Economy | Tourismus 2030
Virtual Reality und Kapazitätsgrenzen
Foto: Othmar Seehauser
„Ambition Lebensraum Südtirol 2030+“ ist der weitgefasste Name einer bisher nur vor ausgewähltem Publikum präsentierten Studie, die den Tourismus in Südtirol analysiert und daraus Szenarien für eine mögliche Zukunftsentwicklung ableitet. Das Papier fügt sich in eine Kooperation aus IDM, der Landesregierung und der EURAC ein. Die wissenschaftlichen Grundlagen für dieses gemeinsame Projekt liefert das „Center for Advanced Studies“ in der Eurac, Arbeitsplatz der beiden Professoren Harald Pechlaner und Roland Benedikter.
Seit einem Jahr arbeitet man, um aus den „Zielsetzungen und Leitlinien des Landestourismusentwicklungskonzeptes (LTEK) 2030+“ der Landesregierung tatsächlich ein Konzept entstehen zu lassen. Diese programmatische Dokument ist vom neuen Raumordnungsgesetz vorschrieben.
Die Studie
Aufgebaut ist die Studie wie die meisten ihrer Art. Zuerst wird die Ausgangslage mittels verschiedener Analysen beschrieben. Daraus entsteht eine Beschreibung des Ist-Zustands im Südtiroler Tourismus in Form von 10 Thesen. Auszugsweise lauten diese:
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Der Tourismus ist mit Ausnahme einiger touristischer Hotspots relativ gleichmäßig über das gesamte Land verteilt;
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Authentizität und Regionalität gewinnen im Tourismus verstärkt an Bedeutung Touristinnen und Touristen in Südtirol sind oft Stammgäste, verbringen ihre Zeit viel im Freien und sind mit ihrem Urlaub sehr zufrieden;
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Der Tourismus hat spürbare Auswirkungen auf die Natur, die Raumnutzung und die Mobilität im Land;
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Der Klimawandel wird einen Einfluss auf die Saisonalitat des Tourismus in Südtirol haben;
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Die Pandemie hat aufgezeigt, dass es Nachhaltigkeit im Tourismus in zweierlei Richtungen zu entwickeln gilt: Es braucht Obergrenzen, aber auch Mindestgrenzen für einen nachhaltigen Tourismus;
Daten aus unterschiedlichen Quellen, unter anderem von ASTAT und aus EURAC-Erhebungen sollen diese Thesen stützen.
Regionalität & Bettenbeschränkung
Ein anschauliches Beispiel aus der Studie zu These 3, Stichwort Authentizität und Regionalität: Die Mitglieder von HOGAST (Einkaufsgenossenschaft für Gastronomie und Hotellerie) kauften in den letzten Jahren vermehrt Biomilch. 2016 war es noch weniger als 1% der gesamten Milch. 2020 war bereits fast ein Viertel der gesamten an die Mitglieder verkauften Milch aus biologischer Produktion. Ein interessanter Trend, der aber leider wenig mit Authentizität und Regionalität zu tun hat.
Das Beispiel veranschaulicht dennoch ein Problem, über das in der Vermarktung von Südtiroler Qualitätsprodukten dringend nachgedacht werden muss, um nicht die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Wenn die Nachfrage nach biologischen Produkten oder regionalen Spezialitäten stärker wächst, als die lokale Wertschöpfung mit der Produktion nachkommt, entsteht eine Lücke, die irgendwie gefüllt werden muss, so gesehen beim Südtiroler Speck.
Frei nach der ersten Definition von Nachhaltigkeit von Hans Carl von Carlowitz: Verkaufe nur so viel einheimisches Qualitätsprodukt, wie du durch planmäßige Wertschöpfung auch wieder im Land erzeugen kannst. In diesem Zusammenhang empfehlen die Macher der Studie eine Beschränkung der Bettenanzahl. Aussagekräftig ist, dass man aber in der gesamte Studie vergebliche eine genau Zahl sucht. Die Forscher bleiben bewusst vage.
Das Sollszenario
Auf den Ist-Zustand folgt ein Sollszenario aufgestellt, das konkrete Idealvorstellungen für die verschiedenen Bereichen des Tourismus 2030+ enthält. Entwickelt wird dieses Szenario zum Teil aus Ergebnissen zweier Workshops, einer davon mit Vertreter*innen aus der Kunst-, Kultur- und Kreativszene, der anderen mit Direktor*innen und Mitarbeiter*innen aus verschiedenen Landesresorts.
Aus dem ersten Workshop geht hervor, dass ein Tourismus 2030+ die lokale Kulturszene unterstützen soll und dass Gäste gemeinsam mit Einheimischen Kultur erleben sollen. Dabei muss eine Balance zwischen Tradition, einem Pfeiler des Südtiroler Tourismus, und zeitgenössischer Kunst und Kultur gefunden werden, das heißt, Tradition muss Neuen teilweise Platz machen.
Workshop 2 mit Vertretern der Landesressorts nimmt beispielsweise Bezug auf den Wert der Qualität („Das Land bietet in vielen Bereichen eine hohe Qualität, und die darf auch etwas kosten.“), auf nicht attraktive Arbeits- und Unterkunftsbedingungen für das Personal.
