366 Frauentage…
Seit über 25 Jahren hat Franz Pichler immer pünktlich am 8. März, also zum offiziellen Tag der Frau, eine Zeichnung oder Collage verfertigt und darunter oder darauf einige passende poetische Worte geschrieben. Die erste hat er seiner geliebten Frau Solveig geschenkt. Eine typische Ansichtskarte von Meran, mit Altstadt und gotischem Kirchturm, thronend in der Mitte. Was ist denn ein Kirchturm anderes als ein Machtsymbol?, fragte sich der Bildhauer, der die ästhetischen Gesetze der visuellen Kunst sehr genau kennengelernt hat, damals, während seiner Studienzeit an der Akademie in München in den 60er Jahren, und reflektierte mit seinen Freunden darüber. Ja, und wie drücken Männer ihre Macht aus? Über ihren Phallus! Warum denn sonst so hohe Türme bauen, doch nicht nur der Glocken wegen? Die kann man doch auch anderswo hinhängen, um sie laut klingen zu lassen. Das hatte schon der Architekt und Designer Jean Prouvé 1975 bewiesen, als er neben den Kirchenbau ohne Glocken denn ohne Kirchturm von Le Corbusier in Rondchamp bei Belfort in Frankreich 1955 gebaut, drei nicht gerade kleinformatige Glocken an eine Art Turnstangengestell befestigte und diese sehr wohl ihren beachtlichen Klang kilometerweit akustisch verbreiten. Aber nein, der westliche Kirchenmann braucht einen hoch hinausragenden Kirchturm und so überragt auch jener der Meraner Pfarrkirche weitaus alle restlichen Bauten. Was macht Franz Pichler nun mit dieser Ansicht? Er überdeckt die Häusersilhouetten rundum mit weißem Seidenpapier, auf dass nur mehr der Turm in seiner farbigen Pracht herausleuchtet und - fertig war eine Hommage an die Frau, die dieses Machtgetue – wie wir aus endlosen Zeitungsberichten aus der Chronik wissen – immer härter zu spüren bekommt... Provokation? Für die einen vielleicht, simple Bestätigung und Belustigung für andere. Das war 1993, wo auf der Hinterseite folgende Worte in handschriftlicher Schrift zu lesen sind: „ein Phallussymbol steht in unserem kleinen Landtirol/ habtacht/ bewacht/ von einer Schuetzenkompanie/Gigriki gigriki!“
Seine Töchter, schon im jugendlichen Alter, wollten dann auch solche Zeichnungen geschenkt bekommen und somit hat Franz in den darauffolgenden Jahren mehrere Versionen seiner prompt zum jeweiligen Zeitgeschehen aufkommenden Ideen gemacht. Wie zum Beispiel, als die Frauenquote bei den politischen Parteien eingeführt wurde, hat er seine Gedanken hierzu in Form einer kulturpolitischen Ballade, die an Brechtsche Töne erinnert, geschrieben: „den einen tag hast du mir gegeben, dafuer das jahr genommen, o mann o mann, mit quoten hast du mich bemessen, dafuer meine gleichheit genommen, o mann o mann, was fuer ein unsinn, aber ich lieb dich doch immer“. Und als auf Landesebene „starke Frauen für unser Land“ gesucht wurden, nahm er ein Blatt aus einem Micky Maus Heft mit einer der vielen Abenteuer der von Walt Disney erfundenen Gestalt die in der Großen Depression in den Usa den kleinen klugen Mann darstellte der sich immer aus allen Situationen herausretten kann, zeichnete ein Frauengesicht darauf und klebte folgende dicke schwarze Lettern drauf: „gscheite Frauen braucht das Land“.
Alsbald kamen mehrere Frauen aus dem näheren Freundeskreis dazu, die auch mit solchen Zeichnungen und Worten beehrt werden wollten, und Franz hat begonnen von einem der Originale Kopien zu ziehen und somit auch noch dem „zeitgenössischen Kunstwerk im Zeitalter der technologischen Reproduzierbarkeit“ zu Ehren bearbeitet – um es mit Worten von Walter Benjamin zu sagen -, er, der die digitale Welt samt dem was sich da drin abspielt seit aller Anfang verweigert hatte, denn so präzisiert Franz Pichler nochmal, er sei eben ein Bildhauer. Im wahrsten Sinne des Wortes…
Im Lauf der Jahre, erinnert er sich weiter, habe er jedes Jahr also zirka 15 ihm nahestehende Frauen auf diese Art beschenkt. Auch letztes Jahr hat er diese Tradition noch eingehalten, trotzdem im Monat vorher, Februar 2019, urplötzlich seine große Liebe und Mutter der gemeinsamen vier Kinder verstorben war. Einige Collagen hat er für sie gemacht, Ausschnitte aus Abbildungen von Frauen aus der alten und neuen Antike mit ihrem irdischen Erscheinungsbild versehen, um dann wie eine weibliche Gestalt aus einem der Mosaike der Kirche in Ravenna emporzuschweben oder gar in Form eines typischen Aktfotos aus dem beginnenden Zeitalter der erotischen Fotografie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu posieren oder als Gran Dame an einem Tisch in einem Rotlichtlokal zu sitzen, um ihr dadurch noch einmal seine besondere Ehre zu erweisen, denn wie er hinten drauf geschrieben hat: „ohne frau ist es bleischwer/mann zu sein/ am Hohenfrauentag“. Und hat diese dann wiederum „vermehrt“ an verschiedene befreundete Frauen verschenkt.
