Society | Ferngelenkte Köpfe

Ist Meinungsindustrie Medienauftrag?

Der Einfluss der Medien auf Selbstbild und Weltbild wird uns bewusst, wenn wir das Gewohnheitstier in uns in Frage stellen: Wie oft schalten Sie die Nachrichten ein?
Note: This article is a community contribution and does not necessarily reflect the opinion of the salto.bz editorial team.

Im Spannungsfeld zwischen gemeinwohlorientiertem Informations- bzw. Bildungsauftrag und interessengeleiteter Meinungsindustrie modellieren Medien die Identität und die Entwicklung der Gesellschaft. Täglich aktuelle Information in den Tageszeitungen, im Fernsehen und Radio zu jeder Stunde und im Internet mit einem Klick: Was unbestritten eine unverzichtbare Errungenschaft von Freiheit und Demokratie ist, weist auch Eigentumskonstellationen, Lieferungssettings und Prozessdynamiken auf, die bewusst gemacht und hinterfragt werden müssen. Zunächst einmal können wir froh sein, in einem Land zu leben, in dem es eine große Vielfalt der Meinungen gibt und die Freiheit, diese zu äußern. Und dieses Land gehört zu einem Staatenbund, der sich die Wahrung der demokratischen Rechtsordnung auf die Fahnen geschrieben hat.

Die Freiheit der Meinungsäußerung ist für die Demokratie grundlegend

Wenn wir nach Polen, Ungarn oder über die EU hinaus nach Russland, Weißrussland oder in die Türkei schauen, bekommen wir eine Ahnung davon, wie Meinungsfreiheit mit ordnungspolitischer und mit brachialer Gewalt systematisch reduziert und die Medienöffentlichkeit dem Diktat des Machtmonopols unterworfen wird. Die Tatsachenberichte, die zu solchen Machenschaften nach außen dringen, zeigen, dass die Exekutive selbst in formal demokratischen Staaten aufgrund entsprechender legislativer Weichenstellungen zum willfährigen Instrument der Unterdrückung wird.

Im liberalen - oder sagen wir - ungeniert und begeistert unkontrollierten und unkontrollierbaren Italien gehören Kreativität in der Positionierung und das Sich-abheben-von-den-Anderen bei jedem Thema zum Einmaleins der Meinungsäußerungen. Es entspricht einfach der mediterranen Seele, das Spielbein immer frei zu halten, das Establishment zu nutzen und zu konterkarieren und sich zu Orthodoxien allenfalls zu bekennen, um sie dann zu unterlaufen. Die exponentielle Vervielfachung der Meinungen schafft oft ein veritables Durcheinander im öffentlichen Diskurs. Covid-19 docet. Ebenso die Debatte zum Recovery Fond, zum MES, zur Justiz- oder zur Verfassungsreform.

Meinungsvielfalt durch Meinungsmonopole konterkariert

Es gibt aber auch ein Gegenstück zum gepflegten Image der Offenheit und Jovialität. Bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Machtkonstellationen erweisen sich als ungemein veränderungsresistent. So ist im Medienbereich dank jahrelanger Verzögerung klarer politischer Entscheidungen und dadurch begünstigter juristischer Winkelzüge die Aushebelung rechtsstaatlicher Grundsätze gelungen. Das hat Italien eine Multiplikation der Fernsehkanäle mit einem privaten Informations- und Meinungsbildungsmonopol beschert. Dieses beherrscht nicht nur den Werbemarkt, sondern inzwischen auch den öffentlichen Diskurs. Seit der Digitalisierung teilen sich RAI und Mediaset den Werbekuchen mit Sky als drittem großem Player, bei dem allerdings die kommerziellen Interessen im Vordergrund stehen und nicht die gesellschaftspolitische Meinungsführerschaft. Informationspolitisch von Bedeutung ist, dass die Eigner und die Nutznießer des Mediaset-Konzerns auch auf die Entwicklung der staatlichen RAI Einfluss nehmen können.

Wahlen ermöglichen Zugriff auf das öffentliche Medienangebot

Kontrolle ist im staatlichen Fernsehen groß geschrieben. Qualität und Meinungsvielfalt werden vor allem durch die Personalpolitik der Regierungsparteien gewährleistet oder eingeschränkt. Traditionell besetzen die bei Wahlen siegreichen politischen Parteien die Managerposten in den staatlichen Fernsehkanälen und sichern sich dadurch Einfluss auf die Programminhalte und die Auswahl der Verantwortlichen für die Information, der ModeratorInnen und Talkshowleiter. Damit ist die Unabhängigkeit des staatlichen Fernsehens erheblich beeinträchtigt. Dank des bei Wahlen errungenen politischen Einflusses der ihm nahestehenden oder besser von seiner Gunst abhängigen Parteien ist der private Medienmonopolist imstande, seinen Einfluss auch in den staatlichen Kanälen geltend zu machen. Selbst ein altgedienter „conduttore“ wie Bruno Vespa machte geflissentlich seine Bücklinge in Richtung Arcore und zeigte mit der Unterzeichnung des „Vertrags mit den ItalienerInnen“ durch Silvio Berlusconi parteiische Unverfrorenheit, seine Sendung als politische Bühne zur Verfügung zu stellen.

