Politics | Frontex

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Warum die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex immer wieder in Kritik gerät und weshalb wir uns alle dafür verantwortlich fühlen dürfen.
Logo von Frontex
Foto: Frontex (Youtube)
Der deutsche Satiriker und TV-Moderator Jan Böhmermann kritisierte in seiner satirischen Sendung „ZDF Magazin Royale“ vor Kurzem die Europäische Grenzschutzagentur Frontex und veröffentlichte zugleich Informationen von geheimen Lobbytreffen. Doch schon länger häufen sich die Vorwürfe gegen die Organisation.
 

Auftrag & verblassende Werte

 
Frontex ist in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedsstaaten für die Kontrolle der Außengrenzen der Europäischen Union verantwortlich. Sie wurde 2004 in Warschau als Koordinierungsagentur gegründet, ihr steht Fabrice Leggeri als Direktor vor und sie erhielt in ihrer Bestandszeit immer neue Aufgaben und Mittel. Ihr derzeitiger Auftrag zeigt sich in der Unterstützung der Mitgliedstaaten, etwa bei der Ausbildung von nationalen Grenzschutzbeamten, der Verteilung von Überwachungs- und Sicherheitsressourcen und dem Erstellen von Risikoanalysen. Eine richtige Grenzpolizei ist Frontex jedoch nicht. Im Moment hat die Agentur keine eigenen einsatzfähigen Beamten und fast keine eigene Ausrüstung. Ganz konkret beobachtet sie die Situation an den EU-Außengrenzen und koordiniert die technische und operative Unterstützung für ersuchende Länder. Diese Hilfe schickt Frontex in Form von „Rapid Border Intervention Teams“ (Schnelle Grenzeingriffteams) unter Voraussetzung eines zuvor ausgearbeiteten Einsatzplans in das jeweilige Land. Die Befehlsgewalt übernimmt jedoch immer der betroffene Staat.
 
 
Auf der offiziellen Internetseite von Frontex sind ganz im Sinne des „europäischen Stolzes“ ihre Wertvorstellungen gelistet. Gesprochen wird von Respekt, hohen ethischen Standards, einem wertvollen Umgang mit Menschen, Rechenschaftspflicht, Vertrauenswürdigkeit, Verantwortung und dem Dienst an den Interessen der Bürger.
„Als öffentliche Vertreter Europas dient Frontex den Interessen der Bürger, da die Menschen im Mittelpunkt der Tätigkeit der Agentur stehen und sie an die europäischen Werte glaubt.“
Frontex könnte man diesen Aussagen nach als aufrichtige und integre Europäische Augentur bewerten, die ihre Dienste im Sinne der Europäer*innen leistet. Dass sie selbst diese Werte jedoch alles andere als ernst nimmt, ist mittlerweile unumstritten – außer von Frontex selbst.
 

Schwere Vorwürfe & Anschuldigungen

 
So wird etwa immer wieder von Verstrickungen der Agentur in menschenrechtsverletzende „Pushbacks“ berichtet. Bei solchen werden Migranten, die sich bereits in der EU - vor allem in Griechenland - befinden, ohne Asylverfahren und mit Gewalt in Nicht-EU-Länder abgeschoben. Dies geschieht meist in Nacht-und-Nebel-Aktionen. Dabei werden unter anderem auch Migranten unter Gewaltandrohung dazu genötigt, diese laut EU-Recht & Genfer Flüchtlingskonvention illegalen Rückführungen durchzuführen. Dadurch oder durch Vermummung der Grenzpolizei kann sichergestellt werden, dass eventuell entstandenes Filmmaterial wertlos und nicht strafrelevant ist. So kann weder erkannt werden, welche Organisation, noch wer genau hinter den Rückführungen steht. Bei solchen illegalen Rückführaktionen werden laut Aussagen Betroffener Geld, Handys, Essen und Ausweisdokumente gewaltsam abgenommen, wodurch eine erneute Flucht in die EU erschwert wird. Eine weitere Art dieser „Pushbacks“ ist das illegale Zurückweisen von Migranten durch das Erzeugen von Wellen. Dabei versuchen Schiffe der Küstenwache oder Boote von Frontex mit hoher Geschwindigkeit so nah als möglich an Schlauchbooten vorbeizumanövrieren, in denen sich in Seenot geratene Flüchtlinge befinden. Die dadurch entstehenden Wellen drängen die Schutzsuchenden in Richtung Ausgangsland zurück. Weitere unmenschliche Taten wie vorsätzlicher Schusswaffengebrauch gegenüber Migranten an Land und in Seenot und das Dulden von Gewaltexzessen durch nationale Grenzbeamte finden sich in dem inoffiziellen Anklageordner von Menschenrechtsaktivisten und -organisationen. Im Januar nahmen sogar das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly und eine vom EU-Parlament wegen dieser Vorwürfe eigens eingerichtete Prüfgruppe Ermittlungen auf.
 
