Marthas Maske
Es hätte Signal von Mut und Demut sein können, das Martha Stocker am Dienstag Mittag hätte senden können. Ihr Auftritt war eigentlich nicht vorgesehen. Erst die folgenschwere Odyssee einer kurdischen Flüchtlingsfamilie, die im Tod des 13-jährigen Adan nach einem Sturz aus seinem Rollstuhl ihren tragischen Höhepunkt fand, machte die Anwesenheit der Soziallandesrätin bei der Pressekonferenz zur Sitzung der Landesregierung notwendig. Wird sie Gesicht zeigen, metterci la faccia, wie es im Italienischen für “Verantwortung übernehmen” heißt? Die Frage hängt wie Blei im Raum nachdem am Montag sogar vonseiten des UN-Flüchtlingswerks UNHCR Kritik an der verwehrten institutionellen Hilfe für die sechsköpfige Familie laut geworden war, die 2015 aus dem Irak geflohen war.
Statt Gesicht zeigt Martha Stocker eine Maske. Ja, “tief betroffen” stehe man da, ja, “tief empfundenes Beileid” spreche man der Familie aus. Aber Versagen hat die Landesrätin bei den von der Provinz mit der Flüchtlingsaufnahme beauftragten Institutionen und Organisationen keines ausgemacht. Allenfalls die Kommunikation zwischen sei “nicht so erfolgt, wie sie hätte erfolgen können”, sagt Stocker. Und zeigt damit mit dem Finger auch auf die Freiwilligen von SOS Bozen, die sich der kurdischen Familie in Bozen angenommen haben.
(K)Eine Ausnahme für Adan
Wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Bozen taucht die Familie H. auf dem Radar der institutionalisierten Flüchtlingshilfe auf. Zunächst bei der Flüchtlingsberatung der Caritas, dann beim Verein Volontarius und dem Dienst für Soziale Eingliederung des Betriebes für Sozialdienste Bozen, kurz SIS. Es ist der SIS, die der Familie mitteilt, dass sie kein Anrecht auf Aufnahme hat. Grundlage für die Entscheidung ist das als “circolare Critelli” bekannte Rundschreiben von Stockers Abteilungsdirektor Luca Critelli, das Personen, die bereits in einem anderen Land um Asyl angefragt haben, von der Aufnahme in das System des Landes ausschließt.
Doch so einfach lässt die Landesrätin sich und ihrem Abteilungsdirektor den Schwarzen Peter nicht zuschieben. “Es entspricht nicht der Wahrheit, dass die Richtlinien des Landes die Unterbringung in Situationen wie jener der Familie H. ausschließen”, will Stocker klar gestellt wissen. Vielmehr sehe das Rundschreiben ausdrücklich vor, dass “un collocamento è possibile soltanto in presenza di gravi motivi che lo rendano assolutamente necessario (p.es. pericolo di danni alla salute) e per un periodo massimo di tre giorni”. Diese mögliche Ausnahme gelte auch für Personen, die bereits in anderen Ländern und Regionen waren, heißt es in einem zweiseitigen Papier, in dem das Land Südtirol alle bisher verfügbaren Informationen zum Fall Adan gesammelt hat.
Der kleine Adan litt an Muskeldystrophie, wegen der er im Rollstuhl saß. Sein Gesundheitszustand war äußerst prekär. Bereits am Montag (2. Oktober) wird der 13-Jährige wegen Atemprobleme und Schmerzen in das Bozner Krankenhaus eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt hat der SIS bereits Nein zur Aufnahme gesagt. Wenn nun aber das Critelli-Rundschreiben eine Ausnahme in Fällen vorsieht, in denen “Gefahr für gesundheitliche Schäden” besteht – warum wurde der Familie die Unterbringung durch die zuständigen Stellen – SIS und Volontarius – verwehrt? “Wenn die Unterbringung nicht erfolgt ist, dann, weil die Situation den Diensten nicht von Anfang an als so schwerwiegend bekannt war, wie sie sich später herausgestellt hat”, startet Stocker einen Erklärungsversuch. Sprich, beim SIS wurde der Fall falsch eingeschätzt, weil Informationen zur gesundheitlichen Verfassung des Jungen gefehlt haben. Doch macht diese Tatsache das Ganze nicht noch gravierender? Zeugt sie doch von ebender “Unfähigkeit”, die Freiwillige dem der organisierten Flüchtlingshilfe in gewissem Maße vorwerfen.
Zurückziehen oder zurücklehnen?
