Bühne | Poetry Slam LM 2024

Verrückte Gefühle

Die ersten drei Finalistinnen für die Landesmeisterschaften hat man in Brixen hinter Gittern gefunden. Qualifikation 1 von 3 verlief recht unpolitisch und gefühlsecht. Weiter geht es in Meran und Bozen.
Landesmeister:innenschaft Poetry Slam, Tschumpus, Vorrunde
Foto: SALTO
  • Die Mischung bei einem Slam-Abend, auch einer Landesmeister:innenschaft 2024, ist entscheidend, für Zuseher und Teilnehmer. Was manche im Publikum enttäuschte war, dass beim Slam gestern weniger die Politik und mehr das Gefühl den Ton angab. Den fünf Wertungstafeln der Publikumsjury und den fünf Minuten Zeitlimit traten gestern Abend im Brixner Tschumpus sechs Slammerinnen und zwei Slammer, sowie ein Featuring Poet (nur einmalig, zur Juryeichung mit 27,2 Punkten gewertet) entgegen. Es ging um drei Finaltickets bei der heuer etwas später als sonst, am 5. Oktober, wieder im Studiotheater des Bozner Stadttheaters stattfindenden Landesmeister:innenschaft im Poetry Slam.  Da der gestrige Abend ohnehin in die Länge ging - in Runde 2 durften sechs Poetinnen einziehen - wollen wir uns den drei poetischen und emotionalen Texten von Daniele „Gnigne“ Vaienti der mit dem Regionalzug „dal mare“ angereist war, nicht weiter widmen. Nur so viel: Es hätte, wenn er nicht außer Konkurrenz angetreten wäre, verdient für einen Platz auf dem Siegertreppchen (von Georg Kaser überlassen) gereicht.

    Mit insgesamt 17 Performances, feiner Bass-Zupf-Musik mit gelegentlichen Wäscheklammern von Marco Stagni, die verständlicherweise auch Bühnenzeit will und bekommt, sowie der An- und Zwischenmoderation von MC Lene Morgenstern, fand der Abend mit Start um 21 Uhr sein Ende und die drei Siegerinnen ihre Kür gegen halb zwölf. Dem Publikum wurde damit viel Sitzfleisch abverlangt und oh Wunder, es blitze zweimal der marmorne Po von Michelangelos David auf. Die Po-sitive Nachricht am Ende der Tangente lautet: Startzeit für Vorrunde zwei (im bis dahin wieder geöffneten Ost West Club in Meran, 31. August ) und drei (im Bozner Waaghauskeller, mit vollem Line-Up, am 14. September) ist eine Stunde früher, um 20 Uhr.

    Auf zu den gefühlvollen und gefühlsechten Texten.

  • Zu den Regeln des Slams

    Poetry Slam - oft als „Wettlesen um die Gunst des Publikums“ beschrieben - ist ein Bühnenformat, bei welchem die Teilnehmer:innen mit selbstgeschriebenen Texten auf die Bühne gehen und diese binnen eines Zeitlimits vortragen. Gesungen darf nur auszugsweise werden, Kostüme sind keine erlaubt.

    Bei der Landesmeister:innenschaft ist das Limit des Vortrags fünf Minuten in denen es durch Text und Vortrag eine zufällig aus dem Publikum ausgewählte, fünfköpfige Punktjury zu überzeugen gilt, welche, inklusive einer Kommastelle, von 1 bis 10 Punktwertungen vergeben. Analog zum Eiskunstlauf werden Höchst- und Tiefstnote traditionell gestrichen. Es gewinnt wer am Abend, die meisten Punkte in Runde 1 und 2 summiert erhalten hat.

  • Mit Humor...

