Ambiente | Pflanzenschutzmittel

Die „unselige“ Studie

Hat die Vinschger Pflanzenschutzmittel-Studie die Gesellschaft aufgerüttelt oder nur unbegründete Ängste geschürt? Die wissenschaftlichen Meinungen gehen auseinander.
Pflanzenschutzmittel
Foto: Othmar Seehauser
  • Vor rund einer Woche hat die Studie über die „Pestizid-Ausbreitung im Vinschgau vom Tal bis in die Gipfelregion“, wie sie in einer Aussendung des Mitverfassers und Sprechers des italienischen Pesticide Action Network (PAN), Koen Hertoge, bezeichnet wurde, für großes Aufsehen gesorgt. Aber nicht nur in Südtirol ging die wissenschaftliche Publikation der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) durch alle Medien, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum. 

  • Bodenproben im Vinschgau: Eine Studentengruppe aus Landau inklusive Begleitpersonen (Johann Zaller und Carsten A. Brühl) haben zwischen dem 8. und 11. Mai 2022 Bodenproben in unterschiedlichen Höhenlagen genommen. Foto: RPTU Kaiserslautern-Landau

    Während der Dachverband für Natur- und Umweltschutz von Besorgnis erregenden Ergebnissen spricht, den Vinschgau in einer Pestizidwolke verhüllt sieht und mit „Entsetzen feststellt, dass ein Großteil der Südtiroler Bevölkerung in der Vegetationsperiode tagtäglich und unfreiwillig mit chemisch-synthetischen Pestiziden in Kontakt ist“, fragt man sich auf Seiten der Obstbauern, die in der integrierten Produktion tätig sind, ob das noch seriöse Wissenschaft und seriöser Journalismus ist. Sauer stößt den Landwirten nicht nur die Tatsache auf, dass diese Studie kurz nach dem Urteil des Staatsrates zur „Malser Pestizidverordnung“  veröffentlicht wurde. So fragen sie sich, ob das Zufall bzw. die Antwort auf das Urteil ist. Wie berichtet, wurde damit der Rekurs der Gemeinde Mals abgewiesen und damit das Urteil des Verwaltungsgerichtes Bozen aus dem Jahre 2018 bestätigt. Die Gemeinde Mals hatte eine Verordnung zur Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln erlassen, die jedoch vom Staatsrat für nicht rechtskonform erklärt wurde, da eine derartige Verordnung die Kompetenzen einer Gemeindeverwaltung überschreiten würde. 

     

    „Aber weder der Malser Weg, noch PAN, noch das Umweltinstitut oder andere NGOs sind in die Finanzierung involviert.“

     

    Hinter vorgehaltener Hand vermuten die Bauern zudem Umweltschutzverbände als Auftrag- und Geldgeber hinter der Studie, was einer der Autoren, Carsten. A. Brühl, allerdings bestreitet. So sagt der Wissenschaftler des Fachbereiches Ökotoxikologie & Umwelt der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU): „Die Studie wurde von niemandem finanziert – wir haben das aus Hausmitteln der beiden Arbeitsgruppen bestritten. Es gibt da gar keinen Zuschuss von irgendwelchen Seiten. Koen Hertoge war der Mann vor Ort, wir mussten ja die Logistik planen. Aber weder der Malser Weg, noch PAN, noch das Umweltinstitut oder andere NGOs sind in die Finanzierung involviert.“ Auch den Unterstellungen aus Bauernkreisen, dass diese Studie gezielt nach Bekanntwerden des Staatsratsurteils veröffentlicht wurde, widerspricht Brühl vehement. Das Paper wurde bereits einige Zeit vorher eingereicht, den Zeitpunkt zu timen, sei also nicht möglich gewesen. 

  • Eine aktuelle Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) zeigt, dass Pestizide im Vinschgau nicht auf der Anbaufläche bleiben, sondern im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden sind. Die festgestellten Rückstände unterschiedlicher Pestizide können sich schädlich auf die Umwelt auswirken. 

    Während sich die Fachwelt bisher darüber einig war, dass Pestizide im Wesentlichen in der Apfelanlage verbleiben, zeige die moderne Analytik auch Rückstände außerhalb von Apfelanlagen auf. Durch die Abdrift werden auch Insekten in Naturschutzgebieten belastet, wie Studien zeigen. „In 16 europäischen Ländern hat sich der Bestand von Schmetterlingen des Grünlands zwischen 1990 und 2015 um etwa ein Drittel verringert“, schreibt Katrin Wenz von der Grünen nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland. 

    Auch im Vinschgau wurde bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet. „Fachleute vermuteten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden im Tal, aber es gibt kaum Studien dazu“, erklären die Autoren Carsten A. Brühl, Nina Engelhard, Nikita Bakanov, Jakob Wolfram, Koen Hertoge und Johann G. Zaller. 

    Das wollten sie ändern und haben insgesamt elf sogenannte Höhentransekte entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 Metern Seehöhe bis auf die Berggipfel mit 2.300 Metern erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte entnahm das Team auf Höhenstufen alle 300 Meter Untersuchungsmaterial. An insgesamt 53 Standorten wurden so Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen. 

    Die Analyse der Proben zeigt, dass die Pestizide durch die teilweise starken Talwinde und die Thermik im Vinschgau in den Höhen und mit Abstand zu den Apfelplantagen abnehmen, aber trotzdem noch nachweisbar sind. „Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, sagt Brühl. 

    Bereits in den gemessenen niedrigen Konzentrationen können Pestizide zu sogenannten sublethalen, also nicht direkt tödlichen Effekten bei Organismen führen. Für Schmetterlinge könnte das beispielsweise eine Verringerung der Eiablage bedeuten. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscherinnen in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden – an jener Stelle waren auch sehr viele Schmetterlinge zu beobachten. 