„Alternative“ Wahrheiten werden markttauglich

Den ZuseherInnen von Talkshows werden häufig suggestive Versatzstücke eines vorgefertigten Meinungspuzzles verabreicht anstatt ihnen eine Hilfestellung für die Herausbildung eines kritischen Bürgerbewusstseins zu bieten. Persönliche Sichtbarkeitsambitionen und Konformierungsgratifikationen tragen das ihre dazu bei, dass die ArtikelschreiberInnen sich wie Mietfedern zu Erfüllungsgehilfen politischer Narrative machen und ModeratorInnen und ständige Talkshowgäste diese promoten. Information wird zur Ware veritabler Meinungsbildungskonzerne, die zig Leute unter Vertrag nehmen, um ihre kommerziellen und politischen Interessen zu platzieren. Durch einen gut abgestimmten Mix an Infotainment wird das Gesamtpaket mit dem Anspruch vermittelt, ein wertbasiertes Narrativ genuiner gesellschaftlicher Entwicklung anzubieten.

Auswahl und Zubereitung der Informationshäppchen und der Unterhaltungssendungen im Fernsehen folgen seit geraumer Zeit dem Diktat der Werbeindustrie. Der privaten Konkurrenz des staatlichen Fernsehens ist es gelungen, die Einschaltquoten als Richtschnur für den Erfolg und den „sozialen“ Wert eines Medienprodukts durchzusetzen. In diesem Setting können die interessengeleitete Selektion der Informationsangebote und die Simplifizierung der Meinungsbildung als programmrelevantes Steuerungsinstrument eingesetzt werden. Qualitätsenklaven und Selbstironie passen da ins strategische Gesamtdesign.

Mind shaping durch das Trommelfeuer der Medien

Angesichts des grundlegenden Informations- und Bildungsauftrags der Medien müsste die Gesellschaft mehr in die Ausbildung der Menschen investieren, die den Beruf als Journalistinnen und Journalisten ergreifen wollen oder in sonstigen für die Aufbereitung von Informationen relevanten Funktionen dort tätig sind. Ihre Aufgabe ist von derselben Relevanz wie die der Lehrkräfte an den Schulen und Universitäten. Was sie vermitteln, hat eine breite Informationswirkung und prägt in der täglichen und stündlichen Häufigkeit und Penetranz der Inbildsetzung und Beschallung Haltung und Meinungen der Bevölkerung. Sie haben es nur mit einem anders strukturierten Publikum zu tun, mit einem Publikum, das genauso wie die SchülerInnen und StudentInnen ihre Botschaften für bare Münze nimmt. Nicht umsonst sind Sprecherinnen und Sprecher im Fernsehen gefragt, die aufgrund ihres Erscheinungsbildes und der professionellen Studioatmosphäre imstande sind, Seriösität und Glaubhaftigkeit zu verkörpern.

Binäre Erklärungsmuster statt Förderung der Komplexitätswahrnehmung

Wir leben in einer Zeit, in der die Weiterentwicklung der Technik, der Informations- und Steuerungssysteme, der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Interaktionen eine ungeahnte Steigerung erfährt. Die Facettierung persönlichen Individualität, kultureller Ausdifferenzierung, weltanschaulicher Bandbreite, interessenmäßiger Aggregationen und Handlungsoptionen erfordert exponentiell höhere Fähigkeiten in der Wahrnehmung, im Verständnis und im sinnvollen Umgang mit Komplexität. Und was tun die Medien und ihre Sponsoren? Sie setzen auf eine Informationsstrategie, die darauf abzielt, uns die Realität als banale binäre Varianz zu vermitteln.

Die Komplexität wird ausgeblendet. Wir sollen uns nicht anstrengen. Zu jedem Problem werden Erklärungsmuster geliefert, die als binäre Informationsdarstellung der Codierung Null oder Eins entsprechen. Gut oder schlecht, drinnen oder draußen. In oder out, wie beim Tennis. Das macht Orientierung einfach. Vor allem in der politischen Auseinandersetzung. Wenn das einmal eingeübt ist, schultert den Rest die Leadership. Die kann auch plötzlich Meinung wechseln und alles was sich verändert ist, dass die Codierung der Leadership folgt.

