TENET
„Der Mensch soll für sich selbst nur das sein, was er ist“, schreibt Jean-Paul Sartre in „Das Sein und das Nichts“. Dieser Satz fasst den Film „Tenet“ von Christopher Nolan recht gut zusammen.
In seinem bislang elften Spielfilm beschäftigt sich der britisch-amerikanische Autorenfilmer erneut mit seinem Lieblingsthema: Der Zeit. Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch Nolans gesamte Filmographie. In verschiedenen Weisen spielt er mit den Eigenschaften von Zeit, mit Ebenen und Verschiebungen, und schafft es jedesmal, eine neue Facette hervorzuheben. Nicht immer ist das in seiner Gesamtheit gelungen, man denke nur an „Interstellar“ oder „Dunkirk“, den chronologisch gesehen letzten beiden Arbeiten vor „Tenet“. Denn ein grundsätzliches Problem Nolans sind seine Figuren und deren Charakterisierung, eben die emotionale Komponente, die neben all den ausgeklügelten Konzepten seiner Geschichten oft zu kurz kommen oder mit eben denen kollidieren.
Was probiert Nolan also nun mit „Tenet“? Vorausgeschickt, an dieser Stelle wird so weit es geht auf Spoiler verzichtet, und nur die Grundpfeiler der Geschichte und des theoretischen Konzepts dargelegt.
In „Tenet“ steht der Protagonist im Zentrum. Er ist namenlos und wird gespielt von John David Washington. Gleich zu Anfang gibt es einen Anschlag auf die Oper in Kiew, viel Action und den Protagonisten, der von russischen Gangstern gekidnappt wird. Es stellt sich raus, alles war nur ein Test, einer, der überprüfen sollte, ob Washingtons Figur für die weitaus größere Mission bereit ist, die nun bevorsteht. Es geht um nichts geringeres als die Rettung der Welt und die Abwendung des drohenden dritten Weltkriegs. Gut, die Rahmenhandlung gewinnt im ersten Moment keinen Originalitätspreis, vielmehr erinnert sie, auch dank des bald eingeführten russischen Antagonisten (Kenneth Branagh), an klassische James-Bond-Geschichten. Das ist kein Zufall, immerhin hat Nolan mehrmals mit dem Gedanken gespielt, einen Bond zu inszenieren. Dazu wird es wohl nicht mehr kommen, „Tenet“ ist der (originellere) Ersatz.
Denn Nolan wäre nicht Nolan, hätte er sich nicht auch diesesmal wieder einen besonderen Twist für seine Geschichte überlegt. In der Welt von „Tenet“ gibt es sogenannte invertierte Objekte mit umgekehrter Entropie. Diese Theorie geht davon aus, dass sich Gegenstände, die sich linear in der Zeit nach vorne bewegen, auch ebenso den umgekehrten Weg nehmen können, sprich in der Zeit zurückreisen können. Das führt dazu, dass eine Kugel einerseits aus der Pistole geschossen wird, aber im nächsten Moment vom Boden in die Pistole zurückfliegt. Man muss dies gesehen haben, um völlig zu verstehen, was für ein Potential hinter dieser Idee steckt. Denn nicht nur Objekte können diese „Zeitreise“ unternehmen, auch Menschen. Wer Ereignisse in der Vergangenheit verändern möchte, braucht dazu die entsprechende Technik, in „Tenet“ in Form eines Drehkreuzes, und muss dann in der Zeit zurücklaufen. Man bewegt sich dementsprechend auch rückwärts, was für linear nach vorne lebende Menschen durchaus absurd wirken kann.
Das grundlegende Konzept des Films ist grandios. Die Idee, die räumliche Trennung von Zeitreisen aufzuheben ist detailliert ausgedacht und verständlich umgesetzt. Da hilft es, dass die Geschichte nicht überladen, sondern einfach bleibt. Jeder Twist, jede neue Erkenntnis wird auch immer mit einer entsprechenden, folgenden Szene erklärt und anschaulich gemacht. Nolan treibt es dann am Ende auf die Spitze, und findet zu einer befriedigenden Auflösung, die alle Tricks von Zeitreisen gekonnt ausspielt. Der Film erfordert das räumliche und abstrakte Denken des Zuschauers. Wer sich nur zurücklehnt und sich berieseln lässt, verliert möglicherweise schnell den Faden.
Zur Inszenierung muss man nicht viel sagen, da sie auf gewohnt hohem Niveau ist, mit dem üblichen Nolan´schen Größenwahn. Hier fahren riesige Flugzeuge mit viel Getöse, Feuer und Rauch in ein Flughafengebäude, Autos überschlagen sich rückwärts, während andere in der entgegengesetzten Zeitrichtung geradeaus fahren, Gebäude explodieren gleichzeitig vorwärts und rückwärts...
