademischen Hintergrund haben, deutlich seltener eine Kita besuchen».

    Ist das auch in Südtirol der Fall?
    «Ob sich dies so genau aus Südtirol übertragen lässt, kann man nicht sagen, weil das Phänomen des Kita-Gaps leider hierzulande noch nicht ausreichend thematisiert und erforscht ist. Tatsache ist aber, dass in Südtirol nur jedes vierte Kind einen Kitaplatz erhält. Laut der Südtiroler Familienstudie vom Landesinstitut für Statistik (ASTAT) und der Familienagentur sind es insbesondere Arbeitnehmende in der Privatwirtschaft und italienisch- und fremdsprachige Eltern, die sich mehr Betreuungsangebote wünschen. Vor allem die Nachfrage nach betrieblicher Kleinkindbetreuung steigt. Momentan bieten nur 11% der Betriebe in Südtirol Unterstützung bei der Kleinkindbetreuung an». 
     

  • Tatsache ist aber, dass in Südtirol nur jedes vierte Kind einen Kitaplatz erhält.

  • Welche großen Probleme ergeben sich aus den Kita-Gaps?
    «Kindern aus benachteiligten und ressourcenschwachen Familien bleibt der Einstieg in die frühkindliche Bildung verwehrt, wodurch ihnen stückweit schon eine frühe gesellschaftliche Teilhabe entgeht». 

    Woran liegt das?
    «Aus der Studie des BiB geht hervor, dass sich verschiedene sozioökonomische und demografische Merkmale von Familien auf die Kita-Nutzung und -bedarfe auswirken. Dazu zählen vor allem der elterliche Bildungs- und Migrationshintergrund, das Haushaltsnettoeinkommen, die elterliche Erwerbskonstellation sowie die in den Familien überwiegend gesprochene Sprache. Es zeigt sich, dass vor allem Familien, bei denen diese Merkmale nachteilig ausfallen, keinen Kitaplatz bekommen, obwohl sie einen wollten. Sehr oft gibt es an ihrem Wohnort kein entsprechendes Angebot, die Kosten sind zu hoch, die Öffnungszeiten nicht passend oder die Betreuungsqualität nicht ausreichend». 

    Dabei würden diese Familien von einer Kita-Nutzung besonders profitieren…
    «Ja, so ist es. Die Benachteiligung macht sich häufig schon durch ungleiche Entwicklungen in der Bildung beim Schuleintritt bemerkbar. Kinder, die nicht in der Kita oder von einer Tagesmutter bzw. einem Tagesvater betreut wurden, haben ein höheres Risiko sozial „immobil“ – sprich festgefahren zu sein, sie haben also geringere soziale Aufstiegschancen. Im Zusammenhang mit dieser Thematik wird häufig der Nobelpreisträger James Heckman zitiert: Er hat bewiesen, dass kaum eine andere Investition gesellschaftlich eine solch hohe Rendite abwirft wir jene der frühkindlichen Bildung. Dennoch reagieren Regierungen meist erst dann, wenn die Probleme auftauchen». 

    Warum ist es so wichtig, in frühkindliche Bildung zu investieren? 
    «Weil auch hier das Prinzip Vorsorge gilt. Kinder sind noch formbar, weshalb frühe Förderung eine nachhaltige positive Auswirkung auf ihre gesamte Lebenslaufbahn haben kann. Personen, die qualitativ gute frühkindliche Einrichtungen besucht haben, haben bessere Schulabschlüsse, erzielen höhere Löhne, werden seltener arbeitslos. Auch mangelnder Integration kann so entgegengewirkt werden. Aus volkwirtschaftlicher Sicht sind frühe Investitionen weitaus kostengünstiger, als wenn Bildungsrückstände im späteren Alter mit viel Aufwand aufgeholt werden müssen». 
     

  • Foto: Pexels - Yan Krukau
  • Welche Auswirkungen hat der Mangel an Betreuungsplätzen auf die Familiensituation und die Mütter? 
    «Fest steht, dass Kinderbetreuungseinrichtungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen und deshalb die Erwerbstätigkeit von Müttern fördern, was wiederum ein wirtschaftlicher Faktor ist. Der ungedeckte Bedarf ist vor allem bei nicht-erwerbstätigen Müttern hoch. Das spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass Italien im europäischen Vergleich den höchsten Prozentsatz unfreiwillig teilzeitbeschäftigter Frauen aufweist. Auch was die Beschäftigungsquote der Frauen angeht, steht Italien nicht gut da».

    Inwiefern verhindert der ungedeckte Kita-Bedarf die mütterlichen Erwerbsabsichten?
    «Die Studie des BiB geht effektiv auch dieser Frage nach. Denn dieser Aspekt ist nicht nur aus gleichstellungspolitischer Perspektive relevant, sondern auch für arbeitsmarktpolitische Überlegungen. Insbesondere mit Blick auf den demografisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials und dem damit verbundenen Fachkräftemangel. Allerdings überträgt sich nicht jeder zusätzliche Platz automatisch eins zu eins auf die Erwerbstätigkeit von Müttern. Die Erwerbstätigenquote und das Erwerbsvolumen von Müttern müssen gesondert betrachtet werden, was leider bei Befragungen häufig nicht der Fall ist. Staatlich geförderte Kinderbetreuung muss attraktiv genug sein, damit Mütter nach der Mutterschaft den Weg zurück in die Erwerbsarbeit wählen».  