In diesem 2020 jedoch will er das nicht mehr machen. „Seine“ Frau gibt es nicht mehr. Sie lebt jetzt anderswo und anderswie weiter, zum Beispiel in den vielen kleinen gelben Narzissen, die sie so geliebt hatte und die büschelweise im Garten vor dem Eingang seines Ateliers im Schloss Kallmünz, mitten im Herzen der Altstadt Merans, blühen und in saftigem Gelb in der Sonne oder im Abendlicht, bei bewölkt grauem Himmel oder unter strömendem Regen strahlen.
Franz Pichler, der mich mit seinen wachen Augen anblickt, während er Geschichten aus dem Gestern erzählt, wobei seine weißen Haare unter dem Hut hervorkringeln, ist ein Poet seiner Gegenwart. Er versteht es, allgemeine Angelegenheiten immer wieder auf den Punkt zu bringen. Da fällt mir spontan ein: Wie wäre es denn, einmal zum Frauentag statt dem kleinen gelben Mimosenzweig eine kleine gelbe Narzisse oder violette Veilchen oder farbenfrohe Primeln zu schenken? Oder einfach selber zu beginnen, Zeichnungen zu verfertigen oder poetische Liebesworte zu schreiben und zu verteilen? Anstatt dem Konsumismus per sè in jeder Hinsicht statt zu geben, besonders in diesem Jahr, wo doch sämtliche öffentliche Veranstaltungen der Frauen zu Ehren abgesagt bzw. annulliert wurden? Hey, wollen wir uns mal alle 366 Tage in diesem 2020er Jahr herholen und Frau „Frau“ sowie Mann „Mann“ sein lassen und wieder mal alle friedlich und fröhlich gemeinsam etwas „für“ uns machen?
Und wer Inspiration brauchen sollte, der kann Franz Pichler in seinem Atelier besuchen, da finden sich einige Beispiele in seiner Kunst, wo er immer wieder genau diese Gleichheit auf 360 Grad Reichweite darbringt und betont. Angefangen bei der Skulptur für Anita Pichler, wo drei Pfeiler in Holz geschnitzt für ihre drei (Vor)Lieben stehen: Heimat, Reisen und Liebe, aber auch die Erotik in Form eines weichen, knallroten Büstenhalters nicht fehlen darf. Das wichtigste bei seinen Skulpturen aber ist, dass sie alle einen Sockel haben, der Teil derselben ist, denn auch wir Menschen stehen (oder sollten zumindest) mit festen Beinen auf der Erde. Nur manche wollen auch bei Lebzeiten auf einem Sockel stehen, der aber dann auch schon fast eins mit diesen geworden ist… Weiters gibt es eine Für die natürliche Befruchtung, wo sehr klar eine Vagina in Holz einen starken Penis hält, und daneben eine 4x4 Meter große Zeichnung an der Wand, den Engeln zu Ehren, wobei diese sonst immer nur als geschlechtslos in lieblichen Haltungen dargestellten Figuren, hier als nackte erotisch sexuell vollgeladene Frauen in einem Kreis auf uns herabschauen. Dieses Motiv landete übrigens auch als Frauengeschenk in vielen Frauenhänden und somit in Frauenseelen. Pichler verwendete aber auch vorhandene Fotos, wie wir schon gesehen haben. Ein Dolomitenbergfoto in schwarz-weiß wird mit einer huschenden rosa-umhüllten Frauengestalt versehen und schon gibt es ein romantisch angehauchtes Gesamtbild: „wie der morgennebel schmeichelnd sich an den berg schmiegd/ was bleibt ist die erinnerung + sehnsucht“. Das selbst einen weltbekannten Künstler wie Rudi Stingl quasi zur Verzweiflung brachte, der ihn damals, 2011, im Atelier besucht hatte und meinte, er verbringe Stunden und Stunden, Versuche und Versuche, um ein ansehnliches Bergmotiv zustande zu bekommen und er, Franz, knalle eine Frauenfigur und etwas Farbe auf ein Bild und schon passt es!
Es finden sich auch weitere Zeichnungen, u.a. eine aus dem Jahr 2006 mit einer Serie von liegenden weiblichen Silhouetten in roter Farbe, wo darunter in Großbuchstaben sehr „dialektisch“ geschrieben steht: „sfleisch fa di weibr kimp fun wossr seldrwegn isches asou woach/ ober sfuir fa di weibr kontsche nit mit wossr löschn gell“. Zu gut deutsch: Das Fleisch der Frauen kommt aus dem Wasser, deshalb ist es so weich/ aber das Feuer der Frauen kannst du nicht mit Wasser löschen, oder“.
Aber seine neuesten Werke gehen auf sozial noch weitergreifende Themen ein, wobei es sich letztendlich immer um dasselbe Grundprinzip geht: Respekt für den oder die oder das „Andere“. Eine Tuschezeichnung ist mit dem Spruch „Kein WENN + ABER im Minderheitenschutz“ versehen, wo bei näherem Hinsehen die Silhouette eines Wolfes in einer kargen Waldlandschaft zu entdecken ist, während das andere, wiederum eine Skulptur aus Holz, um die sogenannte Balance (so hat er das Werk genannt) ringt: ein schief angelegtes Brett in heller Holzfarbe auf einem quadratischen Schemel mit vier Beinen, schwarz angemalt, worauf eine runde schwarze Form, auf der eine schmale Gestalt, die an Giacomettis fadenförmige Silhouetten erinnert, in leuchtend roter Farbe fast tänzelnd dasteht und genau am Grenzpunkt der Balance aufgelegt ist. Wird sie es schaffen über diesen kritischen Punkt hinauszurollen? Was kann passieren, wenn nicht auf die richtige Balance oder eben das Gleichgewicht=die Sensibilität für alles rundum geachtet wird? Wird sie runterfallen und das gesamte Gebilde zerstören? Pichler deutet uns auf eine bestimmte kulturell-sozial-politisch bedingte Situation hin, die Lega des Populismus… aber nicht nur.