Culture | Salto Weekend

„Differenzen anerkennen ohne Othering“

Die Kuratorin Leonie Radine stößt zum Team des Museion. Sie wird u. a. den dritten Teil der Trilogie „Techno Humanities“ mitgestalten. Welche Ansichten hat sie zur Kunst?
Leonie Radine
Foto: Albrecht Fuchs
Salto.bz: Frau Radine, das erste, was an Ihrem Antritts-Statement erstaunt, ist dass Sie von Inter-Spezies-Beziehungen sprechen. Von welchem Ansatzpunkt aus sehen Sie das Thema?
 
Leonie Radine: Sie beziehen sich auf meinen Beitrag im Museion Bulletin, nehme ich an, in dem meinen ersten Eindruck von Bozen und Südtirol teile. So direkt inmitten der Natur habe ich noch nie gelebt, und ich bin schwer beeindruckt davon, wie fürsorglich hier mit den natürlichen Ressourcen umgegangen wird. Das ließ mich unter anderem an Donna Haraway denken, die einen wissenschaftlich-philosophischen Diskurs ins Leben überführt und zu einem feinsinnigen, bewussten Miteinander aufruft. Bei Inter-Spezies-Begegnungen denke ich auch an die Schnittstellen zwischen Menschen, Ökologie und Technologie, die hier im Museion gerade eine große Rolle spielen in Hinblick auf das langfristige Forschungsprojekt „Techno Humanities“. Verschiedene Ökosysteme sind eng miteinander verbunden, und es wird immer schwieriger, uns Menschen zum Beispiel von Maschinen zu trennen und zu definieren, was Menschsein heutzutage überhaupt bedeutet. 
 
Die Grenzen werden immer fließender. Der menschliche Körper ist ja nicht nur menschlich.
 
Inwiefern kann man für Sie den Mensch nicht von anderen Spezies trennen? Es gibt doch verschiedene Definitions-Ansätze, sind diese für Sie alle nicht zufriedenstellend?
 
Die Grenzen werden immer fließender. Der menschliche Körper ist ja nicht nur menschlich. Er wird in vielerlei Hinsicht mehr und mehr durch Technologien unterstützt oder geformt. Genauso wirken das, was wir essen, oder diverse Umwelt- und Natureinflüsse in unseren Körpern. Wasser ist zum Beispiel ein verbindendes Element verschiedener Sphären und Realitäten. Und es ist ja kein Zufall, dass das Trinkwasser hier in Südtirol besonders gut ist.     
 
Das klingt ein wenig als würde es in Richtung Mensch 2.0 gehen. Lässt sich das mit Spiritualität vereinen?
 
Ich denke schon. Es gibt auch einige Künstler:innen, die sich zum Beispiel gerade mit der Verbindung von Spiritualität und AI beschäftigen, wobei die körperlich-materiellen Dimensionen des Wissens doch auch immer die Grundlage bilden.
 
Ein für Bozen sehr wichtiger, für das Museion vielleicht etwas überraschender Punkt sind koloniale Aspekte. Muss sich dieser Diskussion auch ein modernes Kunstmuseum stellen?
Es ist sehr wichtig, dass Museen – egal welchen Alters – die kolonialen Aspekte von Museen und Sammlungen in der Geschichte kritisch reflektieren. Der dekoloniale Diskurs wird gerade in vielen Museen weltweit geführt, insofern hat er mich auch geprägt.
 
Die Frage, wer spricht, ist immer wichtig, die eigene Position sollte man dabei nicht unreflektiert lassen
 
Ein für Donna Haraway wichtiges Thema ist auch das Storytelling von Randgruppen, eine Diskussion, die aktuell in den Medien verstärkt geführt wird. Wenn wir zu Streaming Anbietern wie Amazon blicken, gibt es da schon programmatische Richtlinien, wie eine diverse Filmproduktion auszusehen hat… Wer darf von Randgruppen erzählen?
 
Es geht Haraway vor allem um ein empathisches Miteinander und Interesse an verschiedenen Blickpunkten. Die Frage, wer spricht, ist immer wichtig, die eigene Position sollte man dabei nicht unreflektiert lassen, und es bedarf einer Sensibilität, Differenzen anzuerkennen ohne Othering zu betreiben. Ich denke auch viel an Édouard Glissant, der für mich oft ein wichtiger Bezugspunkt gewesen ist und in seinen poetischen postkolonialen Theorien jedem das Recht einräumt, opak zu sein, nicht ganz zu durchdringen. Ich denke, wichtig ist vor allem ein feinsinniger und antidiskriminatorischer Ansatz.
 
Zum Thema Durchlässigkeit: Das Museion hat einen großen öffentlichen Anteil, zum einen durch seine Präsenz in der Stadt, aber auch durch freien Eintritt Donnerstag-Abends oder die Passage. Ist die Osmose zwischen musealem Raum und Öffentlichkeit ein Prozess, der zu einem Ende kommt?
 
Ganz im Gegenteil, das ist ein nie abgeschlossener Prozess, und die Öffnung von Museen auf verschiedenen Ebenen sollte immer weiter vorangehen. Die Frage nach der Durchlässigkeit von Museen und Körpern im Allgemeinen ist auch in Hinsicht auf meine Geschichte eine spannende, da ich sie in einer vergangenen Ausstellung reflektiert habe: „Transcorporealities“ im Museum Ludwig in Köln fand auch im frei zugänglichen Foyer statt und stellte eine unmittelbare Verbindung zur Umgebung her. Fragen den Möglichkeiten und Grenzen der Zugänglichkeit und der Transparenz haben mich immer interessiert, und sie werden hier im Museion sicher auch eine Rolle spielen.
 