    Lena Simonetti: Beginnt, auf der Bühne ein Bild zu malen: Zuerst braucht es einen Rahmen. Foto: SALTO

    Als erster Starter in der Wertung kam gestern Alan auf die Bühne. Mit im Gepäck, oder besser, dem Spontan-Auftritt geschuldet, hatte er seinen Text am Smartphone dabei. Er griff zu einem Text, der die scheinbare Widersprüchlichkeit der Gefühle Heimatverbundenheit und Fernweh thematisiert. Etwas viel Pathos in den Worten, sowie eine ungünstige Startposition zwischen zwei starken Texten drückten hier die Jurywertung nach unten. Der Text passte dabei gut zur offenen Kulisse und zum sommerlichen Abend. Kurzurlaub zwischen „Rom, Berlin und Puflatsch“

    Mehr Erfolg hatte die Fairness-halber gemeinsam mit Alan gewertete Olivia Kaufmann. Der jungen Dame im roten Kleid gelang eine verträumte Performance, in der es um das poetische Bild einer Kreuzung um (un)mögliche Begegnungen, die sich in unendliche Parallelwelten verlaufen, voll ebenso schöner Bilder. Da fahren „Autos wie Geschichten“ an einer roten Fußgängerampel vorbei in einem Text der Fremdheit und die Flüchtigkeit eines Moments einfängt. 25,4 Punkte von 30 möglichen.

    Lena Simonetti hatte ihren Text wie immer im Kopf und diesmal, augenscheinlich, auch im Körper, der zum Start ihrer Performance zum angedeuteten Hechtsprung ansetzte. Auch sie spielte mit formbaren, sich in den Köpfen des Publikums entwickelnden Bildern, so dass aus einem Turmspringer ein Teebeutel und aus einer Doppelspiegelung in einer Fensterscheibe eine Gegenüberstellung der eigenen Kunstfigur und dem „eigentlichen, restlichen Ich“ wurde. Was dabei herauskommt sind rasant vorgetragene und reiflich durchdachte Performance-Elemente und Worte, die die Jury mit 27,7 Punkten würdigt.

    In der Performance von Manuel Hilber hakte es an diesem Abend etwas, so dass seine ambivalente Liebeserklärung an die Heimatstadt, die er trotz Regelballast lieben gelernt hat, nicht zur Geltung  kommen kann. Ein wenig verliert sich der schöne Text der noch schöner hätte sein können bei einem Ende mit I Pad, Yoga Videos und Sudoku im persönlichen Alltag einer vergangenen Beziehung, trotz Mut und Offenheit.

    In „Patagonia, statt im Hubert Gasser Kleid“, betrat Michaela Grüner die Bühne und erzählte dem Publikum was es mit diesem klingenden Kleid auf sich hatte. Ihr Text war eine durchwegs humorige, aber irgendwo auch tiefemotionale Geschichte vom Weg des eigenen Hochzeitskleides nach der eigenen Scheidung zu einem dritten Leben. Das Second-Hand gekaufte Kleid aus Seide hat Gefühle im Stoff verwebt, so dass sich Grüner im Juli - mit genauem Datum und Uhrzeit, weil’s weh tun darf - von ihrem Kleid trennte.

    Ihr Publikum mitnehmen in ein „Tinderwunderland“ wollte selbstzeichnende Langzeitsingle-Frau S. In einem Dialektgedicht brachte sie in der nach Lachumfang lustigsten Performance, ihre Klage zu den Männern vor, welche die Dating-Webseite nutzen. Die Plattform bringt sie gnadenlos knapp auf den Punkt: „Mit an Swipe sortiert man Leit“ und findet clevere, klingende Endreime zwischen Dialekt und Online-Anglizismen. Dem Selbstbewusstsein tut die Lage auf dem Markt, „wo eh nix isch“, und auch am Ende unbefriedigende Treffen mit dem anderen Geschlecht keinen Abbruch, man schaut weiter und will nur testen.

    Auf zwei sehr runde Performances folgt die dritte, mit mehr Punktegunst von der Jury. Annalena Kluges Worte fanden auch beim Publikum offene Ohren und kreisten diesmal ums Thema der Erschöpfung, des sich an sich selber aufreiben und fanden in der ruhigen Vortragsweise der Poetin ihre Entsprechung. Der Text kulminiert mit einem starken, aus wenigen Worten bestehenden Schluss, der den vorangegangenen Schiffskatalog an Problemen ein Ende und eine Umkehr ins Gegenteilige finden ließ. 26 Punkte gab es für Kluge.

    Barbara Gamper beschloss die Vorrunde mit einem, Smartphones gegenüber kritisch gestimmten Text, der sich mit digitalen „Streicheinheiten“ nicht zufrieden gibt und sich fragt, wie viele eben dieser wir an einem Tag sammeln. Statt nur bei einer gewissen Handy-Skepsis zu bleiben, stellte sie das digital getippte Wort dem gesprochenen gegenüber und wünschte sich am Ende ihrer Performance, dass weniger Finger über Touchscreen tanzen und dafür mehr Füße über den Boden. Ein gelungener Auftritt der jungen Slammerin.