    Der Rückgang von Schmetterlingen dient als Indikator für Veränderungen in einem Ökosystem. Mittlerweile belegen zahlreiche Studien den weltweiten Artenschwund bei Schmetterlingen. Als Ursache dafür macht die Wissenschaft im Wesentlichen den Klimawandel und die Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft verantwortlich.

    Foto: Ramin Karbassi/Unsplash
  • „Deutlich interessengeleitet “

    Ein anderes Bild über diese Studie zeichnet Andreas von Tiedemann, seit 2020 Studiendekan der Fakultät für Agrarwissenschaften an der Universität Göttingen. Von Tiedemann veröffentlicht seine Expertisen unter anderem in verschiedenen Agrar-Fachzeitschriften und war bereits in Südtirol als Referent zu diesem Thema zu Gast. SALTO hat ihn um eine Einordnung dieser Studie gebeten, vor allem unter dem Aspekt „Sind die Nachweise von Pflanzenschutzmittel gefährlich? Wenn ja, wie gefährlich?“ In seiner Stellungnahme zu dieser, wie er schreibt „unseligen“ Studie, erklärt der Göttinger Universitäts-Professor, dass die nur zu einem Zeitpunkt im Mai ermittelten Messwerte durchaus plausibel in Bezug auf die Höhenverteilung und örtliche Differenzierung in Relation zur Lage der Obstbauflächen erscheinen; auffallend seien dabei die überwiegend äußerst geringen Messwerte. 

  • Andreas von Tiedemann:: „Insgesamt reiht sich diese Studie in eine lange Reihe ähnlicher Publikationen der Autoren ein, die Pflanzenschutzmitteln ein in Wirklichkeit nicht bestehendes Gefahrenpotential zuschreiben wollen.“ Foto: Universität Göttingen

    Von Tiedemann kritisiert weiters, dass es sich beim Paper um eine ausschließlich deskriptive Studie, allein bestehend aus reiner Messwertdarstellung ohne realitätsbezogene Risikobewertung, handelt. „Das Vorhandensein von Spuren von Substanzen wird unzulässigerweise mit Risiko gleichgesetzt, wie dies in vielen solchen Studien erfolgt“, so der Agrar-Wissenschaftler, der erklärt, dass die Studie keinerlei Schadeffekte belegen würde, aus denen ein reales Risiko abgeleitet werden könnte. „Ein solches reales Risiko, genannt wird die Gefährdung der Biodiversität, ist auch nicht zu erwarten, da selbst auf Behandlungsflächen Artenverluste nicht nachweisbar sind“, betont von Tiedemann und wird mit seiner nächsten Aussage noch deutlicher: „Die Unterlassung einer realitätsnahen Risikobewertung ist vermutlich deshalb erfolgt, weil auch den Autoren klar sein dürfte, dass die nachgewiesenen Spuren von Substanzen hinsichtlich eines realen Schadpotentials und damit Risikos irrelevant sind. Obwohl keinerlei solche negativen Effekte untersucht oder belegt worden sind, wird die unzulässige Schlussfolgerung gezogen, dass die Biodiversität gefährdet sei und die Forderung nach einer Reduzierung des Pflanzenschutzmittel-Einsatzes aufgestellt.“ Eine solche Schlussfolgerung könne von diesen Daten nicht abgeleitet werden und sei eine rein politische Forderung, „die in einem wissenschaftlichen Paper deplatziert ist“. Laut von Tiedemann würden diese unbegründeten Schlussfolgerungen die Studie als deutlich interessengeleitet ausweisen. Bereits die Anlage der Studie würde diesen Verdacht bestärken, denn eine Probenahme im Mai zur Spritzsaison ließe die erwünschten Ergebnisse, auch wenn sie eigentlich irrelevant sind, sicher erwarten. Eine Probenahme außerhalb der Saison würde vermutlich ein anderes Bild ergeben und zeigen, dass selbst diese Spuren von Substanzen nur eine Momentaufnahme und kein Dauerzustand sind. 

     

    „Es ist gegenüber Laien unverantwortlich, allein die Existenz solcher Spuren festzustellen, ohne sie hinsichtlich ihres realen Gefährdungspotentials klar zu bewerten.“

     

    „Insgesamt reiht sich diese Studie in eine lange Reihe ähnlicher Publikationen der Autoren ein, die Pflanzenschutzmitteln ein in Wirklichkeit nicht bestehendes Gefahrenpotential zuschreiben wollen. Dieser Vorsatz behindert eine objektive wissenschaftliche Arbeit. Es spricht für sich, dass einer der Autoren Mitarbeiter bei PAN, einer extremen Anti-Pestizidgruppierung, ist“, so der Göttinger Universitätsprofessor, der erklärt, dass mit der heutigen extrem empfindlichen Analytik sich fast überall Hunderte von Stoffen nachweisen lassen würden, die anthropogenen Ursprungs sind. „Es ist gegenüber Laien unverantwortlich, allein die Existenz solcher Spuren festzustellen, ohne sie hinsichtlich ihres realen Gefährdungspotentials klar zu bewerten. Damit erzeugt man nur unbegründete Ängste, wie auch in diesem Fall. Angst aber sollte man vor einer Welt haben, in der Pflanzenschutzmittel zur Sicherung unserer Nahrungsmittelproduktion nicht mehr zur Verfügung stehen, denn das ist eine reale Gefährdung aller.“  

  • Ankündigung: Wie die Präsidentin der Freien Universität Bozen und preisgekrönte Biologin, Ulrike Tappeiner, die Pestizid-Studie einordnet, berichten wir diese Woche auf SALTO.