    Und hier kommt wieder die von Ihnen bereits genannte Betreuungsinfrastruktur ins Spiel, richtig?
    «Ja, genau. Die Erwerbstätigkeit von Müttern rentiert sich für Familien häufig nicht, wenn Kitaplätze z.B. zu teuer sind (besonders bei mehr als einem Kind), wenn der nächste Platz zu weit weg oder die Betreuungsqualität mangelhaft ist». 

    Was kann getan werden, um mehr Angebot zu schaffen? Welche Lösungen wurden anderorts angestrebt? 
    «Handlungsempfehlungen gab es bei der Konferenz in Berlin zahlreiche, um die Verlässlichkeit von Kinderbetreuung zukünftig gewährleisten zu können. Die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung müssen sich damit befassen, wie Kitaplätze gerechter verteilt werden können. In Deutschland beispielsweise ist es so, dass zwar jedes Kind einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz hat, aber der allein bringt natürlich auch nichts, wenn er nicht von allen Familien wahrgenommen werden kann. Auf Südtirol bezogen heißt dies beispielsweise, dass der Bildungsstand und das Einkommen als Kriterien bei der Aufnahme mehr berücksichtigt werden könnten. Von Vorteil ist sicher, dass Kitas in Südtirol, im Gegensatz zu den Kindergärten, bereits mehrsprachig sind, wovon die Kinder in ihrer kulturellen Bildung profitieren». 
     

  • Kindern aus benachteiligten und ressourcenschwachen Familien bleibt der Einstieg in die frühkindliche Bildung verwehrt, wodurch ihnen stückweit schon eine frühe gesellschaftliche Teilhabe entgeht

  • Was würde hier konkret helfen?
    «Eine zentrale Vergabestelle könnte hier Abhilfe schaffen, um diskriminierende Prozesse zu verhindern. Es sollte außerdem Aufgabe der Politik sein, die Diskrepanz zwischen ökonomisch schlechter und besser gestellten Milieus aufzugreifen, indem benachteiligte Familien zuerst gefördert werden und ihnen der Zugang zu Kinderbetreuung vereinfachet wird. Dafür braucht es ausreichende Informationsvermittlung und niedrigschwellige Angebote, wie soziale Treff- und Informationspunkte, Hilfeleistungen bei Antragstellungen oder sogenannte Geburtslotsen, die Eltern ab der Geburt bis zum Kitaplatz begleiten. Also im Prinzip weniger Suchaufwand, mehr Unterstützung beim Anmeldeprozess und proaktive Vorschläge eines Kitaplatzes an benachteiligte Familien». 

    Sind auch die Kosten ein Thema?
    «Auch das erschwert natürlich den Zugang. In Südtirol gibt es – anders als in Deutschland – nur ermäßigte, aber keine komplett kostenlosen Plätze für einkommensschwache und armutsgefährdete Familien. Aber auch gebührenfreie Kitas allein nützen nichts, wenn nicht gleichzeitig die Betreuungsqualität gefördert wird. Das Land Südtirol fördert Kindertagesstätten über die Familienagentur und setzt dabei auf hohe Qualitätsstandards. In einem landesweit gültigen Rahmenplan ist beispielsweise festgehalten, dass eine betreuende Fachkraft für maximal fünf Kinder gleichzeitig verantwortlich sein darf».

    Was sollte noch getan werden?
    «Um die Herausforderungen im Bereich der Kleinkindbetreuung zu meistern, fehlt es hierzulande an einer regelmäßigen Bedarfserhebung, um Angebot und Nachfrage im Blick zu behalten und gezielt auf Mängel reagieren zu können. Der Südtiroler Gleichstellungsaktionsplan lässt auf Besserungen hoffen. Er sieht ein neues Konzept für bedarfsorientierte Modelle der Betreuung von Kleinkindern im Sinne eines Ganzjahresmodell vor. Der Fokus liegt dabei auf der Erweiterung der Öffnungszeiten, um die Vereinbarkeit von Erziehung und Beruf für die Eltern zu erleichtern. Positiv zu vermerken ist außerdem, dass für die Umsetzung dieser Maßnahme die Bildungsdirektion und die Familienagentur verantwortlich sind. Die Gemeinden, die für die Einrichtungen von Kitas verantwortlich sind, hinken aufgrund der großen Nachfrage und des fehlenden Personals nämlich sowieso hinterher». 

    Welche Verbesserungen würde eine Ausdehnung der Kleinkindbetreuung für Kinder, Mütter und Familien mit sich bringen?
    «Fakt ist, dass sich Elternschaft auf Mütter extrem stark gegenüber Vätern auswirkt. Ab der Geburt des ersten Kindes verändern sich die Erwerbsverläufe von Frauen drastisch. Ein bessere Betreuungsangebot kann natürlich keine Gleichheit zwischen Frauen und Männern schaffen, aber dazu beitragen, Ungleichheiten am Arbeitsmarkt und in der Übernahme von Familienaufgaben abzubauen. Von flexiblerer Kinderbetreuung würden übrigens auch die Väter profitieren. Die Freda Studie des BiB z.B. belegt, dass Väter gerne mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten und auch bereit sind, dafür Abstriche bei der Erwerbsarbeit zu machen».