 

Unermessliche Geldsummen & Befürchtungen

 
Frontex soll jedoch, aufgrund der einwandfreien Arbeit in Zukunft neue Aufgabenbereiche erhalten. Dazu wurde der Etat von 500 Millionen Euro in den Jahren 2019 und 2020 auf 5,6 - 11 Milliarden Euro im Zeitraum 2021 bis 2027 aufgestockt (2021 etwa 1,6 Milliarden Euro; zum Vergleich im Jahr 2005 6,2 Millionen Euro). Damit soll sie bis 2027 eine „Stehende Reserve“ von 10 000 eigenen Einsatzkräften erhalten und damit auch eigene Schiffe, Autos, Ausrüstung, aber vor allem Drohnen finanzieren. Auch darum machen sich Menschenrechtsanwälte wie Juan Branco Sorgen: „Frontex hat von Booten zu Flugzeugen und Drohnen gewechselt, weil sie nicht in Such- und Rettungsaktionen verwickelt werden wollen. Um es klarer auszudrücken: Sie wollen die Menschen ertrinken lassen und nicht gezwungen werden, sie zu retten.“ Durch das Nutzen von Drohnen kann nämlich der Pflicht entgangen werden, in Seenot geratene Migranten zu helfen und sie nach Europa zu bringen. So könnte Frontex vermehrt die libysche Küstenwache informieren, die außerhalb der Europäischen Menschenrechtskonvention agiert und in der Regel zurückgeführte Migranten in schreckliche Internierungslager steckt.
 

Waffenindustrie & dementierte Lobbytreffen

 
Nun würde man sich vielleicht erwarten, dass Frontex, wenn es schon so viele Geldmittel zur Verfügung gestellt bekommt und nach eigenem Ermessen über diese verfügen darf, sich mindestens darum bemüht, das Geld transparent einzusetzen. Frontex selbst ist wiederum fest davon überzeugt, dass dies auch geschieht.
Aussage von Frontex auf Anfrage des ZDF Magazine Royale: „Frontex trifft sich nicht mit Lobbyisten.“
Dennoch konnte es zwischen 2017 und 2019 unerklärlicherweise zu 16 nun öffentlich bekannten Lobbytreffen, vor allem mit der Rüstungsindustrie kommen. Durch eine Zusammenarbeit von ZDF Magazin Royale und der NGO „Frag den Staat“ sowie der Rechercheurinnen Luisa Izuzquiza, Margarida Silva und Myriam Douo, die Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz der Europäischen Union stellten, wissen wir nun von diesen Industry-Meetings. So waren etwa die Rüstungsgiganten Heckler & Koch, Glock und Airbus immer wieder Teilnehmer der Zusammenkünfte und versuchten aktiv durch Vorschläge und Einflussnahme die Politik der Grenzschutzagentur zu beeinflussen. Sie schafften es auch. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass internationale Organisationen wie Inter- und Europol und Vertreter*innen aus Staaten mit brutaler, für europäische Verhältnisse als illegal einzustufender Grenzschutzpolitik eingeladen wurden. Beispiele dafür sind die australische Regierung, das angolanische Innenministerium, die belarussische Grenzschutzbehörde und die GDRFA der Vereinigten Arabischen Emirate. Um einen Vergleich anzustellen: Keine einzige Flüchtlings-, Seenot- oder Menschenrechtsorganisation war bei diesen Treffen anwesend. Konkret wurde im Laufe dieser Zusammenkünfte vor allem über die Nutzung, Sammlung und Speicherung biometrischer Daten und dafür geeigneter Geräte gesprochen. Darüber hinaus wurden hilfeersuchende Menschen plakativ und von Vorurteilen bestimmt als einzugrenzende Probleme und zu koordinierende Objekte gehandhabt. Frontex nutzt dazu den verharmlosenden Begriff „migration flow management“.
 