  • ...und viel Gefühl

    Barbara Gamper: Konnte mit ihren beiden Auftritten gut punkten, besonders junge Smartphonekritiker:innen werden immer gern gehört. Umso mehr, wenn sie schön recht haben können. Foto: SALTO

    Mittlerweile ganz finster und mit mehr Bühnenlicht ging es nach kurzer Pause mit Runde zwei weiter, die Lena Simonetti im Wettkampf eröffnete. Gewohnt stark in der Performance, spricht sie von Intimität und vom Miteinander-Schlafen, im wörtlichen Sinn und vom Auseinandergehen. Ein, trotz Fehler beim Gegenüber, nostalgischer Text zu einer vergangenen, vielleicht wahren, vielleicht erdachten Liebe, von der ein mit Punkten besetztes Chiffontuch bleibt. Punkte sah auch die Jury und gab dem starken Bühnengedicht seine Stimme und 28,7 Punkte.

    Barbara Gamper hatte als Nächste fünf Minuten, um das Publikum und die Jury zu überzeugen und versuchte es mit einem etwas unstrukturierten Text über die Unordnung im eigenen Kopf. So richtig gelingt es ihr dort nicht, aufzuräumen, dafür findet sie zu Selbstvertrauen und zu „niemand“ geringerem als sich.

    Michaela Grüners Kopf hingegen ist vom vielen Aufräumen und der Hausarbeit überlastet, als sie an einer Kreuzung einem Mann in die Autotür fährt und - mit Schwierigkeiten - Prince Charming aussteigt. In ihrer Fantasie küsst sie das Unfallopfer und beschließt den Rückwärtsgang einzulegen - vermutlich mit Sonnenuntergang im Rückspiegel.

    Als vierte trat in Runde 2 Annalena Kluge auf die Bühne, mit einem Text, der an einem Abend mit Freunden geschrieben wurde und seine Bilder nicht einfach so preisgibt. Um Motive einer Uhr geht es, ums Löcher in die Luft starren und sich entfremden. Der Text, der sich mir in seinen - bereits späten - Gedankensprüngen nicht mehr erschließt, gewann zwar kein goldenes Vlies, dafür aber 25,1 Punkte. 

    Im vorletzt gewerteten Text blieb Frau S in der Welt des Digitalen, tauschte Datingprofil gegen Influencerstatus und den weltoffenen Mundart-Mix gegen die überspitzte Wiedergabe einer vom Online ins Reale schwappenden Mind-Set, bei dem alles eine Surprise oder Challenge ist. Eine recht ähnliche Kerbe wie in Runde eins traf Frau S in Runde 2, durch den direkten Vergleich, etwas weniger gut als in Runde 1.

    „Nasse Nächte“ beschert Olivia Kaufmann im starken Schlusssprint einem Aufreißer, der in ihr eine nicht urteilende Ansprechpartnerin findet, aber eine emotionale, statt körperliche Verbindung sucht. Die junge Slammerin, die von Nähe statt Berührung und einer tränenreichen Nacht erzählt, trifft bei vielen im Publikum hörbar (man schnippst um nicht durch Applaus zu stören) einen Nerv. Mit dem literarischen Vorschlaghammer legt Kaufmann offen, was die Konstruiertheit einer Macho-Männlichkeit im Inneren der Betroffenen für Folgen haben kann.  Zu 26,1 Punkten sollte sich der letzte gewertete Slam-Auftritt summieren lassen. 

    Am Ende sollten drei junge Teilnehmerinnen am Abend das richtige Gespür und Quäntchen Glück mitbringen: Simonetti ging vor Kaufmann und Kluge mit Abstand auf Platz eins eines langen, nie aber langweiligen Abends.

  • Siegertreppchen: Drei müde, aber glückliche Slammerinnen sind um halb zwölf auf ihren Finalplätzen angekommen. Im Oktober bekommen sie es mit sechs noch unbekannten Starter:innen und der Titelverteidigerin, Hannah Tonner zu tun. Foto: SALTO