Die Schauspielerriege ist ebenfalls hervorragend, vor allem Robert Pattinson an der Seite von John David Washington brilliert durch seine lakonische Art ebenso wie Elizabeth Debicki als rebellische Oligarchen-Frau.
Noch einige Worte zu einem aktuell häufig genannten Kritikpunkt: Das große Thema der Emotionalität. Davon gibt es in „Tenet“ auf Charakterebene nämlich erstaunlich wenig. Erstaunlich? Wie schon erwähnt waren Emotionen noch nie Nolans Stärke, weder Figuren noch deren Entwicklung. Zu oft war der Umgang mit ihnen verkrampft. Umso erleichterter kann man nun sein, dass Nolan bei „Tenet“ gar nicht erst versucht, eine emotionale Motivation herzustellen. Der Protagonist, nicht umsonst im Film selbst so bezeichnet, ist das, was er ist und ist nicht das, was er nicht ist. Wir erfahren nichts über ihn, und das erklärt sich im Laufe des Films auch. Kurz befürchtet man vielleicht eine aufgezwungene Liebesgeschichte, zum Glück bleibt die aber aus. Nolan konzentriert sich stattdessen auf das Wesentliche. Eine Mischung aus James-Bond, Zeitreise-und Heist-Film. In „Tenet“ dienen die Figuren der Geschichte, und nicht umgekehrt. Der Film ist ein faszinierendes, kurzweiliges Gedankenspiel, mit einem simplen visuellen Trick, der aber auf inhaltlicher Ebene im Subtext sehr viel bereithält, und durchaus Denkanstöße für unsere eigene Zukunft gibt. Welche Verantwortung haben wir in der Gegenwart, wenn wir gleichzeitig annehmen, die Zukunft wäre bereits geschehen? Hier finden sich Bezüge zu aktuellen Themen wie dem Klimawandel. Abgesehen von der fehlenden Notwendigkeit einer emotionalen Herangehensweise muss man sich, respektive dem Publikum wirklich die Frage stellen, auf welchem Niveau sich die Kritik in Punkto Emotionalität eines Films mittlerweile befindet. Wird gute Kunst (sofern es so etwas überhaupt gibt) durch emotionale Kraft definiert? Durch Schönheit oder durch Identifikationspotential? Nein, denn Kunst lebt durch sich selbst und nicht durch die (stets subjektive) Wirkung auf die Zuschauerschaft. Das gilt unbestritten für die bildende Kunst, und ebenso für alle anderen Künste, nicht zuletzt den Film. Sogenannte "emotionale" Filme, die alles darum geben, die Gefühle des Publikums zu wecken, sind eine neumodische Erscheinung. Noch vor einigen Jahrzehnten gab es den Anspruch, immer alles mit der eigenen subjektiven Sichtweise auf das Leben zu verbinden, schlichtweg nicht. Da durften Figuren auch mal lediglich Schablonen sein, Platzhalter für Themen und Motive. Der Individualismus der heutigen Zeit schlägt sich in den letzten Jahren zunehmend auch im Kino nieder, und sorgt nun für die entsprechende Kritik im Fall "Tenet".
Wir kommen zum Ende. „Tenet“ ist nach „Inception“ nun endlich wieder ein richtig guter Nolan, der das Mitdenken des Publikums erfordert und sich nicht nur auf das reine Spektakel und die Schauwerte verlässt. Dass Nolan letzteres kann, weiß inzwischen jeder. „Tenet“ ist klug und reizt seine Möglichkeiten vollkommen aus. Gleichzeitig ist der Film auch enorm wichtig für das Kino als solches. Es ist der erste große Blockbuster, der nach dem Lockdown erscheint und somit ein großes Fragezeichen. Werden die Menschen wieder in Scharen ins Kino laufen? Und wenn ja, werden andere große Mainstream-Studios entsprechend reagieren und ihre zurückgehaltenen Filme veröffentlichen?
Wer mit dem Gedanken spielt, mal wieder ins Kino zu gehen, der sollte „Tenet“ als Anlass nehmen. Selten gibt es Filme, die so sehr für die große Leinwand gemacht wurden. Jeder kleinere „Screen“ wäre eine Beleidigung für den Anspruch des Films, den enormen (handgemachten) Aufwand und die Liebe für das Handwerk und die Kunst. Erste Zahlen zeigen: „Tenet“ hat Erfolg. Nolan wirft uns Paradoxa entgegen, ist selbst jedoch das größte: Ein Regisseur, der einem Mainstreampublikum schamlos Arthouse-Filme verkauft, und das bereits seit Jahren mit großem Erfolg.
Für mich hat Hollywoods letzter Autorenfilmer seinen Ruf gerettet.