Globale konsensbasierte Selbststeuerungskompetenz zukunftsrelevant

Soziale Verwerfungen, alarmierende Umweltproblematiken und jetzt die aktuelle Pandemie führen uns vor Augen, dass die Ausreizung kommerzieller Profitchancen, technischer Entwicklungsmöglichkeiten und digitaler Ausdifferenzierungs- und Steuerungsoptionen Natur- und Gesellschaftssysteme überfordert. Wenn wir rein materiellen Gewinnversprechen nachlaufen, riskieren wir einen globalen Naturkollaps, entweder vor oder nach der wechselseitigen Zerstörung der Zivilisationsgrundlagen. Wir brauchen dringend ein Reflexionsmoratorium, also eine Phase der Analyse der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamiken, um festzustellen, wie wir agieren müssen, um künftig in der Lage zu sein, die ungeahnte Komplexität einer vielfältig wechselseitig abhängigen Welt zu steuern.

Dazu ist Abstraktionsvermögen jenseits tribaler und individueller Egozentrik erforderlich und die Entwicklung von Sensibilität für genuine Entwicklungspfade. Unsere Vielzahl an Gesellschaften benötigt einen Konsens zur abgestimmten Selbststeuerung und muss entsprechende globale Mechanismen entwickeln und Abläufe und Handlungsgrundsätze definieren, die auf individueller und lokaler Ebene genauso anerkannt und eingehalten werden wie auf der Ebene der Staaten, der Konzerne und der weltweiten Interessen- und Machtachsen. Früher war es gang und gäbe, die Entwicklung der Gesellschaft insofern zeitübergreifend zu begreifen, dass aufeinanderfolgende Generationen an gemeinsamen und langfristig gültigen Projekten zu arbeiten hatten. Dieses aus den Natur- und Landwirtschaftszyklen herrührende umfassende Handlungsmodell ist durch die Beschleunigung der Entwicklungsdynamik anhand von Technik und Digitalisierung sowie durch den Anspruch Einzelner und mächtiger Interessengruppen auf kurzfristige Profitmaximierung in Frage gestellt und in wesentlichen Bereichen ausgehebelt worden.

Verteilungsgerechtigkeit anstelle hegemonistischer Ansprüche

Kriege waren in der Regel eine Strategie der Überwältigung, um an Ressourcen heranzukommen und anderen Völkern und Staaten das eigene hegemonistische Kulturmodell überzustülpen. Weltweit werden immer wieder Konflikte angezettelt und sind laufend Kriege im Gange. Im Fall einer zukünftigen Ressourcenknappheit ist eine Zunahme der Konfliktualität wahrscheinlich. Dabei könnte der Haupteffekt der Auseinandersetzung um Ressourcen die Beschleunigung der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit sein. Aus dem Überlebensantrieb heraus müssen deshalb weltweite Strategien der Verteilungsgerechtigkeit für die erwartbaren Konfliktszenarien ausgearbeitet werden.

Medien für die breite Rezeption zukunftstauglicher Narrative entscheidend

Anhand der in diesem Exkurs skizzierten Entwicklungsszenarien wird deutlich, dass die Vorstellung von Zukunft, die sich in der Gesellschaft als Mainstream durchsetzt, die Bandbreite der Handlungsoptionen und die Handlungsmotivation der politischen und wirtschaftlichen Schaltstellen prägen wird. Die Medien bestimmen weitgehend den Grundtenor der Gefühlslage der Gesellschaft und die Fähigkeit zu zukunftsgerichteter Rationalität. Der Weitblick der Führungsriege und das inspirierte und unnachgiebige Engagement Einzelner vermögen es, notwendige Richtungswechsel plausibel zu machen und herbeizuführen. Aber für die breite Rezeption von neuen Entwicklungsstrategien kommt es entscheidend auf die Medien an.

Wir brauchen also wache, unabhängige und kritische Medien, die sich in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Als Bürgerinnen und Bürger können wir unsere Sensorik dafür schärfen, indem wir öfter mal das Fernsehen abschalten, uns aus den Social Media ausklinken, nicht gleich alles für bare Münze nehmen, was in den Zeitungen steht. Wir könnten am Abend entspannen und unser eigenes Nachrichtenprogramm hochfahren: Das heißt, den eigenen Tagesthemen nachspüren, unsere Handlungsziele herausfiltern und den Fokus neu einstellen. Damit sind wir imstande, die Relevanz der durch die Medien verbreiteten Informationen und Emotionen besser einzuschätzen und erhalten mehr Kontrolle über das eigene Zeitbudget. Damit das aber nicht nur eine Übung für die Psychohygiene bleibt, muss Medienkunde angemessen in die Bildungscurricula der Schulen und Hochschulen aufgenommen werden. Für entsprechende Weiterbildungsangebote für die Allgemeinheit fehlt es ja nicht an exemplarischen Beispielen.