Erst der Krankenhausaufenthalt des Jungen habe, so Stocker, weitere Pathologien ergeben, die laut behandelndem Arzt “stretto monitoraggio e cure continue” brauchen. Eine Unterbringung sei opportun, heißt es bei der Entlassung am 4. Oktober, bei der Adan laut der Landesrätin “in gutem gesundheitlichen Zustand” gewesen sei. Noch immer kümmern sich die Freiwilligen von SOS Bozen um die Familie, organisieren eine Unterkunft. Doch wären nicht allerspätestens seit Bekanntwerden des Gesundheitszustandes des 13-Jährigen die Institutionen für die Aufnahme der Familie zuständig gewesen? Volontarius zieht sich zurück als man beim Verein erfährt, dass Private eine Unterkunft organisiert hätten – finanziert aus eigener Tasche. “Wäre eine entsprechende Notwendigkeit gemeldet worden, wäre eine Aufnahme aufgrund der zusätzlichen Informationen zur Situation vom SIS sicherlich neu bewertet worden”, schiebt Stocker die Hände vor – und jegliche Verantwortung von sich.
Dafür erntet sie heftige Kritik aus den Reihen der Opposition. “Es ist offensichtlich, dass die Landesrätin mit der Betreuung der Flüchtlingsagenden überfordert und/oder eindeutig schlecht beraten ist”, schreiben die drei Grünen Landtagsabgeorndeten in einer Aussendung. “Mit Defensivhaltung und bürokratischem Zynismus kann dieses komplexe gesellschaftliche Phänomen nicht angegangen werden. Landesrätin Stocker sollte besser nach Oben delegieren, als nach Unten abwälzen (wie wir es derzeit erleben) – und die Flüchtlingsagenda direkt an Landeshauptmann abgeben. Die Zeit ist eindeutig reif dafür.”
Was bleibt?
Was nach den Worten der Landesrätin bleibt, sind Fragezeichen: Wo bleiben die Konsequenzen? Tritt jemand zurück? Wird sich etwas im Umgang mit Flüchtlingen verbessern? Diese drei Fragen stellt sich der Migrationsforscher und Buchautor Kurt Gritsch auf Facebook. Die Frage der Journalisten, ob Köpfe rollen werden, beantwortet die Landesrätin ausweichend: Die zuständigen Stellen hätten eben entsprechend ihrem Informationsstand gehandelt. Nach dem Motto: Weil sie es nicht besser gewusst haben, haben sie es nicht besser machen können. Womit Stocker bei den Konsequenzen ist: “Die Abstimmung und Kommunikation zwischen den involvierten Stellen muss verbessert werden.” Das gelte auch für “freie” Freiwillige, um “Doppelgleisigkeiten und Zeitverlust” zu vermeiden. Dabei wird der Einsatz von Freiwilligen häufig erst nötig, weil die zuständigen Stellen und Dienste Lücken in der Versorgung von Flüchtlingen, speziell jenen, die selbstständig nach Südtirol kommen, offen lassen. In diesem Sinne sollen zweitens die Zuständigkeiten zwischen Staat und Land ein für allemal geklärt werden: Wer ist für die Flüchtlinge, die auf eigene Faust Südtirol betreten, verantwortlich? Wie soll mit ihnen verfahren werden?
Und was passiert mit der viel kritisierten “circolare Critelli”, die offensichtlich auch offiziell für die Aufnahme zuständigen Stellen überfordert? Wird das Rundschreiben zurückgezogen, überarbeitet? Zumindest “vertiefen” will man das Ganze, gesteht Martha Stocker. Die im Rundschreiben enthaltenen Kriterien für die “Notaufnahme” von Flüchtlingen sollen “überprüft und bei Bedarf revidiert” werden. “Sie sollen möglichst objektiv formuliert sein und die Notwendigkeit von Einzelfallbewertungen überwinden, da dies für die involvierten Stellen schwierig und belastend ist.”
Bleibt die Frage: Wird sich nach dem Tod von Adan etwas im Umgang mit Flüchtlingen verbessern? Just am frühen Dienstag Morgen, wenige Stunden bevor Martha Stocker vor die Medienvertreter tritt, spielt sich nicht weit entfernt zum wiederholten Mal ein Szenario ab, das mehr sagt als tausend Worte: In der Nähe der Drususbrücke werden Flüchtlinge aufgegriffen, die die Nacht unter einer Brücke verbracht haben. Decken, die zumindest ein bisschen warm gehalten haben, werden entrissen entsorgt. Im Auftrag der Gemeinde Bozen. Nicht zum ersten und sicherlich nicht zum letzten Mal.
Haben wir uns etwas anderes
Haben wir uns etwas anderes erwartet ? Ihr Titel bringt die Sache auf den Punkt. Schämen sich gewisse Leute eigentlich überhaupt nie ?