 
„The Problem – Migrants“, die Unterüberschrift einer Vorstellung im Rahmen eines Lobbytreffens
Weiters ist es widersprüchlich, dass es bis heute keine rechtliche Regelung gibt, die Beamt*innen einer EU-Agentur das Tragen von Schusswaffen erlaubt, Frontex jedoch dennoch Interesse an diesen zeigt. Ob man das EU-Recht für Frontex dazu ändern wird, bleibt abzuwarten.
 

Judikative & lasche Kontrollmechanismen

 
Neben den Ermittlungen, die im Januar ihren Ausgang nahmen, könnte man erwarten, dass eine Europäische Behörde auch auf dem Weg der Judikative in ihre Schranken gewiesen wird. Dies ist jedoch nicht so einfach, wie es scheinen mag. Zwar sind alle EU-Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten und haben diese ratifiziert, die EU selbst jedoch nicht. Deshalb kann Frontex nicht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt werden. Rechtlich kann man die Agentur nur über den Europäischen Gerichtshof zur Verantwortung ziehen, mit geringen bis verschwindend geringen Erfolgsaussichten. Aufgrund dessen hat die Behörde 2016 auf Drängen des EU-Parlaments einen „Individuellen Beschwerdemechanismus“ eingerichtet. Geplant war, dass dadurch Opfer von Menschenrechtsverletzungen vonseiten von Frontex Beschwerde einreichen können. Zudem wurde mit den „Serious Incident Reports“ eine Möglichkeit der internen Kontrolle geschaffen: Grenzbeamte können solche Berichte verfassen, etwa um Menschenrechtsverletzungen darzulegen. Werden diese in irgendeiner Form vorgeworfen, sind sie in der „Kategorie 4“ aufzunehmen. Die Dokumente dieser beiden Kontrollinstanzen müssen anschließend verpflichtend an die Grundrechtsbeauftragte weitergeleitet werden. Diese muss die Vorwürfe prüfen und gegebenenfalls Ermittlungen einleiten. Inmaculada Arnaez, eine spanische Anwältin, hatte bis 2020 dieses Amt inne. Sie warnte Fabrice Leggeri nachgewiesenermaßen mehrere Male vor Rechtsbrüchen und riet ihm mindestens drei Mal einen Einsatz abzubrechen. Es sollen von der Behörde vorsätzlich gefälschte Listen und eine fehlerhafte Kategorisierung angewendet worden sein, damit Arnaez nicht die Möglichkeit bekam, in allen Fällen zu ermitteln. Arnaez wurde schließlich im vergangenen September von Annegret Kohler, einer Beraterin aus Leggeris Kabinett ersetzt. Warum es dazu kam, ist offensichtlich.
So sollte man als kritischer EU-Bürger seine Aufmerksamkeit in Richtung der Grenzschutzagentur Frontex lenken. Schließlich wird sie von den Steuern der Einzelnen bezahlt und vielleicht ist nicht jede*r Bürger*in mit den menschenunwürdigen Zuständen an Europas Außengrenzen einverstanden. Frontex, die EU und damit wir als Gesellschaft finanzieren und unterstützen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es wäre an der Zeit diese Missstände ernst zu nehmen, Konsequenzen einzufordern und uns nicht nur für unsere Werte zu rühmen, sondern sie zu leben.

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Karl Trojer Mon, 02/22/2021 - 12:26

Wenn das stimmt, was hier hinsichtlich des Umgangs mit Flüchtlingen dargestellt wird, dann gehören die entsprechenden Entscheidungsträger der EU schnellstens ersetzt und wegen grober Verletzung von Menschenrechten auf die Anklagebank !

Mon, 02/22/2021 - 12:26 Permalink