 
Wie sehr ist das eine Frage von Aktionen und Angeboten, wie sehr der Kommunikation?
 
Alles, was im Museum passiert, ist ein Gemeinschaftswerk, das auf die Besucher:innen ausgerichtet ist. Diese holistische und horizontale Arbeitsweise ist auch einer der Beweggründe, die mich ans Museion geführt haben. Ich finde, dass das Haus in dieser Hinsicht sehr spannende neue Formate und Organisationsstrukturen eingeführt hat. Es zeigt, das Museum ist mehr als die Summe seiner Ausstellungen, es ist ein Ineinandergreifen von Kompetenzen in Bezug auf Inhalt, Struktur, Kommunikation und Vermittlung, was sich im Art Club Forum widerspiegelt. Hierfür erweitert sich das Team um bestimmte Akteure aus der lokalen Kulturlandschaft, die gemeinsam mit dem Team neue Impulse in den Bereichen „Inhalt“, „Neues Publikum“ und „Publikumsveranstaltungen“ setzen. Außerdem vernetzt sich das Museion auch international in Recherche-Teams, die ihre starken Kompetenzen in Hinblick auf bestimmte Themen einbringen.
 
Wie ist der dritte von Haraway geliehene Satz „Staying with the trouble“ zu verstehen?
 
Hier geht es vor allem darum, sich auseinander zu setzen, mit den gegenwärtigen Herausforderungen unserer Zeit und Diskursen in der Welt. Kunst entsteht nicht im luftleeren Raum, und auch die Begegnung mit ihr geschieht immer vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse.
 
Insofern fühle ich mich im Museion auch inhaltlich schon sehr zuhause.
 
Welche Herausforderungen sehen Sie derzeit als besonders dringlich?
Wir befinden uns in einer sozialen, politischen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und ökologischen Krisenlage, und es werden international und in unmittelbarer Nähe Kriege geführt. In einer solchen Situation ist es für Museen umso wichtiger, verantwortlich zu handeln und soziale Räume der Umsicht und Verständigung zu schaffen. Außerdem entwickelt sich die Welt technologisch und ökonomisch rasant weiter, was auch Museen vor immer wieder neue Aufgaben stellt. Das Museion ist in dieser Hinsicht sehr visionär.
 
Eine neue Kuratorin bringt immer auch ein Netzwerk von Künstlern mit sich, mit denen sie gearbeitet hat und im Austausch steht. Gibt es aus diesem Netzwerk Künstler, deren Positionen Sie für den Diskurs vor Ort gleich als wichtig empfinden?
 
Ganz sicher haben mich alle Künstler:innen, mit denen ich gearbeitet habe, sehr geprägt. Zudem finde ich auch viele künstlerische Positionen, die ich zuletzt mit großem Interesse verfolge habe, in den letzten und bevorstehenden Ausstellungen im Museion wieder: Mit großer Vorfreude und Spannung erwarte ich zum Beispiel die nächste Ausstellung „Kingdom of the Ill“, für die das externe Kurator:innenteam Sara Cluggish und Pavel S. Pyś zusammen mit Bart van der Heide und Frida Carazzato großartige Künstler:innen eingeladen hat. Hier geht es unter anderem auch um Themen der Fürsorge und Zugänglichkeit, über die ich zum Beispiel von Park McArthur viel gelernt habe. Auch in „Techno“ waren auch viele Künstler:innen präsent, die ich sehr schätze. Mit Nkisi zum Beispiel, die mit einer Soundinstallation in der Ausstellung vertreten war und zur Finissage ein sensationelles Live-Set gespielt hat, durfte ich auch schon zweimal zusammenarbeiten, zuletzt für ihr performatives Konzert anlässlich der Eröffnung von Maria Eichhorns Beitrag im Deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig. Insofern fühle ich mich im Museion auch inhaltlich schon sehr zuhause.
 
Bild
Profile picture for user Robert Hölzl
Robert Hölzl Sat, 07/09/2022 - 17:08

Ich habe schon mitbekommen, dass man heute auch in der Kunst nicht ohne Denglisch auskommt, aber was soll "othering" bedeuten. Autor und Kurator:in scheinen davon auszugehen, dass jeder die Bedeutung kennt. Darüberhinaus scheinen in der Zwischenzeit die Kurator:innen die wichtigsten Personen im Kunstbetrieb zu sein.

Sat, 07/09/2022 - 17:08 Permalink
Bild
Profile picture for user Sebastian Felderer
Sebastian Felderer Sat, 07/09/2022 - 19:19

In reply to by Robert Hölzl

Dieser Meinung kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Als Aussteller weitab von einem Museion vertrete ich eine viel einfacher Interpretation von Kunst, die den Leuten mehr zu geben scheint, als ein "othering", das niemand nachvollziehen kann. Wer die Begriffe "Spitzen- und Breitensport" kennt, wird sich auch mit der Kuratorin im Museion anfreunden können. Vielleicht sogar mit der Einrichtung "Museion" selbst, in welcher vor Jahren die Putzfrau ein Kunstwerk entsorgt, weil sie es für Abfall hält. Wenn man die Latte zu hoch ansetzt, dann kann es schon vorkommen, dass jemand dazu verleitet wird, darunter durchzuschlüpfen. Othering eben.

Sat, 07/09/2022 - 19:19 Permalink