Das Sollszenario ist als Rückblick auf die heutige Zeit verfasst und beschreibt, wie bestimmte Ziele erreicht wurden und was dadurch besser geworden ist.
Im Vordergrund stehen nachhaltige Mobilitätssysteme – Tourismus soll mit den Kapazitäten der Verkehrsinfrastruktur in Einklang gebracht werden, es sollen attraktive Zugverbindungen für Gäste aus dem nördlichen Deutschland und den Niederlanden entstehen. Zudem soll das Problem der „Last Mile“, also dem letzten Weg zum Hotel bei einer öffentlichen Anreise angegangen werden.
Außerdem sinniert man über Virtual-Reality-Erlebnisse für Besucher*innen mit körperlichen Einschränkungen und das Abfedern der Saisonalität.Ein Ziel soll es sein ganzjährige, gut bezahlte Arbeitsplätze mit attraktiven Wohnangeboten zu ermöglichen.
Der Kundenstamm in Südtirol wird jünger, hat einen hohen Anspruch an den Urlaub und das nötige Kleingeld. Es geht in der Studie aber auch um Ortskernentwicklung, um die Aufwertung von Lebensräumen, um Bürgerinitiativen, die bei Skigebietserweiterungen, Radwegen und Hotelprojekten mitreden dürfen, um ein lokales Kulturbewusstsein, das auch den Gästen vermittelt wird und das sich nicht nur auf den städtischen Raum beschränkt. Schließlich wird in weniger interessanten Siedlungsgebieten auch „eine Art Rückbau touristischer Dienstleistungen“ in Betracht gezogen, und die Kapazität von Aufstiegsanlagen soll nur erweitert werden, wo auch die Bettenkapazität einen Ausbau verträgt.
Ein utopisches Bild, verstärkt durch sogenannte „Treiber“, Beispiele von Betrieben und Initiativen, die jetzt schon in Richtung Sollszenario deuten.
Tourism Exposure
In den letzten Kapiteln geht es darum, wie das Sollszenario erreicht werden soll, mit Politik und Governance. Für die Landespolitik empfiehlt die EURAC, obwohl ein eigenes Ressort existiert, vernetztes Denken und Finden von Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Ressorts, wie Kultur, Mobilität und Infrastruktur, oder Raumentwicklung.
Das Kapitel zur Governance, also Interaktion zwischen Selbstorganisation und Steuerung in der Tourismuspolitik, behandelt die wichtige Frage nach einer Kapazitätsgrenze. Zuerst wird ein neuer Indikator für die Entwicklungsstruktur von Gebieten vorgeschlagen, der den alten Maßstab „Bettenzahl“ ablösen soll.
Der Messwert nennt sich „Tourism Exposure“, übersetzt „Ausmaß der touristischen Exponiertheit“ und setzt sich aus der „touristischen Intensität“ (Nächtigungen pro Jahrestage im Verhältnis zu Einwohnerzahlen eines Gebiets) und der „Tourismusdichte“ eines Gebiets zusammen (Betten pro km2).
Die Einteilung der Gemeinden in Kategorien erfolgt hierbei, und das ist wichtig, nicht nach absoluten Richtwerten, sondern wird relativ in Prozentabschnitte eingeteilt. Die untersten 25% haben demnach eine niedrige „Tourism Exposure“, die 50% dazwischen eine mittlere und die oberen 25% eine hohe. Man legt sich damit nicht auf einen absoluten Grenzwert fest, der besagt, wann zu viele Gäste im Land sind, sondern setzt auf ein System, das sich an die jeweiligen Gegebenheiten anpasst, also robust gegenüber Ausnahmesituationen, wie der Covid-19-Pandemie ist.
Fragebögen an die Bevölkerung können dieses Problem nicht lösen, im Zweifelsfall aber die Verantwortung für einen unverträglichen Tourismus leicht von den Schultern der Politik auf die breite demokratische Mehrheit in der Bevölkerung schieben.
Dieses Problem soll die sogenannte Sensitivitätsampel zur Tourismusentwicklung abfedern. Sie hält das Befinden und die Empfindlichkeit der lokalen Gemeinschaft fest, anhand derer die Politik Entscheidungen für oder gegen Wachstum im Tourismus treffen kann. Erhoben werden die Daten zur Sensitivitätsampel mittels Fragebögen, die auf verschiedene Dimensionen wie beispielsweise die Zufriedenheit mit dem Tourismus, das Landschaftsbild, leistbares Wohnen und Verkehrsbelastung eingehen.
Die Studie der EURAC ist fundiert, umfassend und bietet bereits praktische Handlungsansätze für Vertreter*innen der Politik und Tourismusbranche. Trotzdem bleibt die gesellschaftliche Frage nach klaren Kapazitätsgrenzen offen. Fragebögen an die Bevölkerung können dieses Problem nicht lösen, im Zweifelsfall aber die Verantwortung für einen unverträglichen Tourismus leicht von den Schultern der Politik auf die breite demokratische Mehrheit in der Bevölkerung schieben.
Fotos: Othmar Seehauser/Helmuth Rier
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